Kapitel 50
Ich unterdrücke ein Stöhnen, als das Kühlpack, dass ich mir an den Kiefer drücke, seine Wirkung entfaltet und den Schmerz betäubt. Verdammt, ich werde mich nie wieder prügeln.
Aber zugegebener Maßen war der pochendem Schmerz bisher eine sehr gute Ablenkung von dem emotionalen Aufruher gewesen, der mich seitdem ich in Grays Auto eingestiegen bin, kaum ruhig sitzen lässt. Auch jetzt wäre ich am liebsten in der Küche auf und ab getigert, aber stattdessen belasse ich es dabei die Augen wieder aufzuschlagen und Grays Blick zu entgegen, den ich schon die ganze Zeit auf mir liegen spüre. Selbst während der Fahrt hatte ich das Gefühl, als hätte er mich die ganze Zeit im Auge behalten, als hätte er Angst ich würde mich im nächsten Moment in Luft auflösen. Vielleicht würde ich das auch, wenn ich es könnte. Aber das wäre feige und das wollte ich ja nicht länger mehr sein. Also bin ich einfach dankbar, dass das Kühlakku mein halbes Gesicht verdeckt, während ich unruhig das Gewicht verlagere.
"Ähm, danke. Also für das Kühlpack."
"Kein Problem."
Gray lächelt wie üblich und würde er sich nicht zum fünften Mal seitdem wir das Haus betreten haben mit der Hand durch die Haare fahren, hätte ich ihm nicht angemerkt, dass ihn das Ganze ebenfalls nervös macht. Ist das immer so, wenn man sich einmal nahe war... Und es mit einmal nicht mehr ist?
Unangenehm berührt senke ich den Kopf und versuche zu ignorieren, wie sehr mich der Gedanke betrübt.
"Also, was hat dich dazu veranlasst so auf das Mädchen loszugehen?"
Der Schalk ist Grays Stimme anzuhören, aber allein der Gedanke an Carly lässt mich wieder die Fäuste ballen. Wenn es um sie geht bin ich zu keinen Scherzen aufgelegt. Und ich bin mir sicher, dass man mir das auch trotz Kühlakku im Gesicht ansehen kann, als ich Gray wütend anblitze.
"Falls es dir entgangen ist hat diese Verrückte mich als erstes geschlagen."
Als müsste ich meinen Punkt nochmal verdeutlichen entferne ich kurz die angenehme Kälte von meinem Kiefer und zeige auf die deutliche Schwellung und meine aufgeplatzte Lippe, die darunter zum Vorschein kommt. Der Anblick lässt Gray mitfühlend zusammenzucken und als ich seinen zerknirschten Gesichtsausdruck sehe, tut es mir schon wieder leid so bissig gewesen zu sein.
"Sorry, so habe ich das nicht gemeint."
In einer Geste, die ich glaube ich noch nie an Gray gesehen habe, kratzt er sich verlegen im Nacken, und macht ein Gesicht, dass so gar nicht nach dem immer grinsenden Idioten aussieht, in den ich mich verliebt habe. Und weil ich ja nicht widersprüchlich genug sein kann, versetzt mir das ein Stich ins Herzen, während ich ihn am liebsten wieder zum Lächeln gebracht hätte. Aber ich weiß nicht wie, also stehe ich ihm nur steif gegenüber und warte ab.
"Ich meinte eher wer dieses Mädchen ist, damit sie dich so...", er beendet den Satz mit einer hilflosen Geste, aber ich weiß auch so was er meint. Damit sie mich so zum Ausrasten bringen kann.
Ja, ich muss zugeben, dass es mich selbst auch jetzt noch im Nachhinein schockiert, wie heftig meine Reaktion gewesen ist. Aber irgendwie fühlt es sich auch immer noch gut an. Ich fühle mich leichter, als hätte ich etwas rausgelassen, von dem ich bisher nicht Mal gewusst habe, dass es mich runterzieht. Und ich weiß, dass es sich dabei noch um viel Altbalast von früher handelte.
