E I N S.S E C H S
Es waren nicht Lasse oder Benno, die sich zu ihr an den Tisch gesetzt hatten. Obwohl es so heiß war, lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Natürlich musste es so sein. Dorothea überlegte, ob sie einfach aufstehen und gehen sollte, aber sie konnte nicht. "Ich verzichte mal darauf, zu fragen, ob hier noch frei ist", sagte die Dame, die ihr gegenüber saß.
Mit ihrer Hand, die in einem roten Handschuh steckte, strich sie über den Aschebecher. Das Mädchen wusste nicht, ob sie ihr in die Augen sah, denn sie trug eine dunkle Sonnenbrille. Auf den ersten Blick hätte sie sie gar nicht erkannt. Das Umfeld war einfach ein anderes, sie passte nicht hinein, wirkte fehl am Platz. Die Frisur, die sie sonst hochtoupiert trug, hing jetzt in lockeren Strähnen herunter, sie trug eine weiße Bluse, eine schwere Kette. Die roten Handschuhe ließen vermuten, dass sie sich vor schmutzigen Händen fürchtete.
Ein kleiner Tick, über den man sich im ersten Moment wunderte, aber dann wieder vergaß. Dorothea wusste jedoch, dass sie die Handschuhe nicht aus Spaß trug. Alles, was sie mit ihren ungeschützten Händen anfasste, wurde zu Asche. Diese Fähigkeit war auch beim Übertritt in die andere Welt nicht verloren gegangen. "Du weiß genau, dass es dir nichts bringt, wenn du wegläufst", sagte die Herzkönigin. "Du kennst dich in dieser Welt viel besser aus. Die verschwindest in der nächsten Gasse und bist weg. Das ist dein großer Vorteil. Aber es wäre doch unfair."
"Ich kann nichts dafür, dass es jetzt so ist wie es ist", sagte Dorothea mit zusammengepressten Zähnen. "Ich habe es mir nicht ausgesucht."
"Wir genauso wenig", stimmte sie ihr zu. "Nur müssen wir jetzt alle mit der Situation zurechtkommen." "Warum wir?", fragte Dorothea.
"Weil... weil wir deine Hilfe brauchen, Dorothea", erklärte die Herzkönigin. Das Mädchen konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. "Beim letzten Mal wolltet Ihr mich noch umbringen", erwiderte sie. "Warum sollte ich Euch da jetzt helfen?"
Die Herzkönigin griff nach ihrer Hand. Obwohl Dorothea versuchte, sie zurück zu ziehen, gelang es ihr nicht, sich dem kräftigen Griff von ihr zu entziehen. "Hör mir zu, Dorothea", verlangte sie. "Es sind viele Dinge passiert, die hätten anders laufen können. Wir waren an diesem Tag mit den Nerven alle am Ende. Du weißt selbst, wie anstrengend das für alle Beteiligten war. Wir haben falsche Schlüsse gezogen und die falsche Person verdächtigt."
"Da war es aber gut, dass ich noch fliehen konnte. Ihr hättet mich ja auch umbringen können und wenn ihr erst dann festgestellt hättet, dass Ihr euch geirrt habt, dann wäre es zu spät gewesen", sagte Dorothea mit beißendem Hass in der Stimme. "Ich kann es mir selbst nicht erklären, wie wir uns so täuschen lassen konnten", stimmte ihr die Herzkönigin zu. "Daher kann ich dich gut verstehen, dass du mir am liebsten den Garaus machen möchtest. Das scheint ja in eurer Welt auch kein Problem zu sein." "Dorothea nickte bestätigend.
"Für das, was ihr mir angetan habt, würde ich es gerne tun", meinte sie. Für einen Moment war Dorothea, als ließe der selbstischere Gesichtsausdruck der Herzkönigin etwas nach. Im nächsten Augenblick sah sie jedoch wieder in dasselbe steinerne Gesicht wie vorher. "Und ihr habt Recht. In meiner Welt ist es ganz einfach. Allerdings gibt es hier auch etwas die die Polizei, die mich dafür bestrafen würde."
Jetzt war sich Dorothea ganz sicher, dass sie siegessicher lächelte. Das Mädchen wünschte sich innerlich, sie könnte ihre Drohung wirklich wahr machen. Einfach wäre es auf jeden Fall, doch dann würde sie wirklich in Erklärungsnot geraten. Die anderen Menschen sahen in der Frau, die ihr gegenübersaß vielleicht die Großmutter von ihr, aber keineswegs eine brutale Herrscherin einer gefährlichen Traumwelt. Doch Dorothea lächelte genauso süffisant zurück. "Ihr habt Recht, dass ich mich in meiner Welt bestens auskenne, im Gegensatz zu Euch. Deswegen muss es nicht einmal ich sein, die Euch etwas antut. Wenn Ihr und Eure Wachen weiterhin den Menschen Angst einjagt, könnte man Euch auf ganz andere Art und Weise von der Straße holen."
"Du meinst den Psychiater? Diesen Dr. Huffington?", fragte die Herzkönigin. "Zum Beispiel", antwortete Dorothea. "Ich musste auch schon mit diesem Mann sprechen. Er wollte von mir wissen, warum ich in einem so komischen Kostüm durch die Straßen laufe. Ob es eine bestimmte Bedeutung für mich hätte. Alles solche Fragen", erklärte die Herzkönigin. "Ein komischer Mann ist das." "Ich glaube, es seid eher Ihr, die man in unserer Welt für komisch hält", erwiderte Dorothea. "Und das muss ein Ende haben", sagte sie. "Dorothea, ich bitte dich: Wir brauchen deine Hilfe!" "Meine Hilfe? Bei was denn?", wollte das Mädchen gelangweilt wissen. "Nennt mir bitte einen guten Grund, warum ich Euch helfen sollte."
