"A day at the lake."
Ich muss hier eine (kleine) Trigger Warnung aussprechen. Es werden gewissen Dinge erzählt, die Kevin passiert sind, ein sehr schlimmer Teil seiner Vergangenheit. Vielleicht triggert es einige, wenn sie es lesen, deswegen bitte mit Bedacht lesen.
Und wir nähern uns dem Ende. Es werden vielleicht noch 2 Kapitel werden. Bin da aber noch nicht ganz sicher.
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Ob es sich so anfühlte, wenn man glücklich war?
Fühlte es sich warm und geborgen an? Beschützend und liebevoll? Hämmerte das Herz in der Brust und man bekam das Gefühl, als wäre einem schwindelig?
Kevin wusste nicht, ob sich Glück so anfühlte. Er hatte keine Ahnung, wie es war, wenn das Herz wegen einer Person so einen Marathon hinlegte und man das Gefühl bekam, keine Luft mehr zu bekommen. War Geborgenheit so schützend, so warm? Er hatte es nie erfahren, nie gespürt. Damals, als er dachte, er würde Liebe für Pedder empfinden, hatte er jedem gesagt, was für ein Glück er doch mit diesen Mann hatte, wie geliebt und geehrt er sich fühlte, von so einem großartigen Mann als Freund auserkoren worden zu sein.
Aber jetzt?
Jetzt betrachtete er das ruhige, schlafende Gesicht des jungen Kanadiers. Nicholas wirkte entspannt, lächelte sogar etwas. Wegen ihm? Wegen eines Traums?
War Nicholas sein wahres Glück? War der junge Kanadier die Person, auf die er insgeheim gewartet hatte? Die Person, die in der Lage sein würde, sein verkümmertes Herz wieder zusammensetzen zu können? Sollte es möglich sein, dass er wieder vertrauen konnte? Lieben? Nach Pedder hatte er allen Gefühlen abgeschworen, alles, was mit Liebe oder Sentimentalitäten zu tun hatte, verschloss er in einer sehr dunklen Ecke in seinem Herzen, begrub diese unter Hass, Wut, Zorn, Kaltschnäuzigkeit, Sarkasmus und dem puren Willen, sich all das zu nehmen, was er wollte und wann er es wollte. Niemals wieder würde jemand diesen Teil seines Herzens erreichen. Niemals würde er sich noch mal blenden lassen. Kein Mann, keine Frau würde es jemals wieder in die Nähe seines Herzens schaffen oder Gefühle in ihm erwecken. Niemand.
Außer Nicholas.
Vorsichtig strich er über die Stirn, lächelte verträumt, als Nicholas die Stirn in Falten zog, aber nicht aufwachte. Wahrscheinlich würde dieser auch keinen halben Infarkt bekommen - so wie er selbst, nachdem er festgestellt hatte, nicht allein im Bett zu liegen. Und dabei war es nicht das erste Mal, dass Nic und er das Bett teilten. Erneut hatte er erholsam und gut in den Armen des Jüngeren geschlafen und trotzdem war es nach dem Aufwachen noch immer etwas schockierend. Nur diesmal hatte sich Kevin schnell wieder unter Kontrolle, erinnerte er sich doch zu genau daran, was Nicholas und er wenige Stunden vorher gemeinsam geteilt hatten.
„Es ist viel zu früh, um schon so ein Gesicht zu machen."
Ertappt wollte er die Hand zurückziehen, aber Nicholas hatte erstaunlich schnelle Reflexe - dafür, dass dieser wohl gerade erst aufgewacht war. Warme Finger schlossen sich um sein Handgelenk, ließen die Hand so an seiner Stirn.
„Guten Morgen."
„God morgen."
Es war faszinierend, wie viele Sprenkel ein Auge haben konnte. Wenn er noch näher an das Gesicht des Kanadiers rücken würde, konnte er die kleinen Sprenkel in den braunen Augen sicherlich zählen. Warm und herzlich blickten ihn diese Augen an, was eine Gänsehaut auslöste und seinen Bauch ganz warm werden ließ.
„Ist alles in Ordnung?"
„Ja. Wieso?"
