D R E I.V I E R

Der Kopierer ratterte und Benno verdrehte die Augen. Von den fertigen Werken hatten sie zwei ausgewählt und scannten sie nun ein. Das Gerät dazu war aber schon in die Jahre gekommen und war dementsprechend langsam. Dann war auch noch die Patrone alle gewesen und Lasse hatte lange gebraucht, bis er eine neue gefunden hatte. „Es ist um zehn", meinte Benno und musste gähnen.

„Ach, meistens waren wir doch eh bis Mitternacht wach. Vielleicht schaffen wir es ja bis dahin", erwiderte Lasse. „Also halt' dich ran!" Benno öffnete die Klappe des Kopierers und legte die nächste Seite ein. Vom ersten Werk hatten sie in etwa die Hälfte, doch noch lagen über 50 Seiten mit Vorder- und Rückseite beschrieben vor ihnen. Das zweite Werk existierte sogar als Datei auf dem Laptop, wie Lasse festgestellt hatte.

Zwar hatte der Graf das Dokument zuletzt vor zwölf Jahren bearbeitet, aber bei der Geschichte tat es nichts zur Sache. Es war eine Fantasy-Geschichte, genau wie die meisten anderen des Grafen. „Die Figuren aus den abgeschlossenen Geschichten sind zum Glück noch nicht in unserer Welt gesehen worden", überlegte Lasse. „Deren Geschichte ist ja auch auserzählt. Die Figuren sind komplett, sozusagen", antwortete Benno darauf.

„Stimmt. Alle Figuren, denen wir bisher begegnet sind, suchen noch nach dem Ende ihrer Geschichte", stimmte Lasse zu. „Wenn sie sie nicht finden, nehmen sie es selbst in die Hand." „Und dann kommt es zum großen Durcheinander", schlussfolgerte Benno und legte die nächste Seite ein. „Was wohl unsere beiden Spione machen?"

„Ich wette mir dir, sie platzen gleich hier herein", vermutete Lasse. Nachdem Benno eine weitere Seite kopiert hatte, ging die Tür des Büros wirklich auf und die beiden Drachen kamen herein. „Wir... sind wieder...da", keuchte Avli, völlig außer Atem. „Ich... brauch jetzt dringend... Erdnüsse!" Er stütze sich auf den Knien ab und atmete schwer. Lasse reichte ihm die Dose, die noch auf der Kommode neben dem Bett stand.

„Zwar nicht mehr so viel..., aber... immer noch besser als gar nichts", befand Avli und griff hinein. Dann reichte er die Dose an Xenia weiter. „Was habt ihr nun gesehen?", fragte Benno aufgeregt. „Geht es Sylvain und den anderen gut?" Die beiden Drachen antworteten nicht, sondern stärkten sich erst einmal. „Wo sind die beiden? Dorothea und das andere Mädchen, meine ich", fragte Xenia und blickte sich suchend im Zimmer um. „Dorothea und Quintessa sind schlafen gegangen", antwortete Lasse.

Xenia nickte verstehend. „Erzählt doch jetzt mal", forderte Benno ungeduldig und war kurz davor, Avli die Dose zu entreißen. „Sylvain geht es soweit gut", antwortete der Drache und stopfte sich eine weitere Hand voll Nüsse in den Mund. „Was heißt soweit?", fragte Lasse. „Drückt euch doch etwas deutlicher aus!" „Als wir dort ankamen, war von den schwarzen Männern nichts mehr zu sehen", antwortete Xenia. „Sie sind weg?", fragte Benno ungläubig nach. „Naja, weg sind sie nicht", stellte Avli richtig.

„Sie haben den gesamten Freizeitpark durchsucht, auf der Suche nach einer goldenen Ritterrüstung. Allerdings haben sie ihn komplett link gemacht, ohne auch nur einen einzigen Hinweis zu finden." „Und weiter?", fragte Lasse, als der Drache schon wieder in die Dose griff. „Jetzt lasst uns doch erstmal zu Luft kommen", beschwerte sich Avli empört. „Für uns ist ein so langer Weg nicht so einfach zu bewältigen wie für euch mit euren langen Beinen!"

„Wenn du dich beschweren kannst, dann kannst du auch reden", stelle Benno klar. Er nahm Avli die Dose weg und stellte sie neben den Kopierer, wo die Drachen sie nicht erreichen konnten. „Die Freizeitpark-Bewohner haben den schwarzen Männern dann sogar noch bei der Suche geholfen", wusste Xenia. „Sie haben jeden Raum, jeden Kellerraum, jede Ecke im Park abgesucht, aber nichts gefunden."

