chapter 49

Drei Tage waren seit dem Treffen mit Ramiel und Hira vergangen. Ale und ich hatten Zimtschnecken gebacken und ich hatte wieder begonnen regelmäßiger zu essen und zu trainieren. Chimi war viel unterwegs. Sie schlief meistens mit mir ein, aber wenn ich aufwachte, war sie weg. Nur der Teufel wusste, was sie so trieb.

Es war viel passiert die letzten Tage. Ich war bei Varaine, der es nicht schaffte mir in die Augen zu sehen und bei Azael. Seine Wunden waren inzwischen so gut wie verheilt, aber sein Innerstes war noch nicht bereit aufzuwachen. Sumi, Ellie und Alex hatte ich eine kurze Nachricht geschrieben, damit sie wissen, dass es mir gut geht.

Mein Gefühl sagt mir, dass es heute so weit sein würde. Dass heute der erste Name auf der Liste fällig war. Ich stellte das Buch über die Höllenkreise zurück und stieg die Treppen der Bibliothek hoch, bis ich auf dem Podest oben ankam. Ich legte mich auf den Rücken und sah hoch zum Fegefeuer, wie ich es schon so oft getan hatte. Mein Siegelring schimmerte rötlich im Licht des Feuers und mein Herz tat einfach nur weh. Körperlich war ich in Top-Form. Psychisch war ich am Ende. Ich würde mich am liebsten hier verkriechen und alles um mich herum vergessen. Meine Augen fielen zu und eine bleierne Müdigkeit überfiel mich. Ich schlief aktuell schlechter als je zuvor.

Ich träumte von dem Tag in der Bibliothek, als ich diese Lichter verfolgt hatte, die die Entstehung der Todsünden erzählten. Von diesem Gefühl, das mich schon öfter in der Bibliothek ergriffen hatte. Und als ich aufwachte, spürte ich diese fremde Neugier wieder auf mir. Ich sah mich um, doch es schien von überall und nirgends zu kommen. Es war einfach da. Als ich es zuletzt gespürt hatte, waren Ramiel, Ale und Cael außer sich vor Sorge, weil die Türen zur Bibliothek versperrt waren.

Ich hatte mich dem Gedanken verschlossen, aber jetzt gerade war dieses fremde Bewusstsein so greifbar, dass ich es nicht ignorieren konnte. Ich folgte seinem Drängen und begann die Treppen hinabzusteigen. In der achten Etage angekommen ließ das Drängen nach und Zufriedenheit überkam mich. Meine Finger wanderten über Buchrücken, uraltes Holz und fanden schließlich das schimmernde Licht wieder. Ich hatte schon viel Zeit auf dieser Etage verbracht, dennoch erschienen mir die Bücher fremd. Hier und in der obersten Etage hatte ich mich immer am wohlsten gefühlt. Das Schimmern auf der achten Etage hatte mir letztes Mal eine Dämonin mit einem Dolch gezeigt.

Als ich dieses Mal meine Hand an die perlmuttweißen Wände legte, formte das Licht zwei silberne Schlange. Angenehme Wärme pulsierte durch meine Hand, als wäre die Wand lebendig. Zwei Schwestern, die neidisch aufeinander waren und sich gegenseitig umbrachten. Eine Dämonin, dessen Reich zerbrach. Es war die Entstehung der Todsünde Neid. Und ich erkannte endlich, was ich schon viel früher hätte erkennen müssen.

Neid war jetzt nicht mehr auf der zweiten Etage angesiedelt. Die Bibliothek hatte sich verändert, so wie die Anordnung der Höllenkreise sich verändert hatten. Die Bibliothek war lebendig. Sie hatte eine Art Bewusstsein, das mir das hier offenbart hatte. Aber da war noch mehr. Es war zum Greifen nah.

„Viona." Ramiels Stimme donnerte in meinem Kopf. „Komm sofort raus."

Ich war wie gebannt. So oft hatte ich ihn in Gedanken gerufen, so oft hatte er mir nicht geantwortet. Das hier war schmerzhaft, aber auch bittersüß. Er war am Leben. Aber er war nicht er. Immer wieder musste ich mir das ins Gedächtnis rufen. Ich spürte, wie sich das fremde Bewusstsein zurückzog.

„Ich komme wieder", flüsterte ich und stieg die Treppen hoch, um in Ramiels Gemächern zu landen. Der Kronprinz trug einen Anzug von Prada und ich schluckte. Selbst der seelenlose Ramiel hatte Humor. Oder täuschte er auch das nur vor?