„Weil es erst sieben Uhr ist und wir Urlaub haben. Hattest du einen Alptraum?"
„Nein, keinen Alptraum. Die habe ich in deiner Nähe nicht. Da waren nur so viele Gedanken, die mich nicht in Ruhe gelassen haben."
Nicholas überbrückte die letzten Zentimeter zum Blonden, ließ Kevin noch einen Moment, um sich gegebenenfalls zurückzuziehen. Aber nichts geschah, so dass er seine Lippen sanft auf die des Älteren presste. Zärtlich liebkoste er den Mund, lächelte erfreut gegen diese, als Kevin den Kuss erwiderte.
Liebevoll küssten sie sich, streichelten über das Gesicht des anderen und trennten sich aufgrund Sauerstoffmangels.
Blau traf auf braun.
Braun traf auf blau.
Ein freundliches Lächeln ist eine Weide für die Augen und Balsam für die Seele.
Warum auch immer ihm gerade jetzt am frühen Morgen dieses Sprichwort in den Sinn kam, erschloss sich Nicholas nicht. Aber es passte. Es passte in diesem Moment einfach perfekt.
„Magst du von deinen Gedanken erzählen? Haben sie mit gestern zu tun? Hast du dich doch unwohl gefühlt?"
„Es hat nichts mit gestern zu tun. Vielmehr mit meiner Vergangenheit. Ich habe mich gefragt, was Glück ist, wie es sich anfühlt und ob man ein verkümmertes Herz wieder zusammensetzen könnte."
Lächeln nickte er Kevin zu, fuhr durch die blonden Haare und ließ dem Dänen Zeit. Wenn Kevin erzählen würde, würde er zuhören. Wollte Kevin nicht erzählen, war dies auch in Ordnung. Er würde den Dänen zu nichts drängen.
„Ich hatte damals gedacht, der Bastard wäre mein Glück. Immerhin hatte er mich als seinen Freund auserkoren. Peder hatte schon einen gewissen Stand bei Männern und Frauen, ich wusste, dass er begehrt war. Ich wusste auch, dass er seinen Partner*innen gegenüber wohl auch mal handgreiflich wurde. Hat mich nicht interessiert. War deren Problem. Als er mir Avancen gemacht hat, war ich überrascht und geblendet."
„Du warst nicht dumm."
„Doch. Ich wusste von den Schlägen, von dem Missbrauch gegenüber den anderen. Aber von denen ist nie jemand zur Polizei gegangen, also dachte ich, es wäre nicht so schlimm. Als Peder mich nicht mehr in Ruhe gelassen hat, mich regelrecht umschmeichelt hat, bin ich weich geworden - trotz Mads' Warnungen."
Nicholas war unsicher. Durfte er Kevin in die Arme ziehen? Vielleicht war zu viel Körperkontakt gerade jetzt nicht gewollt. Immerhin hatte Peder sehr gewalttätig dafür gesorgt, dass Kevin zu viel Körperkontakt mit anderen vermied.
Sein Freund nahm ihm die Entscheidung aber ab, indem er sich fest an seine Brust drückte und die Hände in das Shirt krallte. Scheinbar hatte Peder doch nicht alles zerstört. Kevin war sehr wohl in der Lage, Körperkontakt zuzulassen, auch wenn es vielleicht gerade jetzt nur bei ihm so war.
„Können wir vielleicht später weiter darüber reden?"
„Nur, wenn du dich dazu bereit fühlst."
„Tue ich. Aber jetzt würde ich gerne noch etwas schlafen und später frühstücken. Wenn das Wetter heute gut bleibt, könnten wir ja zum See. Frische Luft, Wasser und Ruhe. Das war gestern schon schön."
„Dann machen wir das so. Erst noch schlafen, lecker frühstücken und dann einen Ausflug zum See. Sehr guter Plan."
Sein Herz schlug schnell, als Nicholas die Arme um ihn legte, die Decke über ihnen ausbreitete und einen Kuss auf seinen Kopf hauchte.
Glück.
Ja. Das war Glück. Nicholas war sein Glück. Seine eine Person, die das kleine mickrige, verkümmerte Herz langsam Stück für Stück wieder zusammengesetzt hatte.
