Interlude

Hotel in Rosemont, nahe Chicago, kurz nach der Ankunft aus St. Louis

Das Hotel war zweckmäßig eingerichtet. Ein langer Flur, von dem zwanzig Zimmer auf der linken und zwanzig auf der rechten Seite ausgingen. Eines glich dem anderen. Es wurde bereits Abend und die Sonne ging unter. Da ihr Zimmer in der dreizehnten Etage lag, hatte sie einen wunderbaren Blick über die Wolkenkratzer und Häuser der Stadt.

Sie überlegte, ob sie nicht ein Foto davon machen sollte. Andere Menschen hätten das Bild in den sozialen Medien gepostet und mit Hashtags versehen und dann über eine Messenger-App verschickt. Nur, wem sollte sie so ein Bild schicken? Damals, als sie fortgegangen war, gab es zwar schon Handys, aber zu dem Zeitpunkt war die Technik noch nicht so weit, dass man Bilder von Chicago nach Europa verschicken konnte.

Heute würde es kaum ein paar Sekunden dauern. Dennoch änderte das nichts daran, dass sie niemanden hatte, der eine solche Nachricht empfangen könnte. Seit vielen Jahren, seitdem sie Europa verlassen hatte, war der Kontakt zu ihrer Familie komplett weggefallen. In Momenten wie diesen kamen ihr Zweifel. War es richtig gewesen, ihre Kinder und ihre Enkel einfach so zurück zu lassen? Sicher, es wäre auf eine andere Art und Weise gegangen.

Hätte sie mit ihnen darüber geredet, hätte sie ja immer noch ihre Koffer packen und verschwinden können, aber der Kontakt wäre bestehen geblieben. Mit den Handys hätten sie auch Nachrichten schicken können. Zwar konnte sie von weit weg nicht ihre Aufgaben als Familienmitglied erfüllen, aber ein "Wie geht es euch?" würde die Sache doch schon etwas erleichtern. Wenn sie Heimweh fühlte, konnte sie so ihrer Familie immer nahe sein.

Aber sie hatte kein Heimweh. In all den Jahren hatte sie es gehabt. Nicht einmal dann, als sie im Flugzeug gesessen hatte. Es war damals ihr erster Flug gewesen, der sie nach Philadelphia geflogen hatte. Seitdem hatte sie viele Male im Flieger gesessen. Zurückgedacht hatte sie nur selten, wenn überhaupt.

Nun tat sie es aber. Was wohl ihre beiden Familien machten? Es war komisch und etwas ungewöhnlich, aber sie konnte es nicht verleugnen, dass sie zwei Familien hatte. Eine in Belfast, eine in Deutschland. Das Leben im Schloss und mit dem Grafen hatte nach einigen Jahren seinen Zauber verloren. Immer wieder stritt sie sich mit ihrem Mann, der allzu sehr in seine Arbeit vernarrt war. Eigentlich durfte sie das nicht stören, aber darunter mussten andere Dinge leiden. Das Anwesen, das schon damals eine dringende Renovierung nötig gehabt hätte, seine Gesundheit und seine Familie. Vor allem diese. Es war in den letzten Jahren ihrer Ehe immer schwieriger geworden, vernünftig reden konnten sie nicht mehr.

Schließlich war es für alle das beste gewesen, noch einigermaßen friedlich eigene Wege zu gehen. Nur ein paar Monate später hatte sie einen neuen Mann in Deutschland kennen gelernt und schließlich mit ihrem ihre zweite Familie gegründet. Dennoch hatte sie nicht ganz mit ihrer alten Familie abschließen können. Somit wurde irgendwann eine Patchwork-Familie daraus. Der Begriff hörte sich so an, als wären sie geradewegs einer dieser schlechtgespielten Doku-Soaps entstiegen. Doch es funktionierte. Ihre beiden Kinder vertrugen sich und ihr Sohn war für die Kinder ihrer Tochter ein toller Onkel. Die beiden hatten sich immer sehr gefreut, wenn er ihnen etwas von seinen Reisen mitgebracht hatte.

Eigentlich war alles gut gewesen, aber dann hatte sie ihrem Leben schon wieder eine entscheidende Wende gegeben. Erst jetzt wurde ihr schlagartig bewusst, dass es bereits das zweite Mal gewesen war, dass sie andere Menschen im Stich gelassen hatte, nur damit es ihr selbst besser ging. Am Anfang ging es ihr auch gut, doch jetzt musste sie sich eingestehen, dass die ständigen Auftritte und die langen Reisen dazwischen an ihr zehrten. Ihr war bewusst, dass es nicht ewig so weiter gehen konnte. Sie schüttelte den Kopf. Warum machte sie sich in letzter Zeit so viele Gedanken über Dinge, die waren, die sind oder die nie sein würden?

Es klopfte an ihrer Zimmertür. Jordan, einer der Tourmanager kam herein. Für einen Moment dachte sie verwirrt darüber nach, was los war. Der erste Auftritt von insgesamt fünfen war erst morgen. Jordan erklärte ihr, dass sie ein Angebot von einem Fernsehsender bekommen hätten, der gern einige Darsteller der Produktion in eine Talk-Show heute Abend einladen würde. Das Management würde sich freuen, wenn es klappen würde, da von den fünf Konzerten erst eines ausverkauft war und noch einige tausend Tickets übrig waren.

Die wolle man gerne noch, mit etwas Werbung, unter die Menschen bringen. "Willst du mitgehen? Wir würden vier Darsteller schicken. Stefanie, Melanie, Robert und du?", fragte Jordan. Sie lächelte. "Nein, danke. Ich möchte nachher nochmal in die Stadt gehen. Ich muss etwas herausfinden", erklärte sie. "Oh, okay", erwiderte Jordan. "Dann viel Erfolg beim Recherchieren", schob er noch verwirrt hinterher und war schon wieder verschwunden.

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