1. Kapitel ~ Erinnerungen schmerzen ✔

L I A M

Betrübt starrte Liam das Bild in seinen Händen an. Wie lange war es schon her? Genau acht Jahre, denn heute war Carmodys Geburtstag und heute vor acht Jahren war sie spurlos verschwunden.

Sie, seine Schwester, seine kleine Prinzessin, seine Kleine, sein Munchkin. Es war seltsam, wie sehr Liam seine eine jüngere Schwester vermisste, wobei er seine anderen beiden, Nicola und Ruth, nicht mehr vermisste, als Carmody, vielleicht sogar weniger. Lag es daran, dass Nicola und Ruth älter als er waren und er Carmody oft beschützt hatte? Oder hatten sie einfach eine engere Bindung zueinander?

Mit Tränen in den Augen erinnerte Liam sich daran, wie Carmody ihn beschützen wollte, nachdem er ihr erzählt hatte, dass ihn in der Schule seine Mitschüler mobbten. Die Kleine war einfach aus dem Kindergarten ausgebüchst und hatte denen gedroht, die Liam Tag für Tag das Leben zur Hölle machten. ,,Wenn einer von euch meinen großen Bruder auch nur anfässt, kriegt er es mit mir zutun", hatte sie mit ihrer kindlichen Stimme gedroht. Daraufhin hatten alle das kleine Mädchen mit den zwei Zöpfen ausgelacht, aber jeder hatte sie unterschätzt, selbst Liam. Sie ging auf einen der lachenden Jungs zu, Hardin Davies, und trat ihm mit dem Bein in seine Kronjuwelen. Das Ganze endete damit, dass Liams und Carmodys Eltern angerufen wurden und Carmody eine Woche Süßigkeitenverbot bekam, aber Liam war einfach nur stolz auf seine kleine Schwester, die ihn vor vielen Jahren verteidigt hatte. Diese Zeit war noch so schön gewesen, die Familie Payne schien perfekt, bis es passierte.

An Carmodys neuntem Geburtstag hatten alle aus ihrer Familie einen Ausflug in den Wald geplant. Natürlich fand Carmody das super, da sie die Natur liebte. Sie war schon immer gelenkig gewesen und konnte ohne Mühe einen Baum hochklettern. So kam es also, dass die ganze Familie Payne am Abend um ein Lagerfeuer versammelt da saß und sich gegenseitig Geschichten erzählten. ,,Ich gehe kurz pinkeln", hatte Carmody etwas peinlich berührt gemurmelt. ,,Kommst du mit, Liam?"

,,Ich bin müde", hatte Liam bloß gemurmelt und sich in seine Jacke gekuschelt. Wie sehr Liam diesen Satz bereute... heuzutage machte er sich noch Vorwürfe, nicht mitgekommen zu sein. Als Carmody nach zehn Minuten nicht zurückgekommen war, wurde nach ihr gesucht - vergeblich. Von dem Tag an galt sie als verschollen.

,,Liam? Was ist los?", bemerkte Niall Liams Traurigkeit und legte ihm tröstend einen Arm um die Schulter, wie er es immer tat, wenn er einen aufheitern wollte. ,,Ist heute ihr Geburtstag?"

,,Ja", wisperte Liam. ,,Ich frage mich, was sie gerade macht, wenn sie überhaupt noch lebt."

Mitfühlend lächelte Niall ihn an. ,,Komm", sagte er, ,,das Interview beginnt gleich."

○○○
C A R M O D Y

Carmody starrte hypnotisiert auf den Bildschirm des Fernsehers. Sie wollte ihn endlich sehen und wissen, wie er sich mit der Zeit verändert hatte. Sie hatte ihn vermisst und wollte ihn endlich sehen, auch wenn es nur in einem Interview war. Sie vermisste ihren Bruder viel mehr als ihre beiden Schwestern.

Das lag bestimmt daran, dass Carmody und Liam viel mehr zusammen unternommen hatten, während Nicola und Ruth sich auf die Schule konzentriert hatten. Liam wäre bestimmt unglücklich, wenn er wüsste, was aus Carmody geworden ist. Sie hatte drei Identitäten. Eine Mafiabraut, eine Sängerin und dann war sie noch Liam Paynes verschollene Schwester, Carmody Payne.

Calliope oder Calli, die meistgesuchteste Verbrecherin. Sie hatte eine eigene Mafiagang, welche sie selber geschult hatte. Zwar war das gar nicht lange her, aber für ein siebzehnjähriges Mädchen war das viel. Aber Carmody war nicht nur eine Verbrecherin, nein, sie war auch eine Sängerin. Roxy. Diese zwei weiteren Identitäten entstanden aus ihrem vollen Namen, Carmody Calliope Roxanne Payne.

Carmody ging schon lange nicht mehr in die Schule. Seit sie an ihrem neunten Geburtstag entführt, in ein Waisenhaus gesteckt wurde, und von dort floh, hatte sie auf der Straße gelebt.

,,Carmody, das Interview beginnt", riss Ian sie aus ihren Gedanken.