+
Sie hatten sich von Mads' Schwiegereltern Decken geliehen und einen leckeren Picknickkorb zusammenstellen lassen, waren zum Steg gegangen, an welchem Nicholas schon am Vortag gewesen war. Es war tatsächlich niemand in Sichtweite, was es weniger unsicher machte, als sie sich am Rand des Stegs niederließen und auf das schimmernde Wasser blickten.
„Woran denkst du?"
„Dass ich das hier vor Monaten nicht gemacht hätte. Ich wäre niemals mit einem Kerl an einen Steg gegangen und hätte dem Wasser beim Plätschern zugehört. Und ganz sicher hätte ich mir auch nicht von den Schwiegereltern meines Kumpels einen Korb voller Leckereien packen lassen."
Nachdenklich suchte sein Blick einen Punkt in der Ferne, doch Kevin fand keinen. Wenn sein Blick geradeaus gerichtet war, sah er nur Wasser und das große Weite. Links und rechts würde er Bäume, einen Wald sehen. Aber seine Aufmerksam galt etwas anderem. Er fühlte eine Unruhe, gleichzeitig aber mit einer angenehmen Ruhe und das machte ihn schon wieder fertig, da er es nicht verstand, zwei so gegensätzliche Gefühle gleichzeitig zu spüren. Aber seine Aufmerksamkeit sollte sich schnell auf was anderes richten. Auf die Hand, die sich auf die seine legte. Auf den jungen Mann, der ihn lächelnd anblickte.
„Er war nicht romantisch? Warst du vor ihm an so was wie picknicken, spazieren gehen oder auf der Couch faulenzen interessiert?"
„Vor dem Bastard hatte ich einige lockere Beziehungen. Nichts, was wirklich lang hielt. Wir sind auch immer im Guten auseinandergegangen, weil es nicht mehr funktioniert hat. Sehr romantisch bin ich sicherlich nicht. Ich habe keinem meiner Freunde Blumen oder Schokolade geschenkt. Wir waren essen, auch mal im Kino oder haben uns zum Kartfahren getroffen. Anfangs hat es mich verwirrt, dass er so richtig kitschig war. Süßholz hat er geraspelt, Geschenke hat er mir gemacht. Ich fühlte mich wie ein Mädchen, das gefiel mir nicht wirklich."
Nickend drückte Nicholas die Hand des Älteren, ließ seinen Daumen über die kühle Haut streichen. Dass sich Kevin so öffnen würde, hatte er gehofft, aber nicht erwartet, auch wenn sie am Morgen schon ein ernsteres Gespräch geführt hatten.
„Hast du dich selbst gehasst, weil du dich hast einwickeln lassen?"
„Ja. Ich habe mich irgendwann geschmeichelt gefühlt und bin mehr und mehr in seinen Bann geraten. Ich habe die Schläge nicht kommen sehen, obwohl ich davon wusste. MIR passiert das nicht. MICH liebt er wirklich. ICH bin etwas ganz Besonderes. Haha! Was ich wohl war!"
Schnaubend wollte er sich der Hand entreißen, aber Nicholas ließ nicht los. Er hielt seine Hand weiterhin sanft fest, streichelte seine Haut und sorgte dafür, dass er sich beruhigte. Diese Erinnerungen wühlten Kevin auf und er wollte sie auch nicht aussprechen, aber es fühlte sich so gut an, so befreiend. Zwar hatte er seinem Therapeuten auch schon Kleinigkeiten erzählt, aber nicht so viel, wie er gerade dem Kanadier neben sich offenbarte.
„Ich habe in den letzten Wochen und Monaten sehr viel über toxische Beziehungen gelesen, weil ich wissen wollte, wie ich dir helfen könnte und was genau es heißt, in solch einer Beziehung gefangen zu sein. Es war schockierend, brutal und oft auch so schrecklich. Ich kann mir nicht ansatzweise vorstellen, wie es dir ergangen sein muss. Als wir am Grab standen ... hast du da realisiert, dass dieses Monster wirklich tot ist?"