Er sah mich mit verschlossener Miene an und musterte die Kampfunterkleidung, die ich bereits trug. „Es ist so weit." Ich nickte und ging zu der Kampfmontur, die fein säuberlich an einer Kleiderstange hing. Im Prinzip hatte ich immer noch nicht entschieden, ob ich es wirklich machen würde. Ja, ich hatte zwei Engel ermordet. Engel, die des Mordes schuldig waren. Konnte man das von allen Engeln behaupten? Wenn es Dämonen wie Ale, Cael, Azael und Nakir gab, dann müsste es auch Engel geben, die gut sind.

„Ich habe befürchtet, dass du Zweifel hast." Ramiel trat zu mir und schloss sorgfältig die Riemen meiner Kampfmontur. Mein Atem stockte. Er berührte mich, obwohl es niemand sah. Ich verharrte reglos, während er die Dolche in dafür vorgesehenen Halterungen schob. Meine Magie erwachte träge und blinzelnd wie eine Bärin nach dem Winterschlaf. Als ich komplett bewaffnet war und alle Schnallen geschlossen waren, blieb Ramiel dicht vor mir stehen. „Entscheide selbst", sagte er und legte seine Fingerspitzen federleicht an meine Schläfe.

Er schloss konzentriert die Augen und ich sah ihn nur perplex an. Folgte dem Schwung seiner dunklen Augenbrauen, betrachtete seine Haare, durch die ich so gerne hindurch fahren würde, seine Mundwinkel, die sich gerade leicht kräuselten. Schnell entschied ich mich für die feigere Variante und schloss ebenfalls die Augen. Was auch nicht viel besser war, denn jetzt reagierten meine anderen Sinne auf ihn. Ich roch ihn. Ich spürte ihn direkt vor mir. Meine Zähne gruben sich in meine Unterlippe. Mein Puls stieg unkontrolliert. Ramiel lachte leise. „Ganz ruhig, Vio. Ich hab's gleich."

Meinem ersten Impuls folgend senkte ich den Kopf. Meine Stirn landete an seiner Brust. Ramiel gefror zu Eis. Meine Arme baumelten verloren an meiner Seite und innerlich gab ich mir eine Ohrfeige nach der anderen. Ich fragte mich, was Ale dazu sagen würde. Und mir wurde klar, dass sie mich niemals dafür verurteilen würde. Genauso wenig wie ich sie. Ramiel war mehr für uns als wir für ihn, aber dass wir so empfanden, hatte nichts mit Schwäche zu tun. Das ich so empfand, dieses Gefühlchaos, war nur menschlich. Ale würde mir raten, alles anzunehmen, aus dem ich Stärke ziehen konnte und das hier gerade, gehörte definitiv dazu.

Ramiel hatte sich noch immer nicht geregt. Es war als würde er abwarten, ob ich gleich zurückzucken würde. Angewidert von mir selbst. Oder voller Reue. In Zeitlupe, damit er sich jederzeit von mir lösen konnte, hob ich meine Hand und verharrte einen Moment, bevor ich sie schließlich auf seine Brust legte. Seine Finger glitten von meiner Schläfe, sein Daumen strich über meine Wange, bevor seine Hände auf meinem Rücken zum Erliegen kamen.

Ich sah zu ihm hoch. Seine Augen waren geschlossen. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet. War doch nicht alles gespielt? Niemand sah uns. Wir mussten vor niemandem eine Show abziehen. Oder spielte er gerade nur mit mir?

Es wirkte echt. Meine andere Hand strich über seine Brust nach oben, bis sie über die kühle Haut seines Halses fuhr und in seinem Nacken landete. Er verkrampfte sich. Sein Kiefermuskel trat hervor, seine Schultern waren hart wie Schattenstein. Seine Lippen waren geöffnet, sein Herz raste, als ich mich auf die Zehenspitzen stellte. Er kam mir entgegen und dann berührten meine Lippen seine. Jemand keuchte. Ich küsste ihn. Einmal. Noch einmal.

Dann schien etwas in meinem Kopf zu explodieren. Hunderte Bilder flogen an mir vorbei. Kurze Sequenzen von Dämonen, die ich nicht kannte. Ketten, Eisen, Feuer, Schmerzen. Eine jüngere Ale mit Farbe im Gesicht. Azael mit einem Übungsschwert. Dann sah ich mich. Auf der Veranda einer Party sitzend, Layken neben mir. Ich sah mich in meinem Studierzimmer, die Augen geschlossen, die Lippen zum Kuss geöffnet. Ich sah mich schlafend in Ramiels Bett. Ich sah mich tanzend in der Hölle in einem ledernen Korsett. Dann rissen die Erinnerungen abrupt ab.

Eine menschengefüllte Gasse. Eine leuchtende Gestalt. Dann Schreie, Blut und Tod. Eine schimmernde Klinge, die sich durch die Körper fraß. Männer, Frauen, Kinder. Alle starben.
Die Klinge hielt erst inne, als die Straße mit Leichen übersät war.

