E I N S.Z W E I
„Erschreck mich doch nicht so", sagte Benno, immer noch geschockt. „Ich kann ja nicht ahnen, dass du hellsehen kannst", erwiderte Lasse. „Du hast genau in diesem Moment die Tür aufgemacht, als ich klopfen wollte." „Du wolltest klopfen?", fragte Benno. „Ich wollte wissen, ob du diese Geräusche auch hörst. Ein hohes Fiepen, scheint vom Dachboden zu kommen", erklärte Lasse. „Ich habe es auch gehört", antwortete Benno, „und ich wollte auch grade nachsehen, was es ist."
„Dann können wir ja zu zweit nachsehen", schlug Lasse vor. „Ich kann nämlich nicht schlafen." „Da geht es dir so wie mir", stimmte Benno zu. „Dann können wir doch gleich eine Selbsthilfegruppe gründen, oder?", fragte Lasse. „Von mir aus", antwortete Benno. „Weiß du, wo es zum Dachboden geht?"
„Es scheint mehrere Zugänge zu geben", überlegte Lasse. „Suchen wir einfach einen davon." „Dass wir nicht aus dem Fenster an der Dachrinne nach oben klettern, ist mir klar", sagte Benno. Statt zum Treppenhaus zu gehen, liefen sie jetzt in die entgegengesetzte Richtung. Der Flur, auf dem ihre Zimmer lagen, war noch lang. Nach ihren Türen kamen noch drei auf der rechten Seite, vier auf der linken Seite. „Du links, ich rechts", kommandierte Benno.
„Zu Befehl, Sir", salutierte Lasse. Die Türen waren nicht verschlossen. Hinter den ersten beiden auf der rechten Seite lagen zwei weitere Zimmer. Das eine schien ein größerer Salon zu sein, aber viel mehr als ein paar verstaubte Regale und eine Tafel standen nicht darin. Das andere Zimmer sah fast genauso aus wie das, in dem Benno schlief, nur spiegelverkehrt.
Es hatte auch einen Zugang zu einem weiteren Badezimmer, wie der Junge vermutete. Um sicher zu gehen, dass er die Treppe zum Dachboden nicht doch übersah, lief er durch das Zimmer zu der anderen Tür. Wie erwartet, befand sich dahinter ein weiteres Badezimmer, nur, dass die Fliesen hier noch mehr gesprungen waren und man den Staub sogar im Dunkeln erkennen konnte. Blieb also nur noch die letzte Tür.
Zurück auf dem Flur sah er Lasse in der letzten Tür auf seiner Seite verschwinden. Als Benno die dritte Tür öffnete, wurde es plötzlich heller. Der Mond schien durch ein kleines Fenster in der Wand und erleuchtete den Raum, der wahrscheinlich als Abstellkammer genutzt wurde. Überall standen Kartons herum, aus denen allerlei Kram ragte. An der Außenwand befand sich eine breite Treppe, die nach oben führte.
„Lasse?", rief er leise, doch als er sich ins Gedächtnis rief, dass sie die einzigen Personen waren, die sich im Moment hier aufhielten, rief er noch einmal, nur lauter dieses Mal. Lasse schaute zur Tür herein. „Wie ich sehe, sind wir fündig geworden", sagte er. „Jetzt bin ich mal gespannt, was uns da oben erwartet." Benno setzte den Fuß auf die erste Treppenstufe, sie gab kein Geräusch von sich. Dann gingen die beiden Jungen nach oben. Dort endete die Treppe in einer Art Galerie, von der zwei Türen ausgingen.
„Ich will gar nicht wissen, wie das alles bei Tageslicht aussieht", sagte Benno. „Wahrscheinlich liegen hier sogar noch Leichen oder sowas rum." „Hör auf", bat Lasse. „Ich bin mir sicher, dass wir nur so wenig sehen. Ist besser so." „Im Moment wäre es aber besser, wir würden etwas mehr sehen", erwiderte Benno. „Sonst treten wir noch in rostige Nägel oder sonst was."
„In deine Leichen zum Beispiel", schlug Lasse vor. „Hast du hier einen Lichtschalter gesehen?", fragte Benno. „Ich verfüge leider nicht über die Fähigkeit der Nachsicht, ich sehe also genauso wenig wie du", antwortete Lasse. „Aber dieser schwarze Fleck da vorne an der Wand sieht so aus wie ein Lichtschalter." Er lief zurück zur Treppe und griff an den schwarzen Fleck. Über den beiden flackerte kurz eine Glühlampe, dann glühte nur noch der Draht, der auch schließlich erlosch. „Verdammt", fluchte Lasse und schüttelte seine Hand.
„Hast du eine gewischt bekommen?", fragte Benno. „Das waren wahrscheinlich sämtliche Elektronen der letzten zweihundert Jahre", vermutete Lasse. „Gab es da überhaupt schon elektrisches Licht?", zweifelte Benno. „Ist mir egal, es tut trotzdem weh. Du könntest ja vielleicht mal Mitleid mit mir haben", erwartete Lasse. „Lässt deinen besten Freund hier einfach so an einem Stromschlag sterben." „Nach noch lebst du ja", lachte Benno. „Wenn nicht suchen wir dir ein Pflaster, wenn wir wieder unten sind."
