chapter 33

Ich wachte in meinem Wohnheimzimmer auf. Es war bereits mittags. Über mir war mein Sternenbild. Meine Bücher neben mir. Alles war schmerzlich vertraut. Die anderen waren dagegen gewesen, dass ich hier schlief und nicht bei Varaine, aber ich brauchte Ruhe und etwas Abstand von allem. Ich brauchte Zeit mit mir allein.

Ich hatte ihnen versprochen kein Licht anzumachen und zur Sicherheit eine Kuppel, um das Zimmer zu legen. Mein Traum war merkwürdig gewesen. Ein Gefühl von Melancholie hing noch nach, obwohl ich mich an keine Einzelheiten erinnerte. Es war schön aufzuwachen und die üblichen Geräusche zu hören. Die Stimmen von Studierenden, die an meiner Tür vorbei gingen. Auf dem Weg zu den Waschräumen oder zu Vorlesungen.

Heute war Montag und tatsächlich vermisste ich das entsprechende Gefühl ein bisschen. Es lag keine Woche voller Vorlesungen und Schichten in der Bibliothek vor mir. Das letzte Mal, dass wir unser Montags-Ritual durchgeführt hatten, kam mir eine Ewigkeit her vor. Wie gerne wollte ich mit meinen besties zum Selbstverteidigungskurs und mit Snacks und Getränken auf den Turm. Wir hatten dort die tollsten, innigsten Gespräche geführt und ich vermisste die Vertrautheit, mit der wir uns danach auf unsere Zimmer oder nach Hause geschlichen hatten. Ich vermisste Dumbledore und Miss McFarlane. Dumbledore, der mich, obwohl ich mein Studium pausierte, hier erstmal wohnen ließ. Ich vermisste meinen Alltag, obwohl ich gar nicht gewusst hatte, wie glücklich er mich machte.

Stattdessen war ich erst im Morgengrauen wieder hierher teleportiert. Die anderen waren in der Hölle geblieben. Nach unserer stundenlangen Strategiebesprechung, zu der ich absolut nichts beitragen konnte, mussten auch sie fertig gewesen sein. Ramiel war die ganze Zeit so unnahbar gewesen und ich würde Ale gerne frage, ob er öfter so war. So tief in diesem Kronprinzen sein vertieft, dass er kaum merkte, was um ihn herum abging. Es war merkwürdig, aber seit er zurück war, fühlte es sich anders an. Die körperliche Anziehung war nach wie vor da, doch gleichzeitig fehlte etwas.

Ich kniete mich vor mein Bett und zog die Kiste mit meinen Erinnerungen hervor. Obendrauf lag das Buch, das Ramiel mir geschenkt hatte. Inklusive seiner Widmung. War alles, was sich verändert hatte vielleicht meine rosarote Brille, die ich jetzt nicht mehr trug?
Eine Nachricht ging auf meinem Handy ein und ich grinste unwillkürlich. Sumi konnte einfach Gedanken lesen.

Wollen wir uns zum Mensen treffen?

Auf jeden Fall!!!!

Alex sagte auch zu und Ellie schrieb, dass sie versuchte, rechtzeitig wieder hier zu sein, um uns ebenfalls mit ihrer Anwesenheit zu beehren.
Ich schlüpfte in Jeans und einen alten Pullover meines Dads. Auch wenn ich gerade nicht dort arbeitete, hieß das nicht, dass ich Morty und Pepper und meinem Lieblingsort in dieser Welt nicht einen Besuch abstatten konnte.

Ich ging extra den langen Weg, um über die breite Steintreppe, an den Säulen vorbei, um den Haupteingang zu betreten. Mein Blick wanderte die Treppe hoch, über den steinernen Wasserspeier auf der Empore und in die Richtung der versteckten Treppe, die zum Turm hinaufführte. Ich ging an dem Campus Laden zu meiner rechten vorbei und betrat die Bibliothek über die kleine Tür, die in die dreimeterhohen Flügeltüren eingebaut war.

