Epilog
New York City, verschiedene Orte in Manhattan
Sie stand in einer Reihe mit den anderen Darstellern, die sich an den Händen hielten und gleichzeitig verbeugten. Als sie wieder hochkamen, ließen sie los und applaudierten für die anderen. Sie lachte. Das Publikum stand schon seit Minuten und feierte die Darsteller. Sie applaudierten, riefen und johlten. Der Vorhang aber senkte sich langsam und schnitt die Zuschauer so von der Welt ab, der sie bis eben noch zugesehen hatten. Nur wenige Momente später ging in der Arena das Licht an und der Applaus ebbte ab.
Die Darsteller verließen die Bühne, einige über die Lifte, andere über die versteckten Treppen im Bühnenbild. Sie gratulierten sich, umarmten sich, freuten sich miteinander, dass sie es geschafft hatten. Es war vorbei. Die gesamte Tournee. Vor drei Tagen hatte sich in Hartford offiziell der Vorhang zum letzten Mal gesenkt, die beiden Auftritte im legendären Madison Square Garden gehörten zu exklusiven Auftritten, denn es waren die, die man aufwändig gefilmt hatte, um den Mitschnitt später im Fernsehen zu zeigen oder auf DVD zu veröffentlichen. Die 24.000 Zuschauer der beiden Abende waren die Gewinner eines riesigen Gewinnspiels, das man auf der ganzen Welt veranstaltet hatte. Sie war stolz, sagen zu können, dass sie an einer der erfolgreichsten Theaterproduktionen aller Zeiten eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hatte.
Die genauen Zahlen würde man noch veröffentlichen, aber die Besucherzahlen beliefen sich auf fast drei Millionen, die Einnahmen lagen im Bereich um die 350 Millionen. Unfassbar viel Geld. Sie stieg eine schmale Treppe nach unten, wo Claudine und Mira auf sie warteten, die sie vor Freude hüpfend umarmten. "Wir haben es geschafft", sagte sie überglücklich. "Ach, wenn ich euch beiden nicht hätte!" Eine Weile standen sie zu dritt da und lagen sich in den Armen. "Fühlt sich komisch an, zu wissen, dass jetzt alles vorbei ist, oder?" fragte Mira. "Im Moment kann ich das noch gar nicht realisieren", antwortete sie. "Das wird schon noch kommen. Ich muss aber sagen, dass das heute eine der besten Shows der gesamten Tour war."
"Es haben sogar alle Kostümwechsel geklappt", freute sich Claudine. "Es war einfach alles perfekt heute Abend", stimmte sie ihr zu. "So hochnäsig das klingt, aber das muss ich jetzt einfach sagen." "Das Publikum war auch gut drauf", ergänzte Mira. "Wir haben es bis unter die Bühne gehört." "Das war euer Applaus", erklärte sie. "Der war nur für euch!" "Wir feiern jetzt noch den Tour-Abschluss", mischte sich John ein. Er war einer der ausführenden Produktionsleiter. "Treffpunkt ist um 11 im Serendipity 3. Die Taxis stehen vor der Arena bereit." Damit ging er weiter. "Da wurde für die After-Show-Party extra eines der bekanntesten Restaurants Manhattans für uns gemietet", staunte Claudine.
"Wir laufen dahin, oder?", fragte sie. "Wie lange brauchen wir denn dann?", wollte Mira wissen. "Eine gute dreiviertel Stunde", antwortete sie. "Oder wollt ihr mit dem Taxi fahren?" Die beiden Frauen sahen sich unschlüssig an. "Es ist jetzt kurz nach zehn. Wenn wir uns mit dem Kostüm beeilen, dann schaffen wir es rechtzeitig", schlug Mira vor. "Gute Idee", stimmte sie zu. "New York bei Nacht muss man einfach gesehen haben. Vor allem dem Times Square, der ja auf dem Weg liegt." "Du hast wohl immer noch Energie?", fragte Claudine lachend. "Wo nimmst du die bloß her?" "Soll das etwa eine Anspielung auf mein Alter sein?", fragte sie zurück und boxte Claudine leicht in den Oberarm. "Dann wird euch die alte Frau nachher mal zeigen, wer eher am Serendipity ist." Laut lachend gingen die drei zur Garderobe.
Sie schlug die Augen auf und fühlte sich seltsam ausgeruht. So wie schon lange nicht mehr. Der Himmel war bedeckt an diesem Sommertag in New York und der Regen schien gerade eine Pause zu machen. Trotzdem drang der Verkehrslärm dumpf zu ihrem Hotelzimmer hinauf. New York, die Stadt, die niemals schlief.