Nicholas sollte seine Zeit nicht mit dem Lesen solcher Sachen verschwenden. Der Jüngere sollte sich lieber auf den Rest der Saison konzentrieren und auf die kommende. Und trotzdem war er egoistisch genug, um sich darüber zu freuen, dass es wirklich jemanden gab, dem er so wichtig war, dass sich dieser mit toxischen Beziehungen und ihren Auswirkungen beschäftigte, nur um ihm helfen zu können. Kevin war sich bewusst, dass ihm auch andere helfen würden, wenn er es zulassen würde, wenn er mehr Menschen in seine schreckliche Vergangenheit einweihen würde. Romain hatte ihm schon öfter geholfen, obwohl dieser nicht wusste, was ihm so zusetzte. Auch Lando und Carlos hatten ihm auf ihre Art und Weise geholfen. Wahrscheinlich würde ihm sogar Günther helfen, wenn er diesem erzählen würde, was ihn bedrückte. Aber er wollte nicht. Er konnte nicht. Noch nicht. Zurzeit waren es genug Menschen, die wussten, was geschehen war.
„Irgendwann taten die Schläge nicht mal mehr weh. Ich habe sie einfach hingenommen, in dem Wissen, dass ich sie verdient hatte. Als er mich an seine Kumpels weitergereicht hat, damit sie ihren Spaß haben konnten, war ich nur beim ersten Mal zickig. Er hat mich fast totgeprügelt. Danach habe ich es über mich ergehen lassen. Er hat mich im Bad an die Heizung gefesselt, hat mich hungern lassen, wenn er tagelang saufen war. Wenn er zurück war, hat er mich geschlagen, weil ich die Wohnung nicht aufgeräumt habe, weil ich faules Miststück nicht mal was zum Essen für ihn fertig hatte. Mit jedem Schlag, mit jeder Vergewaltigung und Misshandlung wurde der Schmerz weniger. Er wurde ein Teil von mir."
Geschockt traf es nicht mal ansatzweise. Angewidert? Nein, auch das war es nicht, was er fühlte, was er dachte. Nicholas schockierte im Grunde nichts mehr, was Kevin von damals erzählte, und trotzdem war er fassungslos. War er das? Nein, auch das war es nicht, was ihm durch Mark und Bein ging. Monoton, fast schon flüsternd hatte Kevin diese schrecklichen Ereignisse aus seiner Vergangenheit preisgegeben, die ihm Tränen in die Augen trieben und eine unfassbare Wut auf dieses Arschloch verursachten. Auch wenn bei ihm gerade selbst das reinste Chaos herrschte, so wusste Nicholas eine Sache sehr genau. Eine Sache, die er fühlte, die er machen konnte. Er drehte sich zu dem Dänen, sah diesen mit Tränen in den Augen an, bevor er sich einfach über Kevin schob und sich auf dessen Schoß setzte und die Arme fest um den Älteren legte.
Minutenlang saßen sie so auf dem Steg. Beide weinten sie, hielten sich in den Armen. Kevin hatte aufgeben, sich gegen die Flut an Emotionen zu wehren, wenn er in der Nähe von Nicholas war. Der Kanadier hatte ihm mehrmals gezeigt und bewiesen, wie ernst ihm die Sache zwischen ihnen war. Und wie ernst es ihm war, dass er helfen konnte und wollte.
„Was ... was hältst du davon, wenn wir ein bisschen essen? Du ... du hast versprochen, mir die dänischen Köstlichkeiten zu erklären."
War es unbeholfen? Vielleicht. Aber Nicholas wollte und konnte jetzt nicht weiter mitanhören, was sein Freund hatte alles durchmachen müssen. Irgendwann war auch bei ihm ein Punkt erreicht, an dem er nicht mehr konnte. Sein Kopf musste erst wieder frei sein, um Kevin wieder aufmerksam und richtig zuhören zu können.
Vorsichtig nickte Kevin am Hals des Jüngeren. Tatsächlich war er Nicholas dankbar für diesen unkonventionellen Plan. Und er war erleichtert, dass der andere die Zügel in die Hand nahm. Er selbst sah sich gerade nicht in der Lage dazu, etwas zu machen, zu planen.
„Dann öffne mal den Korb und lass uns schauen, was wir mitbekommen haben."
