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Mit einem schrillen piepsen verkündete Cynthias Handywecker den neuen Tag.
„Guten Morgen, Süße", sagte Molly sanft und betrat den Raum, der wahrscheinlich mal das Wohnzimmer war. Im Moment sah er aber mehr wie die Höhle von einem Heroinabhängigen aus: Kartons stapelten sich bis zur Decke, Matratzen auf den versifften  Parkettboden dienten als Betten und in der Ecke lagen volle Müllsäcke. Und trotzdem hatte Cynthia gut schlafen können.

„Guten Morgen", brummte Cynthia zurück und rieb sich Schlaf aus den Augen. Sie war unendlich dankbar darüber, dass Molly gestern Abend noch angereist war und zumindest den Großteil an zerbrochen Aschenbecher, halb zerotteten Insekten und sonstigen Müll beseitigen konnte.

„Ich habe dir Kaffee gekocht. Ganz so, wie du ihn magst. Mit keiner Milch, aber mit ganz viel Zucker." Mit einem Lächeln auf den Lippen stellte Molly neben Cynthia ein kleines Silbertablett ab. „Danke Molly, du bist die Beste."

„Ich weiß. Aber du solltest schauen, dass du zügig aus den Federn kommst. Du willst doch nicht an deinem ersten Schultag zu spät kommen?" Molly schaute Cynthia über ihre Brille hinweg streng an, wodurch sie ihr ein schmunzeln entlockte. Molly war alles, aber ganz sicher kein strenger Mensch. „Danke. Für alles."

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Ein leichtes Gefühl der Übelkeit überkam Cynthia, als sie die hölzerne Tür ihres neuen Klassenzimmers öffnete. Es war kaum etwas los. Nur ein paar wenige saßen in Gruppen auf Stühlen oder Tischen und unterhielten sich. Niemand blickte auf, als Cynthia den Raum betrat. Sie wusste nicht, ob sie darüber erleichtert sein sollte oder nicht. Aber das würde sich sicherlich noch herausstellen.

In ihrer alten Schule hatte sich auch niemand um die Neuen gekümmert. Manchmal bemerkte man nicht einmal, wenn jemand Neues in die Klasse kam. Es gab schlichtweg keine Klassengemeinschaft.

Mit gesenktem Blick ging Cynthia zur hintersten Reihe und entscheid dich für den Platz am Fenster. Falls sie keine Freunde finden würde, hätte sie wenigstens eine schöne Aussicht auf einen kleinen Tümpel, der anscheinend das Heim einiger Enten war. Im Gegensatz zu Motten und Hunden konnte Cynthia mit Enten sehr gut sympathisieren.

„Hey."

Erschrocken wandte Cynthia den Blick von den Enten ab und schaute direkt in zwei hellblaue Augen, die zu dem Mädchen mit den lilanen Haaren aus der Toilette gehörten. An ihrer Hose war ein Walkman befestigt und vielleicht hatte Cynthias Freund recht gehabt, als er meinte, dass dieses Kaff im Mittelalter steckengeblieben war.

Auch diesmal lächelte sie und Cynthia hatte den Drang zurückzulächeln. Das Mädchen wirkte sympathisch.

„Könnte ich mich vielleicht auf deinen Platz setzten? Mein Horoskop sagt, dass ich mich links halten sollte. Und daran sollte ich mich wohl halten."

„Ähm klar", erwiderte Cynthia, als sie etwas überfordert aufstand und sich auf den Platz daneben setzte. Sie selbst hatte nicht viel für Astrologie übrig und schenkte lieber der Wissenschaft ihren Glauben, anstatt irgendwelchen Klatschzeitungen.

„Ich bin übrigens Lia, aber irgendwie nennen mich alle Purple."

„Warum wohl?", sagte Cynthia ironisch mit einem Blick auf Lias gefärbten Haare und eher zu sich selbst, als zu Purple. „Ich weiß auch nicht." Völlig gleichgültig, aber mit grüblerischer Miene zuckte Purple mit den Schultern und schaute gedankenverloren aus den Fenster.

Nicht nur die älteren Menschen, sondern auch Pruple wirkten merkwürdig auf Cynthia. Sie waren so anders. Anders, als die Menschen, die sie aus ihrer alten Heimat kannte. Sie konnte nicht genau sagen, was es war, doch aus irgendeinen unerfindlichen Grund gefiel Cynthia die Art der Menschen hier. Es war etwas frisches, ungewohntes und vielleicht brauchte sie genau das.

„Oh, Purple, von Ironie hast du auch nie was gehört, oder?" Stürmisch umarmte ein anderes Mädchen Purple. Cynthia schaute gelangweilt zwischen den beiden hin und her und wenn sie sich nicht irrte, war das das andere Mädchen aus der Toilette. Neben Purple wirkte die Andere mit ihrem Blümchenkleid und einer braven Strickjacke, wie Cynthia sie in der ersten Klasse getragen hatte, fast schon unscheinbar.

„Soll ich mich woanders hinsetzte?", fragte Cynthia unsicher und stand erneut auf. Die beiden waren bestimmt beste Freunde und wollten nebeneinander sitzen.

Die Andere winkte lächelnd ab, während sie einen dritten Tisch heranschob. „Problem gelöst." Zufrieden stemmte sie die Hände in die Hüften, bevor sie noch einen Stuhl holte, auf den sie sich prompt fallen ließ.

„Du bist ein Genie, Linda!", quietschte Purple begeistert, als hätte sie gerade ein Heilmittel gegen Krebs gefunden und nicht einfach nur die Sitzordnung verändert.

„Ich weiß, ich weiß." Im Gegensatz zu Purples aufgekratzter Stimme war die von Linda ganz ruhig und tief. Könnten Elefanten sprechen, hätten sie eindeutige Lindas Stimme.

„Sollen wir dir später die Schule zeigen?", wandte sich Linda wieder an Cynthia, die daraufhin nickte. Vielleicht würde sie dadurch endlich Anschluss finden.

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