„War das zu deiner Zufriedenheit, Herrin?" Das Leuchten der Gestalt nahm ab, bis die Silhouette eines jungen Mannes zu erkennen war. Eines Engels.

„Zu meiner Zufriedenheit? Nein. Es war lediglich akzeptabel." Die sprechende Person blieb unerkannt. Auch sie war von einem leuchtenden Schimmer umgeben. „Wie lautet dein weiteres Vorgehen?"

Der Engel, dessen Klinge blutverschmiert war, senkte den Blick. „Ich werde dem Priester und zwei Mönchen erscheinen und ihnen von den Dämonen berichten, die ihre Stadt heimsuchen. Dann werde ich sie auf die Spur der Hexen führen und dabei zusehen, wie sie brennen."

„Die Mädchen sind nur zwölf Jahre alt."
„Ja, Herrin." Er hob vorsichtig den Blick. Dann fuhr er fort. „Anschließend werde ich das Ganze wiederholen. Ich habe von einem Hexenzirkel zwei Städte weiter erfahren. Und von einem Werwolf Rudel nördlich von hier. Ich werde es so machen, wie ihr es mich gelehrt habt und die Menschen gegen sie aufhetzten. Sie werden den Rest erledigen."

Die Sequenz endete abrupt.

„Auch der Himmel hat Kommandantinnen und Soldaten, die den Tod mehr als verdient haben. Über Jahrhunderte hinweg haben sie Menschen gegen Hexen, Dämonen, Werwölfe und andere übernatürliche Wesen aufgehetzt. Ich bin sicher, Azalee hat dir davon in eurem Unterricht erzählt."

Hatte sie tatsächlich. Die Menschen hegten bereits Misstrauen gegenüber intelligenten und unabhängigen Frauen und Personen, die von der Norm abwichen. Vor allem, die die medizinisch begabt waren, wurden als Bedrohung angesehen. Der Verdacht der Hexerei kam ihnen gelegen, um diese Frauen aus dem Weg zu räumen. Die Engel hatten sich an einem der größten Femizide beteiligt und durch den Tod Unschuldiger ihre Macht gefestigt.

„Ich soll diesen Engel umbringen." Das werde ich hinkriegen. Während der Szene hatte sich mein Gewissen schon lange verabschiedet und die Wut die Oberhand gewonnen.

„Nein. Er ist nur ein Werkzeug. Sie benutzt ihn. Ich will den Kopf seiner Kommandantin." Nur langsam nahm die Hölle um mich herum wieder Gestalt an. Ramiel hielt mich noch immer fest. Genauso wie ich ihn. Er hat zugelassen, dass ich ihn küsse. Zweimal. „Ihr Name ist Bezaliel. Der Schatten Gottes. Aber dich wird sie nicht kommen sehen."

Es gab nur zehn göttlichen Kommandantinnen. Und soweit ich wusste, hatten sie alle bei unzähligen Katastrophen, Krankheiten, Kriege, sowie Naturereignisse ihre Finger im Spiel.

„Was gibst du mir?"
Ramiel seufzte. Er wusste sofort, dass ich von diesem Gift redete, was er mir bereits mehrmals eingeflößt hatte. „Es ist nur zu deinem Besten", begann er.
Ich unterbrach ihn. „Das entscheidest du nicht."
„In diesem Fall schon. Deine Magie ist unberechenbar. Du bist unberechenbar und mit diesem Mittel kann ich sie kontrollieren."
„Aber das kannst du doch sowieso", fauchte ich.

Er besaß die Frechheit zu grinsen. „Ich habe dir nur einmal meinen Willen aufgezwungen. Mir wäre es lieber, es bleibt dabei." Wieder seufze er, als er meinen unnachgiebigen Blick sah. „Weißt du, was Mondschatten ist?"

„Ohja." Mein Blick wurde mörderisch. „Ich habe doch erst vor kurzem Bekanntschaft damit gemacht." Ich wusste auch nicht, warum ich ihn überhaupt gefragt hatte. Es würde keinen Sinn machen, wenn er mir erläutern würde, mit was für einer Substanz er mich regelmäßig unter Drogen setzte.

„Mondschatten und Lichtkegel sind die beiden krassesten dämonischen Drogen. Eine schaltet deine Menschlichkeit aus. Die andere deine Magie." Ramiel zog eine Phiole aus der Innentasche seines Anzugs. Die Flüssigkeit darin war giftgrün und brodelte. „Und gegen Lichtkegel gibt es ein Gegenmittel. Ich glaube nicht, dass du deine Magie bei der Mission brauchst, aber ich will kein Risiko eingehen. Azalee hat alle notwendigen Daten, bring mir Bezaliels Essenz. Dann reden wir weiter."

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