chapter 17

Blut rann mir den Hals hinunter, doch es war nur ein kleines Rinnsal. Einzelne Tropfen fielen zischend auf das Eis und verdampften.

Alicia fügte mir weitere Schnitte zu. An meinem Oberarm, an meinem Bein. Blutspuren liefen über meine Haut. Es war ja nicht so, als hätte ich bereits genug Wunden. Ich hatte ein blaues Auge, eine gerade erst verheilende und daher angeschwollene Oberlippe, die genähte Wunde zwischen meinen Rippen und die vielen veilchenblaue Flecken, die sich über meinen ganzen Körper zogen. Ich bemerkte, dass Alicia zitterte, als sie zu einem letzten Schnitt auf meiner Wange ansetzte. Ein Knurren durchdrang die Stille, die vorher nur von den aufschlagenden Blutstropfen unterbrochen war. Sie erwiderte meinen Blick und ich erstarrte als ich sah, wie grauenerfüllt er war.

Tränen rannen ihr über die Wange, als sie sich umsah und in die Dunkelheit blickte. Dort lauerte etwas. Ich spürte seine Wärme. Seine Präsenz. Seinen Hunger.
Ich hörte ein Schnüffeln und würde meinem Blut am liebsten befehlen, dass es aufhört zu fließen. Das Eis knirschte. Es kam näher.

Alicia wich zurück, das Messer fiel klirrend zu Boden. Nur einen Meter von mir entfernt und dennoch unerreichbar.

„Du sollst sein wahres Gesicht sehen." Ihre Stimme war nur noch ein heiseres, tränenersticktes Flüstern. „Seinen Dämon. Seinen Blutdurst. Und verstehen, dass er dich nie lieben könnte." Ich begehrte gegen die Fesseln auf, mit allem, was ich hatte. Ich zerrte an dem Funken meiner Magie, versuchte einen einzelnen, kleinen Faden zu formen. Doch er war zu brüchig. Ich versuchte es wieder und wieder. Mir wurde schwindelig und ich spürte, dass der Blutverlust mir langsam zu schaffen machte.

Alicia sank zu Boden, ihre Fingernägel krallten sich in das Eis und färbten es schwarz von ihrem Blut. Und dann stand er vor mir. Ragte über mir auf und sah zu mir hinab. Ramiel war schöner als je zuvor. Seine Haut funkelte, seine Augen leuchteten und seine Haare sahen so ordentlich aus, dass ich dringend durch sie hindurchfahren wollte. Er strahlte die übermenschliche Schönheit aller übernatürlichen Wesen ab. In einem Maß, wie ich sie bisher noch nie gesehen hatte. Ich spürte die Wärme, die von seinem unbedeckten Oberkörper ausging. Ihm schien die Kälte nichts auszumachen. Seine Muskeln funkelten in dem Licht, das ihn umgab. Ich wollte die Arme nach ihm ausstrecken, wollte, dass er mir aufhalf und mich für immer an ihn klammern.

Ich glaubte seinen Namen zu flüstern. Sein Blick wanderte über meine Verletzungen, über die Prellungen, Schnitte und Blutlinien. Sein Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Ich suchte nach seinem Schlangentattoo und fand es nicht. Ramiel hob eine Hand. Ich wimmerte, als er sie an meine Wange legte und lehnte mich seiner Berührung entgegen. Seine Hand war kochend heiß. Sein Daumen strich über den kleinen Schnitt. Er legte den Kopf schief, als er die Hand zu seinem Mund führte und das Blut von einem Finger ableckte.

Ich suchte seinen Blick. Vor mir verschwamm alles. Und als ich ihn endlich fand, wünschte ich, dass es mir nicht gelungen wäre. Seine Augen waren pures, starres, eiskaltes Silber. Keine Wärme, keine Zuneigung. Sein Gesicht war ausdrucklos. Da waren überhaupt keine Emotionen, kein Erkennen. Gar nichts.