Morty stand am Tresen und ich konnte mein Glück darüber kaum fassen. Ich hatte mich schon in den unzähligen Reihen der Bibliothek herumirren sehen, um ihn am Ende dann doch nicht zu finden. Bei ihm stand jemand. Pepper entdeckte mich zuerst und begrüßte mich schwanzwedeln. Ich kraulte sie ausgiebig und setzte mich auf das lila Sofa.

Die Situation war schwer zu deuten. Mortys Locken hingen vor seinem Gesicht und die Person vor ihm trug lockere Jeans und einen übergroßen Pullover. Sie unterhielten sich leise und ich lenkte meine Aufmerksamkeit auf Pepper und scannte den Rest der Bibliothek, um ihnen ihre Privatsphäre zu lassen. Es waren nicht viele Studierende hier. Ich spürte ein paar Dämoninnen über uns und weitere Studierende an den Arbeitsplätzen und zwischen den Regalen.

Aus einem Impuls heraus, schnappte ich mir den Wagen, den Morty gerade zum Einsortieren fertig gemacht hatte und machte mich auf den Weg. Ich hatte zwar keine Kopfhörer, aber es war dennoch wundervoll. Absolut vertraut. Im entsprechenden Gang kletterte ich auf die Leiter und stellte die Bücher an ihren Platz. Der Bücherwagen war viel schneller leer, als mir lieb war. Als ich zurück zum Tresen ging, war Morty allein.

„Vio, wie schön dich zu sehen."
„Ich habe das hier vermisst", erwiderte ich achselzuckend und stellte den Bücherwagen zurück an seinen Platz und ging dann wieder auf Abstand.
„Wir dich hier auch. Es waren inzwischen vier Studierende hier, die sie alle vergrault hat." Er senkte die Stimme. „Man könnte fast meinen, dass sie dich doch irgendwie mag."

Ich grinste. Bevor Hildegard jemanden mochte, würde die Hölle zufrieren. „Das wäre ja mal was. Darf ich ein bisschen helfen?" Der Stapel abgegebener, aber noch nicht eingetragener Bücher lockte mich an.
„Klaro." Er machte Platz für mich und die nächste halbe Stunde versank ich völlig in der Nostalgie von Dingen, die mal alltäglich und jetzt etwas Besonderes geworden waren.

„Sag mal, Vio." Ich sah zu ihm hoch. Morty war nervös. Ich hatte zwischendurch schon vermutet, dass er etwas sagen wollte, aber sich irgendwie dann doch umentschied. „Kann ich dich was fragen?"
„Natürlich", antwortete ich ernst. Er sah zurück auf den Bildschirm und ich machte mit dem Katalogisieren weiter. Ich hatte die Vermutung, dass er keinen Blickkontakt wollte.

„Die Person, die du vorhin gesehen hast..." Er kam ins Stocken. „Das war Tay." Mortys Hand auf der Maus zuckte nervös und Pepper drückte beruhigend ihren Kopf an seinen Oberschenkel. „Ich habe Probleme mit Menschen. Mit sozialen Kontakten. Mit Berührungen." Ich wartete, was er noch sagen würde. Wir hatten noch nie ein ähnliches Gespräch geführt und ich hatte keinen blassen Schimmer, worauf das hier hinauslaufen wird. Seit ich ihn vor über einem Jahr kennengelernt hatte, war er noch nie so angespannt gewesen.

„Ich bin nicht wie andere, kann mich nicht einfach so locker machen oder jemanden zur Begrüßung umarmen. Berührungen bedeuten für mich eine Reizüberflutung, mit der ich nicht umgehen kann. Ich hasse öffentliche Orte, an denen man angerempelt und zur Seite geschoben wird. Ich kann keine laute Musik ab, oder verschiedene Stimmen, die durcheinanderreden."

