Besuchszeit

Fünf Tage Später

Nico

Ich saß in meinem Bett. Alleine. Gelangweilt.

Mittlerweile waren fünf Tage vergangen seit ich nach meinem Unfall aufgewacht war. Die meisten Schmerzen waren besser geworden, die Leute hier verstanden wirklich etwas von dem was sie taten. Naja, alle außer die Köche.

Ich starrte emotionslos auf das Tablett mit der Gulaschsuppe, welche immernoch unangetastet auf dem kleinen weißen Tisch am Fenster stand. Ich hatte einmal den Fehler gemacht etwas von hier zu essen und das würde mir sicher nicht nochmal passieren. Meine Mutter brachte mir jeden Tag etwas leckeres selbstgekochtes mit, daher war ich auf diesen Fraß zum Glück nicht angewiesen.

Auf einmal hörte ich Schritte, die sich auf meine Tür zu bewegten. Auch Stimmen mischten sich darunter: "Hol mal einen Rollstuhl, Jakob, Dr. Tekah hat gesagt wir können den Jungen jetzt abholen", sagte eine weibliche Stimme. "Geht klar Sue.", antwortete eine männliche.

Na endlich! Ich wartete jetzt schon die letzten 5 Tage darauf dass mich endlich jemand abholen und zu dem Mädchen bringen würde. Ich drehte mich vorsichtig, ließ die Beine über die Bettkante hinausragen, dann setzte mich auf und streckte meine Zehenspitzen aus. Ich war seit dem Unfall nicht mehr richtig gelaufen und mir nicht sicher ob ich überhaupt noch gerade stehen konnte.

Die Tür ging auf und ich setzte mein Füße endgültig auf dem Boden auf und stellte mich hin. Doch im nächsten Moment kippte ich auch schon vorne über. Zum Glück war die Schwester schnell genug da um mich aufzufangen und in einen Rollstuhl zu verfrachten.

"Da hat es jemand aber eilig.", kommentierte sie schmunzelnd meinen Geh-Versuch, und sie hatte Recht: ich hatte es eilig.

Die junge Frau, deren Name wohl Sue war, schob mich langsam über die sterilen Krankenhaus Flure die keine Ende zu nehmen schienen und genauso gut die Wege eines Irrgartens hätten sein können.

Schließlich kamen wir an einer Tür an, vor der die Schwester stehen blieb. "Zimmer 1D; Komastation" , las ich auf dem Türschild. Dann wurde die Tür geöffnet und ich wurde in den weißen, so gut wie leeren Raum geschoben.

Keine Blumen, keine Verwandten, keinerlei Anzeichen von Besuch.

Die Krankenschwester schob mich direkt neben ihr Bett. Da lag sie. Das Mädchen, dass zu Anfang noch versucht hatte mir ein Ohr abzukauen lag nun still und bewegungsunfähig vor mir. Mit geschlossenen Augen und einem Beatmungsgerät im Rachen. In ihre Arme führten Schläuche, die an verschiedene Tropfstationen und Geräte angeschlossen waren.

So wie sie da lag, tat sie mir Leid. Ich machte mir Vorwürfe. Hätte ich sie nur nicht mitgenommen, es hätte mich treffen müssen, hätte Sarah mich nicht betrogen wäre es nie dazu gekommen. Und da war es, das perfekte Ventil: Sarah.

Ich rückte in meinem Rollstuhl ein kleinwenig vor und betrachtete sie. Sie war hübsch. Nicht Model hübsch, sondern eher so ein natürliches, wildes hübsch. Sie war etwa in meinem Alter, vielleicht etwas jünger.

Ihre Augen waren geschlossen, sie war ganz bleich um die Nase, ihre Haare verteilten sich auf ihrem Kissen, als hätte ein Sturm sie so platziert und trotzdem fand ich sie in diesem Moment unglaublich schön.

Ich drehte mich ein Stück und fragte an die Schwester gerichtet: "Wie heißt sie?"
"Kara Summers", kam von ihr als Antwort.
"Geht es ihr besser?", erkundigte ich mich.
"Nicht wirklich. Im Gegenteil. Es geht ihr ganz langsam immer schlechter. Lange wird sie das nicht mehr durchhalten. Es ist fast so als würde sie abdriften, aufgeben, nicht mehr Kämpfen.", erklärte mir die Schwester.

"Ich gehe jetzt und lasse euch ein bisschen allein. Wenn du wieder in dein Zimmer möchtest drück einfach auf den kleinen blauen Knopf am deinem Rollstuhl, dann kommt dich jemand abholen." Damit drehte sie sich um, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Ich saß noch einige Minuten da und schaute sie einfach nur an. Machte mir so meine Gedanken. Ließ den Unfall mehrmals reveau passieren.

Schließlich legte ich meine Hand ganz vorsichtig auf ihre und zog mit meinem Daumen zart Kreise auf ihrem Handrücken, so wie es meine Mutter nur wenige Tage zuvor bei mir getan hatte.