Die Herzkönigin schwieg für einen Moment und musterte Dorothea. "Ich kann durchaus verstehen, dass du nicht gut auf mich zu sprechen bist. Aber dir dürfte es doch auch nicht gefallen, dass wir hier sind. Am liebsten wäre es dir doch, dass wir in unsere eigene Welt zurückgehen würden", begründete die Herzkönigin. "Erfreut war ich wirklich nicht gerade, als ich gehört habe, dass Ihr Euch hier herumtreibt", stimmte Dorothea zu. "Dennoch gebe ich Euch recht: mir wäre es am liebsten, Ihr würdet wieder in eure Welt zurückgehen."
"Das können wir nicht", sagte die Herzkönigin. "Wir haben schon alles Mögliche probiert. Nur ist diese Welt fremd für uns, was es schwieriger macht." "Und Ihr erwartet jetzt, dass ich Euch helfe?", schlussfolgerte Dorothea. "Ich erwarte es nicht, ich hoffe darauf", stellte die Herzkönigin richtig. "Wenn du uns hilfst, dass wir in unsere Welt zurück kommen, dann hast du auch umso schneller wieder deine Ruhe."
"Bis ich wieder in meinen Träumen in Eurer Welt bin und ihr mich dann doch kaltblütig umbringt", sagte Dorothea bissig. "Du darfst dich nicht von deinem Hass auf mich blenden lassen", widersprach die Herzkönigin. "Es ist für alle Beteiligten das beste, wenn wir uns gegenseitig unterstützen. Und ich verspreche dir, hoch und heilig, beim Namen des Herzblatts, dass wir dir nichts antun werden, dass wir dich in Frieden lassen. Egal, was passiert."
"Ich verlasse mich darauf", meinte Dorothea kühl. Noch wusste sie nicht, ob die ihr wirklich vertrauen konnte. "Ich weiß, dass ich für Euch in diesen Zeiten sehr wichtig bin. An Eurer Stelle würde ich es also nicht darauf anlegen, euer Versprechen zu brechen." "Ich habe es beim Namen des Herzblatts versprochen", sagte die Herzkönigin und schien fast beleidigt. "Wenn es an dem ist, dann halte ich meine Versprechen, egal, was passiert."
"Dann ist ja gut", sagte Dorothea und lehnte sich zurück. "Allerdings weiß ich selbst keinen Rat, zumindest nicht jetzt auf die Schnelle, wie ich euch genau helfen könnte. Ich brauche meine Zeit. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn wir herausfinden könnten, wie Ihr in diese Welt gekommen seid. Wenn wir das Procedere dann umkehren, könnten wir eventuell am Ziel sein. Nur geht das nicht von jetzt auf gleich." "Das kann ich verstehen, aber ich bin trotzdem froh, dass du es probieren willst", sagte die Herzkönigin. Das Lächeln schien ehrlich.
"Eine Frage hätte ich noch", wandte sie jedoch ein. "Weißt du einen Ort, an dem wir uns aufhalten können, ohne ständig von anderen Menschen angegafft zu werden? Es kam sogar schon vor, dass einige mit solchen seltsamen kleinen Kästen Portraits von uns machen wollten. Wir halten das nicht mehr lange durch." Dorothea überlegte. Ihr war schon bei den ersten Worten etwas eingefallen, wo man die Herzkönigin und ihrer Wachen unterbringen konnte. An einem Ort, an dem sie abgeschieden waren, Dorothea, Lasse und Benno sie allerdings trotzdem unter Kontrolle hätten.
"Außerhalb der Stadt gibt es ein Villenviertel", erklärte Dorothea. "Dort stehen viele Anwesen leer. Das dürfte genügen, um Euch Ruhe zu gewähren und vielleicht ist ja ein Anwesen dabei, das Euren Ansprüchen genügt." Die Herzkönigin bedankte sich überschwänglich, aber dem Mädchen kam es nicht so vor, als würde sie schauspielern. Es schien ihr wirklich ernst zu sein und vielleicht, sagte Dorothea zu sich, sollte sie nicht immer so misstrauisch sein. Sie wäre der Herzkönigin in allen Fällen überlegen. Dorothea kannte die "seltsamen kleinen Kästen", und nicht nur das.
So oder so konnte ihr nichts passieren. Außerdem waren Benno und Lasse ja auch noch da. Das Mädchen fragte sich allmählich, wo die beiden blieben. "Ich danke dir wirklich sehr für deine Hilfe!", sagte die Herzkönigin. "Es ehrt dich, dass du uns unterstützen willst. Wir werden uns revanchieren, wenn wir die Möglichkeit dazu haben." Sie stand auf und verschwand. Dorothea konnte nicht genau sehen, wohin sie ging. Vielleicht sah sie sie ja bald in der Nähe vom Schloss. Hoffentlich war es eine gute Idee gewesen, ihr davon zu erzählen. Das Mädchen wusste nicht, was sie von dem Gespräch halten sollte. Es wühlte sie innerlich auf, andererseits beruhigte es sie, dass ihr die Herzkönigin jetzt unterlegen war. In der Tasche neben ihr raschelte es. Avli steckte seinen Kopf heraus. "War das die alte Schachtel, von der du immer Albträume bekommst? Redest du da auch immer so gestelzt?"
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