Ian. Ihm hatte Carmody zu verdanken, dass sie nicht auf der Straße leben musste. Er hatte sie aufgegabelt und mit zu sich genommen. Ian war ihr bester Freund und gleichzeitiger Ziehvater, auch wenn er nur sechs Jahre älter als sie war. Er war der Einzige, der wusste, wer hinter Calliope und Roxy steckte. Er hatte ihr geholfen, als Roxy und Calliope bekannt zu werden. Die Leute liebten Roxy und mochten ihre Songs, so dass sie fast so berühmt sie Liam war. Calliope hingegen war eine Mörderin, eine Mafiabraut.

Zumindestens dachten das alle, denn Calliope hatte noch nie jemanden umgebracht. Das war immer durch die Hand eines Anderen geschehen. Aber jeder dachte, dass Calliope jeden erdolchte, der sich ihr in den Weg stellte.

,,Guten Tag, One Direction", fing die viel zu stark geschminkte Reporterin an. ,,Wie geht es euch?"

,,Gut!", riefen sie alle durcheinander.

,,Dann fangen wir mal an, Zayn, wie läuft es mit Perrie?"

Zayn Malik tauschte kurz einen vielsagenden Blick mit Harry Styles, ehe er antwortete: ,,Alles ist bestens."

,,Das ist ja schön", sagte sie mit einem gekünstelten Lachen und versuchte, verführerisch drein zu schauen, was eher an ein Schweinchen erinnerte. ,,Heute ist der erste März, ein ganz besonderer Tag. Heute hätte deine verschollene Schwester, Harmody, Geburtstag, Liam, hm?"

,,Ihr Name ist Carmody", erwiderte Liam bissig, fasste sich dann nach einem mahnenden Blick von Zayn und lächelte dann falsch. Bestimmt dachten viele Fans, dass es sein normales Lächeln war, aber Carmody spürte ganz genau, dass es nicht echt war. ,,Und ja, heute hat meine kleine Carmody Geburtstag."

,,Wie meinst du das? Denkst du, dass sie noch lebt? Natürlich kann sie noch leben, aber es ist doch total unwahrscheinlich, nicht? Ich lasse hier ein Video von ihr einblenden", plapperte die Reporterin, drückte einen Knopf und auf dem Fernsehr hinter der Couch, auf der One Direction saß, wurde ein Video eingeblendet. Carmody erkannte es sofort: es war das letzte Video, welches von ihr als Carmody Payne gemacht wurde. Sie und Liam saßen vor einer riesigen Geburtstagstorte, die mit Regenbogenfarben verziert war.

,,Happy Birthday to you!", sang der junge Liam in dem Video und lächelte seine Schwester sanft an.

,,Happy Birthday to youuuuuu!", rief Ruth und sprang ins Bild.

,,Happy Birthday, liebe Car-mody!", schrie Nicola und tauchte hinter Ruth auf.

,,Happy Birthday, to youuu", machte Liam den Schluss, aber bevor Carmody die Kerzen auspusten konnte, deutete er auf die Torte und schrie erschrocken auf. ,,Da ist ein Käfer!", warnte er seine drei Schwestern panisch.

Carmody hingegen nahm das ganz gelassen und blickte die Torte von allen Seiten an, ehe sie mit dem Gesicht direkt über der Torte schwebte. ,,Wo?", wollte sie verwirrt wissen. Dann - ganz plötzlich - hob Liam die Hand und drückte sie an ihrem Nacken mit dem Gesicht in die Torte. Ruth und Nicola lachten prompt laut auf.

Die Reporterin pausierte das Video und lächelte erneut ihr, Carmodys Meinung nach, dämliches Lächeln. ,,Also", sagte sie. ,,Ziemlich bezaubernd das Mädchen. Ich liege richtig, wenn sie heute siebzehn geworden ist? -" Liam nickte schwach ,,- bestimmt ist sie heute richtig hübsch."

,,Das ist sie ganz bestimmt", stimmte Liam ihr zu. Carmody konnte es nicht länger ertragen, zu hören, wie diese Reporterin munter über sie plapperte. Sie bedeutete Ian, den Fernseher auszuschalten, was er auch sofort machte. Die Erinnerung an ihren Geburtstag schmerzte so verdammt. Alles war da noch gut im Gegensatz zu heute.

,,Du hast heute um drei Uhr ein Konzert, bei dem du den neuen Song präsentierst - natürlich als Roxy. Um halb drei fahren wir los. Um halb vier endet das Konzert und danach hast du noch ein Meet and Greet mit Fans, drei Mädchen", erzählte Ian ihr und strich ihr beruhigend über den Arm, da sie zitterte.

Carmody nahm zwar wahr, was er sagte, aber sie starrte trotz allem noch auf den ausgeschalteten Bildschirm. Liam glaubte, dass sie noch lebte. Er glaubte daran, dass sie irgendwann mal zurückkehren würde. Er hatte nie die Hoffnung aufgegeben. Diese Erkenntnis ließ sie lächeln. Es war ihr erstes Lächeln seit Jahren, undzwar ein Echtes.

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