Er leckte sich mit der Zunge mein Blut von der Lippe. Seine Eckzähne blitzten auf. Und dann war da doch eine Empfindung. Hunger.
Seine Hand schloss sich grob um meine Kehle. Dann stürzte er sich auf mich. Er drückte mich zu Boden. Eisige Nadelstiche fraßen sich durch das T-Shirt tief in meine Haut.

Und dann konnte ich meine Hände plötzlich bewegen. Und ich wusste, dass das nur auf seinen Befehl hin geschah. Ich versuchte ihn von mir zu drücken, wich dem leeren Blick seiner Augen aus, trat nach ihm und tastete nach dem Messer.

Ramiel nahm das alles ungerührt hin. Sein Blick war auf mein Hals gerichtet und durch die Bewegung und das Adrenalin floss mein Blut schneller.

„Ramiel." Ich hörte auf mich zu wehren und schlang stattdessen meine Arme um ihn. Meine Hand traf etwas Hartes. Ich tastete weiter. Da waren verkrustete Wunden. Kleine, runde, große und welche die sich über die gesamte Länge seines Rückens zogen. Alte Narben, die wieder und wieder aufgerissen worden waren, Brandnarben und tiefe Wunden, die noch immer bluteten.

Ich weinte, als mir klar wurde, dass er gefoltert wurde. Dass meine Alpträume wahr gewesen waren. Dass meine Zeichnungen wahr gewesen waren. Er hatte all diesen Schmerz erdulden müssen. Er hatte gekämpft, bis er nicht mehr konnte. Bis er die Kontrolle verloren hatte, bis er gebrochen war. Und dass hier, mein Tod, würde dafür sorgen, dass er nie wieder heilen würde. Dass er nie wieder zu sich zurückfinden würde.

Nie wieder ein Buch lesen oder mich damit aufziehen würde. Nie wieder mit mir durch die Bibliothek schlendern. Mich nie wieder küssen. Nie wieder mit seinen Brüdern, seiner Schwester, seiner Familie zusammensitzen und lachen würde.

Und ich wünschte mir meinen Zorn zurück. Meine Wut auf seinen Vater, auf den Teufel, der ihm das hier angetan hatte. Alles wäre besser gewesen als diese lähmende Gewissheit. Doch ich konnte nur trauern, nur Angst haben um das, was es mit ihm machen würde. Nur Angst haben, um das, was mich nach dem Tod erwarten würde. Was ihn nach meinem Tod erwarten würde.

„Ich liebe dich." Ich hielt ihn fest. Meine Hände legten sich um seine Wange, als ich ihn ein letztes Mal küsste. Er erwiderte den Kuss nicht, verfolgte meine Bewegungen, den Strom meiner Tränen, das Blut, dass an meinem Hals entlangfloss vollkommen reglos, unbeteiligt. „Es ist okay, Ramiel. Ich verstehe es." Es tat mir so leid für ihn, für mich, für uns.

Er hob mein Kinn, entblößte meine Kehle und ich weinte heftiger, weil es mich so sehr an die Male erinnerte, als er das in ganz anderen Situationen gemacht hatte. Doch an seiner Bewegung war nichts Liebevolles, nichts Zärtliches. Er war ein Jäger und ich war seine Beute. Ich zitterte und bebte und dachte an all die klaren Nachthimmel, die ich jetzt nicht mehr erleben würde. All die Abenteuer und Erinnerungen mit meinen besties, die ich nie wieder sehen würde. Ich weinte, um das Leben, das ich hätte führen können. Ich weinte, um das Leben, dass wir hatten führen können, um die Personen, die wir hätten sein können.

Komischerweise spürte ich keinen Schmerz als seine Zähne sich tief in meinen Hals gruben. Ich spürte keine Kälte mehr. Ich spürte überhaupt nichts.

Ich hielt ihn fest, während er mein Blut trank. Ich hielt ihn fest, als mich die Bewusstlosigkeit einhüllte wie eine warme Umarmung.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top