„Geht schon wieder", wehrte Lasse ab. „Jetzt lass uns endlich das verdammte Fiepen suchen und dann starten wir einen neuen Versuch, einzuschlafen." „Licht brauchen wir trotzdem", erwiderte Benno. „Ich habe mein Handy mit", sagte Lasse. „Dank modernster Technik kann man das ja auch als Taschenlampe nutzen."
„Wie praktisch", murmelte Benno ironisch. Hinter der ersten Tür lag nur eine weitere Abstellkammer, hinter der zweiten aber der eigentliche Dachboden. Dorothea hatte schon einmal gesagt, dass die Holzbretter auf dem Boden nicht mehr die stabilsten waren und deswegen eigentlich keiner mehr den Dachboden betreten sollte. Für Benno und Lasse wurde auch kein Grund deutlich, warum das jemand tun sollte. Bis auf ein paar wenige Kisten war der Dachboden leer. Der Mondschein drang durch ein paar Löcher im Dach.
„Treten wir am besten einfach auf die Kanten der Bretter", erklärte Lasse. „Dann könnte ein Balken darunterliegen, falls die Bretter wirklich brechen." „Auf deine Verantwortung", stimmte Benno zu. „Ich bin doch eh schon am Stromschlag gestorben", erwiderte Lasse. „Wenn du jetzt durch die Decke fällst und dir sämtliche Knochen brichst, machst du mir nicht wenigstens alles nach."
„Nett von dir", brummte Benno. Lasse setzte den ersten Fuß auf den Dachboden und sagte nichts weiter. Benno folgte ihm in einigen Abstand. Manchmal blieb Lasse stehen und testete langsam mit einem Fuß aus, wie sicher das nächste Brett schien. Manche bogen sich deutlich unter den Füßen der beiden Jungen, aber alle hielten Stand, auch wenn die Geräusche, die sie von sich gaben, etwas anderes vermuten ließen. Das Fiepen wurde jedoch lauter. „Jetzt müssten wir bald über deinem Zimmer sein", dachte Lasse.
„Hilfe! Ist da denn keiner, der mir helfen kann?", rief eine schwache Stimme. „Wir müssen jetzt ganz nah sein", flüsterte Benno leise. Trotzdem schien die Stimme sie zu bemerken. „Könnt ihr mir bitte helfen?", flehte sie. Lasse leuchtete mit dem Handy den Boden ab. Der Lichtkegel blieb schließlich bei einem Tier stehen, das auf dem ersten Blick einer Maus glich. Doch bei genauerem Hinsehen war es ein kleiner Drache, genau wie Avli Amil. Lasse kniete sich hin. „Was ist denn passiert? Warum schreist du so um Hilfe?", fragte er.
„Sieht man das nicht?", antwortete das Drachenmädchen unruhig. „Ich bin in der Zwischendecke eingebrochen und komme nicht wieder heraus." „Halt mal", sagte Lasse zu Benno, der inzwischen neben ihm stand und drückte ihm sein Handy in die Hand. Lasse versuchte, den Drachen herauszuziehen, aber er steckte fest. „Was sollen wir denn nur machen?", fiepte das kleine Drachenmädchen. Es wurde zusehends schwächer. „Keine Sorge, wir kriegen das schon hin", sagte Benno zuversichtlich. „Das dürften wir bald haben."
Während Lasse es weiter probierte, lief Benno zu den Kartons, die hier und da auf dem Dachboden verteil waren. In einem davon waren alte Bilderrahmen oder Schrauben. Aus einem anderen ragte ein langes Stück Metall. Es war tatsächlich eine Brechstange. „Wir haben Glück", sagte Benno zu Lasse und dem Drachen, als er zurückkam.
„Probieren wir es damit." Benno hebelte die Diele, in die der Drache eingebrochen war, etwas an. Die morschen Nägel gaben sofort nach und Benno konnte das Brett mit den Händen aus dem Boden reißen. Jetzt war es für Lasse kein Problem mehr, das kleine Drachenmädchen aus ihrem Missgeschick zu befreien. Sie war inzwischen so schwach, dass sie nicht mehr alleine aus dem Loch klettern konnte.
„Sie scheint verletzt zu sein", sagte Lasse. „Bringen wir sie am besten schnell nach unten." Schnell, aber dennoch darauf bedacht, nicht genauso im Boden einzubrechen wie das Drachenmädchen, liefen sie zurück. Als sie auf der Dachbodentreppe waren, kam ihnen plötzlich Avli Amil entgegengeklettert, der die Stufen mit erstaunlicher Geschwindigkeit erklomm. „Ach, hier seid ihr also", keuchte er. „Ich brauche eure Hilfe!" Er sah die beiden Jungen an und bemerkte dann das Drachenmädchen auf Lasses Arm.
„Ihr habt sie also schon gefunden!", rief er überglücklich aus. Benno hob ihn hoch, sodass er das sie besser sehen konnte. Avli rüttelte das Drachenmädchen, aber sie wahr inzwischen bewusstlos geworden. „Xenia! Ist alles in Ordnung bei dir?", fragte er beunruhigt. „Xenia! Antworte doch! Ich habe mir solche Sorgen gemacht!" Benno und Lasse sahen sich an und grinsten. Den beiden wurde einiges klar.
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