Auch wenn er seinen Platz auf Kevin ungern hergab, kletterte Nicholas vom Schoß, setzte sich dem Dänen gegenüber und stellte den Korb in die Mitte, öffnete diesen und schaute neugierig hinein.
„Oh ja. Fängt gut an."
Lachend zog Kevin eine Tüte hervor. Eine weiße Tüte mit einer Möwe bedruckt.
„Was ist das?"
„Bonbon Mågeklatter."
„Was?"
„Möwenschiss zum Essen."
Kevin konnte kaum an sich halten, als er das Gesicht von Nicholas erblickte. Großartig Gedanken hatte sich der andere über dänische Spezialitäten wohl noch nicht gemacht.
„Wir sind Skandinavier. Und wie jeder aus Skandinavien lieben wir Dänen Lakritz in jeglicher Form. Diese Bonbons sind ein Klassiker. Jedes Kind kennt sie. Sie schmecken aber nicht nach Möwenschiss, sondern nach Karamell."
„Und das sind auch Bonbons?" Nicholas hatte die nächste Tüte hervorgezogen und hielt sie Kevin hin.
„Ja. Das sind Andemad. Bedeutet so viel wie Entengrütze. Aber das liegt nur an der grünlichen Farbe. Schmecken tun sie tatsächlich zuckrig-süß und leicht nach Lakritze."
Scheinbar hatten Mads' Schwiegereltern einen Vorrat an Süßigkeiten. Kevin erblickte noch Lossepladsen, Toms Kloak Slam, Spunk, die leckeren Fruchtgummistangen Pingvin Jordgubb und Pingvin Tivoli.
„Nicht euer Ernst? Auch ohne Dänisch zu können, sagt das Bild alles. Ihr seid kreativ, was das angeht. Kotzende Ratten und Larven?"
„Die Labre Larver von Haribo sind sehr lecker. Ich habe die aber auch schon länger nicht mehr gegessen."
„Haben wir auch was anderes als Fruchtgummistangen und Lakritz?"
Es war nicht so, dass Nicholas nicht auch gerne mal naschte. Aber in Dänemark schienen die wirklich heftig auf Lakritze zu stehen. Er selbst war noch etwas skeptisch, würde aber probieren.
„Nicholas, ich bin erschüttert. Hast du etwa unsere Butterbrote nicht gesehen? Das Nationalgericht Dänemarks? Unser legendäres Smørrebrød. Wow. Sie haben uns sogar Stjerneskud eingepackt. Das ist ein richtiger Klassiker."
Diese belegten Brote kannte er. Davon hatte er schon etwas gehört. Und Nicholas war sich sicher, dass er diese auch mögen würde. Aber das andere sagte ihm schon wieder nichts.
„Was ist das andere?"
„Übersetzt würde es so was wie Sternschnuppe bedeuteten. Es ist die üppigere Variante des Smørrebrød. Wenn man das richtig dänisch essen möchte, nimmt man Roggenbrot, belegt es mit paniertem Schollenfilet, garniert es dann mit Garnelen, Salat und Limfjord-Kaviar. Dazu trinkt man ein kaltes Bier oder Schnaps."
Beeindruckend nickte er. Kevin schien seine Herkunft noch sehr viel zu bedeuten, obwohl ihm hier viel Schmerz zugefügt wurde. Aber sein Geburtsland konnte ja nichts für das Schwein, an welches er geraten war. Es fiel Nicholas nur auf, wie Kevin richtig dabei aufging, über Spezialitäten seines Landes zu reden.
„Hm. Wenn du es richtig klebrig-süß magst und willst, dass deine Finger so richtig schön kleben, dann empfehle ich dir das Wienerbrød, welches ich auch im Korb erblickt habe. Sie haben sich echt Mühe gegeben. Das sind echt sehr leckere und typische dänische Leckereien."
War man in der Lage, gewisse Sachen auszublenden, wenn man einer anderen Person helfen wollte? Und sei es nur, um diese zum Lachen und Lächeln zu bringen? Nicholas kam nicht umher, das Gesicht einige Male zu verziehen, als er die Lakritze probierte. Nicht alle schmeckten ihm und Kevin schien jedes Mal amüsiert über seinen Gesichtsausdruck zu sein. Aber es gab auch Leckereien, die ihm sehr wohl schmeckten und die er unbedingt aus Dänemark mitnehmen musste, wenn sie wieder nach England flogen.