Doch plötzlich ploppten Bilder in meinem Kopf auf und ich merkte wie ich ganz langsam abdriftete und in den Bildern, die sich in meinem Kopf zu einem Film sortierten, versank.

Ich lief durch einen Wald. Es war hell, wahrscheinlich so um die Mittagszeit. Die Sonne schien vom Himmel durch die Bäume auf mich hinunter und sprenkelte den Waldboden mit hellen Klecksen die sich synchron zum Geäst bewegten. Ein leichter Wind fuhr über mein Gesicht und ich sog die frische, nach Frühling duftende Luft ganz tief ein. Die Blätter über mir raschelten im Wind und ich hörte Vögel, in der ferne sogar einen Specht. Ein Eichhörnchen huschte über den Kiesweg, der eine künstliche Schneise durch den Wald zog.

Die Umgebung zog meine volle Aufmerksamkeit auf sich und ich kam aus dem staunen nicht mehr heraus.

In der nächsten Sekunde stand ein kleines Mädchen vor mir. Sie war ganz typisch für eine vier jährige Gekleidet. Also so wie wir damals gekleidet waren, wenn wir auf eine "Waldexpedition" gingen, nicht so wie die Kids heute mit ihren Kinder Markenklamotten.

Das Mädchen stand einfach nur da und sah mich an. Nein, sie sah durch mich hindurch. Das wurde mir klar, als auf einmal eine Person aus mir herauslief, oder eher durch mich, denn diese Person schien bereits hinter mir gestanden zu haben. Es war ein Junge, vielleicht 9 Jahre alt. Er lief auf das kleine Mädchen zu, hob sie hoch und wirbelte sie durch die luft.

Sie lachte und quikte. "Lucas, hör auf, das kitzelt!" , rief sie mehrmals. Sie sah glücklich aus. Der Junge, Lucas, schien ihr großer Bruder zu sein.

Nachdem er sie eine ganze Weile auf dem Arm gehalten und gekitzelt hatte, ließ er sie schließlich runter und sie rannte lachend, mit den Worten: "Fang mich doch!", vor ihm davon. Der Junge ließ sich das nicht zweimal sagen und lief ihr hinterher. Er lief absichtlich etwas langsamer um ihr einen Vorsprung zu lassen.

Ein Schrei durchzuckte meinen Körper. Der Junge erschrak, lief schneller. Wir kamen an eine Brücke. Unter uns rauschte ein kleiner Bach, der trotz seiner schmäle eine ordentliche Geschwindigkeit aufbrachte. Von dem Mädchen fehlte jede Spur.

Der Junge hielt eine Sekunde inne und sah sich erschrocken um.  Es kam mir fast so vor, als würde er mich ansehen. Als sollte ich ihm helfen.

Plötzlich wechselte die Situation. Es war nass, kalt. Ich versuchte zu Blinzeln, merkte jedoch sehr schnell dass das nicht möglich war, da ich unter Wasser gedrückt wurde. Panik durchdrang meinen Körper, ich bekam keine Luft. Ich paddelte wie wild mit den armen und schließlich gelang es mir mich für kurze Zeit an der Wasseroberfläche zu halten.

Ich schrie und bemerkte, dass es nicht meine Stimme war, die ich wahrnahm, sondern die, eines vierjährigen Mädchens.  

Erneut wurde ich nach unten gedrückt und meine Lungen füllten sich mit Wasser. Ich konnte fühlen wie ich ertrank. Da Packte mich eine Hand. Es war nicht die eines Erwachsenen, nein, es war die eines neunjährigen Jungen, der nun ebenfalls im Fluss trieb, mit dem unterschied, dass er sich an einer kräftigen Wurzel festhielt. Er zog mich immer weiter zu sich und schloss schließlich seine Arme um mich.

"Alles okay Kara, ich hab dich.", sagte er und führte meine Hand ebenfalls an die Wurzel. Gemeinsam zogen wir uns ganz nah ans Ufer und mit einer Kräftigen Bewegung  schob er mich aus dem Wasser. Nun versuchte er auch sich selbst aus dem Wasser zu ziehen um sich in Sicherheit zu bringen. Ich griff nach seiner Hand um ihn zu unterstützen. In diesem Moment rutschte er ab.
Er schaffte es nichtmehr die Wurzel zu greifen. Der nächste Wasserstoß riss ihn mit sich, begrub ihn unter sich.
Er war weg.

Mir wurde schwarz vor Augen.

Im nächsen Moment blinzelte ich und es wurde wieder hell. Ich befand mich wieder in dem Krankenhauszimmer. Es schien sich nichts verändert zu haben. Außer,dass ich nicht mehr in meinem Rollstuhl saß... . Über mir stand ein besorgt schauender Pfleger und so langsam realisierte ich, dass ich auf dem Boden lag. Ich war wohl, im wahrsten Sinne des Wortes vom Hocker gehauen worden, beziehungsweise aus dem Rollstuhl gekippt.

Ich sah zu Kara, die immer noch genau so da lag, wie vorher. Als ich sie so sah, kamen mir diese Bilder wieder in den Kopf. Was zur Hölle war da gerade eben passiert?









Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top