Ich wollte ihm sagen, dass er sich nicht vor mir rechtfertigen muss und mir keine Erklärung schuldete, aber ich glaubte, es war wichtig für ihn das auszusprechen.
„Deshalb liebe ich es hier so. Die Bibliothek ist meine Komfortzone, die ich nur selten verlasse." Das kam mir bekannt vor. Auch wenn ich den Rest seiner Aussage nicht nachvollziehen konnte. Ich wusste nicht, wie es war, sich zu fühlen.

„Ich habe keine Freunde, weil die meisten damit nicht klarkommen und mich merkwürdig finde, wenn ich vor ihrer Berührung zurückzucke oder einen Raum verlasse nur weil zwei Typen sich lautstark quer durch den Hörsaal unterhalten. Deshalb bist du es jetzt mit der ich spreche, weil ich mich in deiner Gegenwart etwas weniger merkwürdig fühle." Er grinste schief und ich grinste zurück. Das war ein tolles Kompliment.

„Was bedeutet Tay dir?", fragte ich vorsichtig.
Morty seufzte und strich sich eine Locke hinters Ohr. Er vergrub eine Hand in seinem ÁvilaBHoodie und streichelte mit der anderen Pepper.

„Aus meiner Komfortzone rauszukommen. Tay ist non-binär und ordnet sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zu. Tay fühlt sich auch keinem der vorhandenen Pronomen zugeordnet. Es sind ganz andere Probleme als meine, die sich daraus ergeben, aber irgendwie wurde mir durch Tay klar, dass jede Person Probleme hat. Ob man sie auf den ersten Blick erkennt oder nicht. Und das hat mir geholfen und mich gleichzeitig erschreckt. Ich war immer der Mittelpunkt meines Lebens.

Verständlicherweise. Aber darüber hinaus habe ich vergessen, dass jede andere Person das genauso sieht. Die Verkäuferin an der Kasse ist die Protagonistin ihres eigenen Lebens und der Typ, der mich schief angrinst und die Hand nach mir ausstreckt auch. Sie alle haben Probleme, vielleicht sogar Traumata, mit denen sie kämpfen müssen. Psychische Erkrankungen, die genauso wichtig sind, auch wenn man sie nicht so deutlich sieht, wie ein gebrochenes Bein."

Er verlor den Faden und brauchte einen Moment, bevor er fortfuhr. Seine Stimme krächzte. „Jedenfalls ist Tay der Grund, warum ich meine Ängste überwinden will. Meine Therapeutin hat mir empfohlen, klein anzufangen, bei einer Person, bei der ich mir recht sicher sein kann, dass sie mich nicht verurteilt und abstempelt. Eine Art Konfrontation, die ich vorher immer gemieden habe."

Wie viel Angst musste er vor Zurückweisung haben? Ich blinzelte die Tränen weg und räusperte mich. Es half ihm nicht, wenn ich jetzt emotional wurde. Morty hatte mehr geredet als in dem gesamten Jahr, dass wir uns kannten. Mir schoss eine Erinnerung aus der Zeit, in der ich noch zur Schule gegangen war durch den Kopf. Es war eine Übung gewesen, in der wir Liebesbriefe an ein zufällig ausgelostes Kind geschrieben hatten.

„Du bist gut, so wie du bist, Morty." Ich wollte so viel sagen, wie viel mir das bedeutete und wie mutig es von ihm war, sich das zu trauen. Aber das war alles, was ich hervorbrachte. Es gongte zum Mittagessen und ein Ruck ging durch Morty. Er wandte sich wieder dem Computer zu.

„Danke", sagte er leise.
„Tay kann sich glücklich schätzen. Du bist toll, Morty, mutig und sozial sehr intelligent. Und du hast recht. Jede Person hat ihre eigenen Probleme. Ob man sie sieht und kennt, oder nicht. Du bist nicht allein."

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Ich wünsche dir frohe Weihnachten und/oder schöne Winterferien 🤍

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