Sie verbrachten den halben Tag am See. Sie speisten lecker, tranken viel und ließen ihre Füße in dem kalten Wasser baumeln. Rundum ein toller Tag. Fast so, als wären sie ein Paar, als hätten sie solche Ausflüge schon des Öfteren gemacht.
„Kann ich dich etwas fragen?"
„Klar."
„Glaubst du, dass die anderen traurig wären, wenn ich aufhören würde?"
„Womit aufhören?"
„Mit der Formel 1."
Es knackte verdächtig in seinem Nacken, als er den Kopf zur Seite drehte und Kevin entsetzt anblickte. Das hatte er gerade nicht gesagt, oder?
„Als Mensch wird mich doch keiner vermissen. Du siehst das vielleicht anders, aber du bist auch nicht rational, weil du Gefühle für mich hast. Romain könnte vielleicht auch etwas traurig sein. Bei den anderen bin ich mir sicher, dass sie vielleicht heimlich eine Party feiern, wenn ich aufhöre."
„Du denkst schlechter über die Jungs, als sie es verdient haben. Und es ist auch kein Geheimnis, dass du nicht viel dazu beigetragen hast, irgendwelche festeren Freundschaften zu schließen. Ich nehme nicht an, dass sie direkt eine Party feiern werden, aber in Tränen wird sicher auch keiner ausbrechen, wenn du bekannt geben solltest, dass du nach der Saison aufhörst."
Wie kam es eigentlich, dass von einem auf den anderen Moment seine Laune tief in den Keller rutschte? Sie hatten ein paar schöne Stunden gehabt, hatten über Kevins Vergangenheit geredet, aber auch über belanglose Dinge. Und nun offenbarte ihm der Däne, dass er über das Aufhören nachte. Einfach so? Scheinbar hatte er sich in die Hoffnung verrannt, mit Kevin eine Beziehung aufbauen zu können. Wie sollte das funktionieren, wenn der Däne nicht mehr ein aktiver Teil seiner Rennwochenenden sein würde?
Schwerfällig stemmte sich Nicholas hoch, ballte die Hände zu festen Fäusten und schluckte hart. Er hatte kein Recht, sich bei Entscheidungen von Kevin einzumischen. Selbst wenn sie ein Paar wären, hätte er kein Recht darauf. Irgendwie hatten sein dummes Hirn und noch blöderes Herz geglaubt, dass sie auf dem Weg waren, eine Beziehung führen zu können. Kevin hatte sich ihm doch so geöffnet. Sie hatten Zärtlichkeiten ausgetauscht. Noch deutlicher konnte man eine Abfuhr nicht bekommen. Aber was versprach sich Kevin von den Zärtlichkeiten? Von den Küssen und Berührungen? Weil er zur Verfügung stand? Weil er blind und blöd vor Liebe zu dem Dänen war?
„Nicholas ..."
„Schon gut. Ich ... ich habe nicht damit gerechnet. Du hast nie ein Wort darüber verloren, dass dies deine letzte Saison sein könnte."
Traurig ließ er seinen Kopf hängen, entfernte sich stolpernd einige Schritte, nachdem Kevin ebenfalls aufgestanden war und auf ihn zukam.
„Nicholas, ich mache das, weil du mir die Stärke und den Mut dafür gegeben hast."
„Wie bitte? Ich bin schuld, dass du aufhören willst?"
„Nein! Nicholas, hör mir zu. Bitte."
Kevin erkannte, dass er es falsch angegangen war, wie er dem Jüngeren von seinen Überlegungen erzählt hatte. Scheinbar ging Nicholas davon aus, dass er die Schuld daran trug, dass er über das Aufhören mit der Formel 1 dachte.
„Intern wird schon lange bei Haas diskutiert, dass es mit Romain und mir nächste Saison wohl nicht mehr weitergeht. Aber das weißt du nicht von mir. Das ist aber auch nicht wichtig. Es hat mich nur in meiner Entscheidung bestärkt."