„Warum sollte denn auch eine Ritterrüstung in einem Freizeitpark versteckt sein?", fragte Lasse unverständlich. „Noch dazu eine goldene", berichtigte ihn Avli. „Eine goldene Ritterrüstung in einem Freizeitpark ist ja noch verrückter", verbesserte sich Lasse. „Da ist ja klar, dass sie nichts finden." „Und was machen die schwarzen Männer jetzt?", fragte Benno nach. „Das ist schwierig zu erklären. Wir haben uns lange mit Sylvain unterhalten", erklärte Xenia. „Ihr könnt ruhig erzählen", meinte Lasse. „Wir haben eh nichts Besseres zu tun."

„Immerhin sind es jetzt nur noch genau 45 Seiten", verkündete der andere Junge. „Fortschritte! Immerhin...", sagte Lasse. „Also, ihr habt 45 Seiten Zeit, uns zu erzählen, was Sylvain euch erzählt hat." „Die Freizeitpark-Bewohner und Sylvain haben sich im Laufe der Tage besser kennengelernt", erklärte Avli. „Nachdem Sylvain und die anderen wussten, was die schwarzen Männer suchen, haben sie sie freigelassen. Dann haben sie zusammen gesucht, was zwei Tage gedauert hat. Anschließend wollten die schwarzen Männer wieder fahren, aber Sylvains Mutter hat sie gebeten, zu bleiben."

„Die schwarzen Männer suchen schon seit langem nach der goldenen Rüstung", ergänzte Xenia. „Sie haben ihnen erzählt, dass ein reicher Mann sie regelmäßig losschickt, um sie für ihn besondere Schätze zu finden. Das können Schmuckstücke sein oder auch besondere Blumen, eben alles was wertvoll ist. Manchmal brauchen sie Jahre, bis sie genug Hinweise haben, um den Auftrag zu erfüllen." Während Xenia das erzählte, durchsuchte Lasse den Stapel mit den unfertigen Geschichten. „Das kommt mir bekannt vor", murmelte er, „aber erzähl' erstmal weiter."

„Sonst liefen alle Aufträge reibungslos ab. Zwar hat es, wie gesagt, manchmal Jahre gedauert, aber sie haben die Schätze sogar gefunden, wenn sie dafür ans Ende der Welt reisen mussten", erzählte Avli weiter. „Die schwarzen Männer waren sogar einmal in Chile, mitten in den Anden und einmal in Australien. Die goldene Rüstung ist der inzwischen siebte Schatz, den sie suchen sollen, aber den finden sie einfach nicht."

„Die verflixte Sieben", vermutete Benno. „Warum fragen Sie nicht einfach ihren Auftraggeber, ob er weitere Hinweise für sie hat?" „Weil der Mann sie auch einfach nur losschickt. Alle Hinweise müssen sie selbst finden und überprüfen, ob sie richtig sind, deswegen dauert es ja so lange", antwortete Xenia. „Jetzt aber kommen sie einfach nicht weiter. Alles, was sie wissen, ist, dass sie die goldene Rüstung finden sollen. Alle Hinweise, von denen sie nicht einmal sicher sind, ob sie überhaupt je welche hatten, sind verschwunden."

„Nach einer goldenen Rüstung suchen zu wollen und dabei keinen einzigen Anhaltspunkt zu haben, ist aber auch nicht gerade einfach", meinte Lasse. Er zog eine Mappe aus dem Stapel. „Deswegen sind die schwarzen Männer ja auch so verzweifelt. Sie sollen die Rüstung finden, wenn sie das nicht finden, haben sie nichts mehr. Dann sind sie sozusagen nichts", stimmte Avli zu. „Eigentlich können sie einem leidtun. Was hast du da eigentlich gesucht?" „Die siebte Geschichte der schwarzen Männer", erklärte Lasse. „In den achtziger und neunziger Jahren hat der Graf sechs Bücher über die schwarzen Männer veröffentlicht. In denen schickt sie ein Magier los, um jeweils einen der ‚Sieben einzigartigen Schätze' der Welt zu finden. Wenn alle Schätze zusammen sind, entfalten sie ihre Kraft und dann offenbart sich ein großes Geheimnis, das der Magier wahrscheinlich versucht zu lüften." „Woher weißt du das denn alles?", fragte Xenia verwundert.