Wie spät es wohl war? Sie drehte sich, um auf ihren Wecker zu sehen. Erschrocken stellte sie fest, dass es schon nach fünf Uhr nachmittags war. Sie ließ sich auf das Kopfkissen zurückfallen. Es war alles gut. Nachdem sie mit Claudine und Mira gestern Abend noch durch die Straßen Manhattans gelaufen war, hatten sie das Serendipity doch erst wesentlich später erreicht. Trotzdem hatten sie dort zusammen mit den anderen Darstellern, Bühnenarbeitern, Technikern und Maskenbildnern gegessen und anschließen gefeiert. Die Bühne stand nach wie vor im Madison Square Garden. Man würde gegen Abend nun mit dem Abbau beginnen. Was mit den Aufbauten geschah, wusste sie nicht. Einiges konnte man für andere Produktionen wiederverwenden, anderes würde man verschrotten. Bis um fünf Uhr morgens hatten sie gefeiert, im Rausch ihrer eigenen Welt.
Jetzt wurde ihr erst bewusst, dass alles vorbei war. Für immer. Es würde nie wieder eine Show geben. Zumindest nicht mit ihr. Für sie war es wirklich vorbei. Heute war einer der ersten Tage seit den letzten Jahren, an dem sie nicht aufwachte und schon wieder ihre Sachen packen musste, um in den Tourbus zu steigen. Die Reise war zu Ende. Vor einigen Monaten, als die Amerika-Rundreise begann, hatte sie noch gedacht, die Zeit bis zum letzten Auftritt würde nie vergehen. Die ausstehenden Shows waren so viele, dass sie einfach nie zu Ende sein könnten.
Los Angeles, Dallas, Miami, Seattle, Chicago... in jeder erdenklichen Großstadt waren sie aufgetreten, hatten Abend für Abend ihre Show durchgezogen und das Publikum, mochte es die Hallen füllen oder nicht, in eine andere Welt entführt. In eine Welt, die von der bösem Königin regiert wurde, die dem Showbusiness zum Opfer gefallen war. Ein modernes Märchen, mit all den bunten Lichtern, den wechselnden Bühnenbildern, dem Konfetti und der Pyrotechnik. Die Tänzer, die Schauspieler, die Sänger, sie alle formten diese Welt und verschmolzen mit ihr. Nun würde nie wieder einer von ihnen in diese Welt zurückkehren können. Wehmütig nahm sie sich vor, heute Abend noch einmal in die Arena zu gehen.
Sich einen Platz zu suchen, mitten in den Rängen, um den Technikern dabei zuzusehen, wie sie die Bühne abbauten. Wie gerne hätte sie die Welt einmal aus den Augen der Zuschauer gesehen. Nie hatte sie die Gelegenheit dazu gehabt. Jetzt würde sie vielleicht noch sehen, wie die letzten Requisiten von der Bühne geschoben wurden. Dann brauchte sie auch nicht mehr gehen. Sie würde einfach hier im Hotel bleiben, sich noch ein paar Stunden ausruhen. Die Nacht wieder draußen verbringen, New York und seine vielen Lichter bewundern- und dabei aufschieben, was ihr jetzt noch bevorstand.
Der Moment, vor dem sie sich so lange gefürchtet hatte, den sie so lange ignoriert hatte. Nun würde er unweigerlich kommen. Sie musste der Realität endlich ins Auge blicken. Für viele Jahre hatte sie in ihrer Welt das tun und lassen dürfen, was sie wollte, was ihr Spaß machte. Es gab aber auch noch so viele andere Welten, wegen denen sie in die eine geflüchtet war und die anderen gewissenhaft ignorieren versuchte. Was bis vor ein paar Stunden auch noch funktioniert hatte. Aber es konnte nicht ewig so weitergehen. Jetzt war ein Zeitpunkt gekommen, wo es wichtig war, zu entscheiden, was für sie wichtig war.
Und diese Entscheidung hatte sie in dem Moment getroffen, in dem sie es herausgefunden hatte. Sie hatte nur seinen Namen eingeben müssen, dann kamen die Meldungen. Sofort war ihre Entscheidung gefallen und diese würde sie nicht wieder rückgängig machen. Dazu musste es nämlich erst einmal etwas geben, dass sie rückgängig machen konnte.
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