Vorsichtig näherte er sich dem Schwarzhaarigen, nahm dessen verkrampfte Fäuste in seine Hände und suchte den Blickkontakt.
„Worin bestärkt? Mich fallen zu lassen? Mich allein zulassen, nachdem ich alles getan habe, um dir zu helfen? Ich habe mir nur minimal Hoffnung gemacht, dass du meine Gefühle erwidern könntest, aber dass ich es nicht mal wert bin, als ein Freund von dir betitelt zu werden, tut gerade scheiße weh."
„Nicholas, ich will in eine Therapie."
„Du bist in Therapie!"
„Ja. Aber ich möchte in eine stationäre Therapie. Ich habe mich informiert. In England gibt es private Einrichtungen, die darauf ausgelegt sind, ihre Patienten sehr bedeckt zu halten."
„Ich ... ich versteh nicht."
Behutsam legte er eine Hand an die Wange des Jüngeren, strich unter dessen Auge die Tränen weg.
„Du hast mir geholfen, du hast mir die Augen geöffnet. Ich habe mich immer nur versteckt, hinter meiner Mauer, hinter meinen Aggressionen, meiner Wut und den Hass auf alles und jeden. Ich habe niemals damit gerechnet, dass es jemals wieder einen Mann geben könnte, dem ich mein Herz schenken würde. Ich war am Ende, Nicholas. Wirklich am Ende. Ich wollte keine Liebe, keine Zuneigung, Hilfe oder Fürsorge. Ich hatte Angst, wieder ausgenutzt und verletzt zu werden. Ich möchte mich meiner Vergangenheit noch mehr stellen, sie mehr aufarbeiten, damit wir eine Zukunft haben können."
„W-was? Wir?"
„Dank dir und Mads gehe ich schon zu einem Therapeuten. Dieser hat mich auch unterstützt, als ich ihn auf eine stationäre Behandlung angesprochen habe. Von ihm habe ich einige gute Adressen bekommen und mich auch schon informiert. Ich wäre einige Wochen, vielleicht auch Monate in dieser privaten Klinik. Gruppensitzungen werde ich nicht machen. Das ist nicht mein Ding. Die Therapeuten sind sehr gut geschult und darauf ausgelegt, sich auch bewusst um einen Patienten zu kümmern. Verstehst du, Nicky? Ich kann mich nicht auf das Fahren fonzentrieren, nicht auf meine Heilung und auf dich. Das schaffe ich nicht gleichzeitig. Ich möchte diesen Schritt in erster Linie für mich machen. Wobei ich meinem Therapeuten sagte, dass ich es für dich mache. Deine Liebe zu mir hat alles ins Rollen gebracht. Aber er sagte, so schön diese Geste auch sei, es für dich zu tun, so wäre es viel wichtiger, es für mich zu tun."
Sprachlos konnte er Kevin nur anschauen. In seinem Kopf kreisten die Gedanken wild umher, aber keinen bekam er zu fassen. Es war ihm nicht möglich, einen sinnvollen Satz zu formulieren. Das Einzige, was funktionierte, waren die Tränendrüsen. Schniefend zog er die Nase hoch, als mehr und mehr Tränen über sein Gesicht liefen und er krampfhaft versuchte, nicht zu schluchzen.
„Es tut mir leid."
Achtsam zog er den Jüngeren in die Arme, streichelte über den bebenden Rücken und wiegte Nichols und sich etwas auf und ab. Nicholas war so lange stark für ihn gewesen, hatte ihn gehalten und unterstützt, hatte ihm zugehört und gut zugeredet. Es war Zeit, dass er auch mal für den Kanadier eine Schulter zum Anlehnen war, jemand, an dem sich Nicholas festhalten konnte.
„Ich möchte eine Zukunft mit dir, Nicholas. Ich möchte wieder aufrichtig lieben können. Aber dafür muss ich mich meiner Vergangenheit noch schmerzlicher stellen."
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Ob er Nicholas wecken sollte? In einer halben Stunde wurden sie zum gemeinsamen Kochen erwartet. Herdis und Marten hatten sie beide eingeladen, für ihren letzten Abend etwas richtig Dänisches zuzubereiten.
