5
Ein leichter Wind wehte, als Cynthia sich zum vereinbarten Treffpunkt - einen undefinierbaren Steinbrunnen im Dorfzentrum - aufmachte. Cynthia zog sich ihre Mütze tiefer ins Gesicht und begutachtete noch einmal ihr Gesicht in der Selfiekamera um mit Entsetzen festzustellen, dass sich ein Pickel neben ihrer Nase gebildet hatte. Sie verfluchte die Pubertät. Warum gab es sie überhaupt?
Auch wenn sie es niemals zugeben würde, war ihr ihr Aussehen sehr wichtig. Wenn auch nur eine Haarsträhne nicht richtig saß oder die Farben ihrer Klamotten nicht richtig harmonierten, wollte Cynthia sich am liebsten in ihrem Zimmer verkriechen und keine Menschenseele antreffen. Kurz überlegte sie umzudrehen, aber ob sie es wollte oder nicht, der einzige Weg sich einzuleben war sich mit anderen zu vernetzten.
Ihr Blick wanderte weiter zu der alten Rathausuhr, deren massiven vergoldeten Zeiger auf drei Uhr stehen geblieben waren. Doch ihre nach ihrem Handy, auf das sie im Sekundentakt schaute, war es mittlerweile 16:30 Uhr. Linda hätte eigentlich schon vor zehn Minuten da sein sollen, aber Cynthia hatte schon in der Schule festgestellt, dass Pünktlichkeit hier keine Priorität darstellte und man die akademische Viertelstunde sehr genau nahm.
Frustriert spielte sie an ihrem silbernen Ring rum, der an ihrem Zeigefinger steckte. Das Silber hatte bereits seinen Glanz verloren und die eingravierte geschwungene Schrift war schon dann nicht mehr lesbar gewesen, als Cynthia den Ring in einem der etlichen Kartons gefunden hatte, die auf dem Dachboden ihrer verstorbenen Großeltern auf die Verwesung warteten. Früher, als sie nicht einschlafen konnte, hatte Cynthia häufig darüber nachgedacht, wessen Geschichte der Ring wohl mit sich trug. Mittlerweile bereute sie es zutiefst, nicht nach den Leben ihrer Großeltern gefragt zu haben. Wie die Welt wohl damals aussah? Ob sie die gleichen Probleme hatten, wie Cynthia sie jetzt hatte?
Cynthia fing immer mehr an, über vergangene Leben zu grübeln, dass sie nicht bemerkte, wie Linda locker auf sie zugerannt kam. „Ist dir nicht ein bisschen warm so", begrüßte sie Cynthia, deren Outfit bestehend aus einem aschfarbigen Hoodie und einer Lederjacke darüber eher herbstlich, als spätsommerlich wirkte. Jedoch war es auf dem Land um einiges kühler, als in einer pulsierenden Großstadt, weshalb Cynthia den Kopf schüttelte.
„Nun, ich hatte noch die das Glück, Fremdenführerin zu spielen, also sorry, wenn ich dir irgendeinen Unsinn erzähle." Linda warf einen Blick auf einen zerknitterten Zettel, den Cynthia bis eben nicht bemerkt hatte.
„Du hast dir nicht wirklich Notizen deswegen gemacht?" Leicht gereizt starrte Cynthia nun auch auf die Liste in Lindas Hand, die, soweit sie das erahnen konnte, ziemlich vollgeschrieben war. Das Letzte, was Cynthia wollte, war dass sich jemand zu viel Aufwand für sich machte. Aber Linda winkte nur ab. „Ach woaßt du, ich brauche einfach Listen, um nicht komplett im Chaos zu versinken."
„Na dann." Verunsichert steckte Cynthia ihre Hände in die viel zu kleinen Taschen ihrer Lederjacke, während sie ihren Blick auf das unebene Pflasterstein wendete. In den Rillen steckten vereinzelte Zigarettenstummel, wodurch Cynthia sich direkt an Frankfurt erinnert fühlte.
„Die Geschichte vom einbeinigen Hund kennst du bestimmt schon, aber sagt dir die Brunnenfrau was?"
„Wieviele Sagen gibt es über euer Dorf?", stellte Cynthia eine Gegenfrage, deren Antwort sie eigentlich gar nicht wissen wollte.
„Drei", sagte Linda wie aus der Pistole geschossen, „die vom einbeinigen Hund, die von der Brunnenfrau und der Fei im Moos. Letztere hat aber soweit ich weiß Purple erfunden und ist keine offizielle Sage."
„Wurden nicht alle mal von irgendjemandem erfunden?" Besonders nachts, wenn alles dunkel war und ihr die Welt wie ein Paralleluniversum vorkam, war dies die einzige Hoffnung, an die sich Cynthia klammerte, sobald die ersten Schatten aus der Schranktür hervortraten.
„Wahrscheinlich", stimmte Linda ihr zu, „aber ich denke nicht, dass sie alle nur auf Lügen basiert sind. Etwas wahres wird da schon dran sein. Die Frau aus der Geschichte von einbeinigen Hund wurde auf dem Friedhof vergraben, also gab es sie ganz sicher. Willst du das Grab sehen?"
„Nein, danke. Das muss nicht unbedingt sein. Tote sind nicht so mein Ding." Verlegen lächelte Cynthia. Sie wollte nicht so wirken, als würden ihr diese alten Schauermärchen Angst einjagen. „Gibt es hier auch irgendetwas, das nicht mit toten Menschen zutun hat?"
„Jap", Linda warf einen kurzen Blick auf ihre Liste, die sie noch immer in der Hand hielt, „das wäre Punkt sieben auf meiner Liste gewesen. Es gibt hier einen ganz tollen Club in einer alten Scheune. Die Musik lässt zwar etwas zu wünschen übrig, aber ansonsten kann man dort echt gut feiern gehen. Ich weiß nicht, gehts du gerne in Clubs?"
„Ja", antwortete Cynthia schlicht und schwelgte für einen kurzen Moment in Nostalgie. Sie war nicht oft in Clubs, aber trotzdem liebte sie es inmitten von gut gelaunten, betrunkenen Menschen die Musik auf sich wirken zu lassen und einfach nur zu tanzen. Alles rauslassen ohne verurteilt zu werden.
„Das ist gut, denn wir sind dort ziemlich häufig." Verunsichert schaute Cynthia Linda nun doch in die Augen, nicht sicher, ob das eine indirekte Einladung war. „Was anderes gibt es hier auch nicht, außer vielleicht die Pferdekutsche." Kurz dachte Cynthia an ihren ersten Abend zurück. In der Pferdekutsche hatte alles begonnen, vielleicht würde dort auch alles enden?
Hey,
vielleicht habt ihr es schon bemerkt, dass hier und das bayerische Ausdrücke zu Wort kommen.
Solltet ihr ein Wort nicht verstehen, scheut euch nicht, mich nach der Bedeutung zu fragen. Ich bin eh am überlegen, ob ich nicht gleich ein ganzes Lexikon mit allen Ausdrücken erstellen soll, die vorkommen.
-g
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top