„In dieser Mappe", sagte Lasse und hielt die graue Mappe hoch, „befinden sich sämtliche Notizen zu der Reihe. Auf ein paar Blättern hat er die gesamte Reihe zusammengefasst, hier ist auch jeder einzelne Schatz noch einmal aufgelistet. Die goldene Ritterrüstung ist der letzte, den sie noch hätten finden sollen. Dann hätte der Magier hinter das Geheimnis kommen können." „Hört sich ziemlich abenteuerlich an", meinte Avli. „Wir sind doch mittendrin", überlegte Benno. „Vielleicht sind die schwarzen Männer deshalb so verzweifelt. Immerhin stehen sie ja kurz vor dem Ziel, dass sich das Geheimnis durch die sieben Schätze offenbart." „Da würde ich natürlich auch verbissen danach suchen", stimmte Avli zu. „Vor allem, wenn es um eine goldene Erdnuss gehen würde."

„Du bist so eine goldene Erdnuss", erwiderte Benno. „Was steht denn noch auf den Blättern in der Mappe?" „Die Zusammenfassung der gesamten Reihe, allerdings nur noch sehr schlecht lesbar, wahrscheinlich vor über dreißig Jahren geschrieben", zählte Lasse auf, „ein paar Illustrationen dazu und schließlich ein paar Ausschnitte aus dem siebten Buch, die allerdings in keinem Zusammenhang stehen." „Also hat der Graf schon Teile des siebten Buches geschrieben?", fragte Xenia. Die anderen nickten.

„Das Buch ist aber dadurch nicht komplett, was bedeutet, dass das Ende noch offen ist und die schwarzen Männer wahrscheinlich für immer durch die Welt irren, auf der Suche nach der goldenen Rüstung", vermutete Benno. „Aber das ist ja schrecklich", meinte Xenia traurig. „Das Ende steht nirgendswo geschrieben. Nur der Graf allein wusste wahrscheinlich, wo er die schwarzen Männer die Rüstung am Ende finden lässt. Vom Geheimnis mal ganz zu schweigen."

„Es ist aber schon komisch, dass er die Reihe nicht beendet hat", meinte Lasse nachdenklich. „Ich meine, wenn ich sechs Bücher schreibe und dann fehlt mir nur noch das letzte und dann würde alles ein Happy End finden, dann würde ich doch alles daran setzen, das Buch noch zu schreiben." „Wer weiß, was damals passiert ist", murmelte Benno. Er hatte das Internet geöffnet und gab den Titel der Reihe in eine Suchmaschine ein. Nach einer Weile klickte er seine Seite an, ein Archiv, in dem sämtliche Bücher aufgelistet waren, die ein bestimmter Verlag jemals veröffentlicht hatte."

„Die sieben Bücher erschienen im Zweijahres-Takt, das erste 1985", las Benno vor. „Der letzte Band hätte demzufolge 1997 erscheinen sollen, doch durch die Auflösung des Verlages wurden auch alle Projekte fallengelassen. Andere Verlage übernahmen die Autoren und Werke, es gab jedoch viele Bücher, Reihen und Projekte, die von den neuen Verlagen nicht weiterverfolgt wurden. Damals sagte der Autor aus, den siebten Band zu veröffentlichen, wenn er einen passenden Verlag gefunden hätte. Bis heute gab es jedoch keine weiteren Informationen."

„Das ist der Grund", sagte Lasse. „Er hatte schon angefangen, das Buch zu schreiben, aber dann hat sich der Verlag aufgelöst und die Reihe wurde von anderen Verlagen nicht übernommen. Da bringt es ja nicht viel, ein Buch fertig zu schreiben, wenn man weiß, dass es nicht veröffentlicht wird."

„Eigentlich schade, oder?", fragte Avli. „Die Reihe hatte doch bestimmt viele Fans." „Auch die anderen Bände der Reihe wurden danach nicht wieder gedruckt. Sie sind heute nur noch gebraucht erhältlich", las Benno noch einen weiteren Satz aus dem Text vor. „Das müsst ihr euch anhören", unterbrach ihn Lasse. „Auf der Zusammenfassung steht folgendes: Nachdem sie erfolglos die Ritterrüstung gesucht haben, werden sie auf ein altes Schloss aufmerksam, das allein und verlassen außerhalb der Stadt steht. Hier wohnt nur noch ein altes Ehepaar, das die Ritterrüstung aber auf keinen Fall heraus rücken will."

Für einen Moment herrschte Schweigen im Büro. Nur das Kopiergerät ratterte wieder vor sich hin. „Dann haben wir ein Problem", schlossfolgerte Benno. „Immerhin befinden wir uns gerade in einem alten Schloss außerhalb der Stadt!" „Au weia!", sagte Xenia erschrocken.

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