Nachdem sie von ihrem Ausflug zurückgekommen waren, hatte sich der Kanadier ziemlich schnell zurückgezogen. Sie hatten schon auf dem Rückweg nicht mehr viel gesprochen und auch in der Pension hatte sich der Jüngere gleich in sein Zimmer zurückgezogen.
Hatte er Nicholas mit seinem Plan so sehr vor den Kopf gestoßen? Zwar hatte er mit den wenigen Worten, die sie noch miteinander gewechselt hatten, immer wieder gesagt, dass er ihn unterstützen würde und dass er diesen Schritt wirklich mutig und stark fand. Und trotzdem wurde Kevin das Gefühl nicht los, dass Nicholas sehr mit diesem Einschnitt zu kämpfen hatte. Weil sie sich nächste Jahr vielleicht nicht sehen würden? Die Chancen standen nicht sehr gut. Nicholas würde um die Welt reisen und er selbst würde eine lange Zeit in der Privatklinik verbringen. Sicherlich durfte er Besuch empfangen und er konnte und durfte auch jeder Zeit die Klinik verlassen, um etwas zu unternehmen.
Unsicher, was Nicholas nun wirklich dachte und wie er mit diesem darüber reden sollte, stand er vor dessen Tür und wusste nicht, ob er klopfen sollte oder nicht. Es war ihr letzter Abend. Morgen würde Mads sie wieder abholen und zum Flughafen bringen. Immerhin gab es noch ein paar Rennen, die sie hinter sich bringen mussten.
„Hm."
War da nicht gerade ein Geräusch gewesen?
Ganz dicht stellte er sich vor die Tür und zuckte leicht, als er das Geräusch erneut vernahm. Es kam aus dem Zimmer des Jüngeren.
„Nicholas? Alles in Ordnung?"
Besorgt klopfte er an, bekam aber keine Antwort.
„Nicholas?"
Erneutes Klopfen. Keine Antwort. Aber das Geräusch wurde lauter und er selbst unruhiger. Ungehindert der Tatsache, dass es sich um Nicholas' Privatsphäre handelte, drückte er die Klinke herunter und atmete erleichtert auf. Nicht abgeschlossen.
„Nicky?"
Vorsichtig trat er in das Zimmer, schloss die Tür und machte Sekunden später die Quelle des Geräusches aus. Der Kanadier lag versteckt unter seiner Bettdecke und weinte herzzerreißend.
„Oh."
Es überforderte Kevin, den anderen so zu sehen. Schon am Steg war er überfordert gewesen, konnte nicht so richtig mit solchen Gefühlsausbrüchen umgehen, aber auch da hatte er sich schon einfach von seinem Bauchgefühl leiten lassen. Und genau dies tat er jetzt auch. Schnell ging er zum Bett, setzte sich zu Nicholas und befreite diesen von der Decke.
„Hm. Nicht weinen. Ich weiß nicht damit umzugehen."
Hilflos strich er durch die schwarzen Haare, versuchte, aufmunternd zu lächeln, was ihm aber nicht so glücken wollte. Nicholas liefen die Tränen in Strömen über das Gesicht und Kevin wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als sich Platz zu verschaffen und sich neben Nicholas zu legen.
„Ich ... weiß nicht ... wie ich das ohne dich schaffen soll ..."
„Ich bin doch nicht aus der Welt."
„Doch ... aus meiner. Du ... du bist nicht bei mir ... Nicht in meiner Nähe ..."
„Sssh. Wir schaffen das. Nicholas, du hast so sehr um mich gekämpft, jetzt ist es an mir, um unsere Zukunft zu kämpfen. Wir bekommen das hin. Versprochen."
Schluchzend vergrub Nicholas sein Gesicht an der Brust des Blonden, krallte sich in das Hemd von Kevin und versuchte wirklich, an die Worte zu glauben, wollte es so sehr.
Wenn sie eine gemeinsame Zukunft haben wollten, dann musste er diesen Schritt gehen. Es würde nicht leicht werden und Nicholas und er mussten darüber noch ausgiebig reden, aber die Zeit des Aufgebens und Versteckens war vorbei. Sie würden eine Zukunft haben. Als Paar.
TBC ...
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