"Ihr Name ist Carly."
Für einen Moment erwarte ich, dass Gray allein der Name aus der Haut fahren lässt, wie es bei mir war. Doch als er nur nachdenklich die Augenbrauen zusammenzieht wird mir klar, dass er die ganze Geschichte ja gar nicht kennt. Und vor allem nicht weiß, welche Rolle sie darin spielt, dass es sich zwischen uns beiden anfühlt, als läge nicht ein Meter, sondern ein Kilometer zwischen uns. Das lässt mich zornig mit den Zähnen knirschen und irgendwie wünschte ich mir, ich hätte ihr einen richtig guten Schlag auf die Nase verpasst. Sie hat es geschafft mein Leben zu zerstören, gerade als endlich einmal alles gut zu werden schien. Und die Konfrontation mit ihr scheint mich endgültig aus meiner Trauer herausgerissen zu haben, sodass jetzt nur noch Wut darüber vorhanden ist. Vielleicht bin ich deswegen so direkt als ich sage: "Sie hat das Bild von Alexis und mir hochgeladen und ist wahrscheinlich auch noch für einen Großteil der gehässigen Kommentare verantwortlich."
Ich schnaube, als mir der Gedanke kommt. Bestimmt hat sie all ihre Freundinnen dazuangestiftet Alexis durch den Dreck zu ziehen.
Dass ich darauf nicht früher gekommen bin, lenkt mich für einen Moment genug ab, um zu verpassen wie Gray zunächst ungläubig die Augen aufreißt, bevor er wieder für einen Moment in Gedanken versunken zu sein scheint und sich dann eine Mischung aus Verstehen und Wut auf sein Gesicht schleicht.
"Ach du scheiße."
Dieses Mal sind es beide Hände, mit denen er sich durch die Haare fährt, und die Fassungslosigkeit, die in dieser Geste liegt, lässt mich aufmerken.
"Was?"
Neugierig beobachte ich jede von Grays Bewegungen. Wie er zwei Schritte nach hinten geht, um sich an die Kücheninsel zu lehnen - was meine Muskeln sich in dem Wunsch ihm nachzugehen anspannen lässt - und dann mit einem freudlosen Auflachen den Kopf schüttelt.
"Verdammt, und ich habe mir noch gedacht, dass mit dem Mädel irgendwas nicht stimmt."
So langsam nervös von seinen unklaren Worten trete ich nun doch einen Schritt auf ihn zu - zumindest schiebe ich es darauf - und würde am liebsten die Arme verschränken, wenn ich nicht noch immer das Kühlpack halten müsste.
"Was meinst du?"
Als Grays Blick meinem begegnet brennt er sich tief in mich ein, als wolle er ganz sicher gehen, dass ich jedes seiner nächsten Worte höre und verstehe.
"Rick hat letzte Woche ein Mädchen mit nach Hause gebracht. Sie war irgendwie... etwas komisch, aber an dem Tag ging eh alles drunter und drüber und ich habe mir nicht weiter Gedanken darüber gemacht. Aber ihr Name war Carly und sie war ein paar Minuten mit meinem Handy allein, weil Lee meine Hilfe gebraucht hat."
Ich bin sofort auf 180. Vor allem bei dem Gedanken, wie Carly überhaupt in die Nähe von Gray oder seinem Handy kommen konnte. Das ist vielleicht die falsche Frage, die ich mir stelle, aber einmal in meinen Kopf gekommen, schaffe ich sie nicht mehr loszuwerden, während ich in einer Mischung aus Frust und Eifersucht meine freie Hand immer wieder balle und öffne. Auch das ironische Schnauben kann ich mir nicht verkneifen, als die Worte mir aus dem Mund purzeln, ohne dass ich irgendeine Kontrolle darüber hätte.
"Aha, und wie kommt die Freundin von Rick an dein Handy?"
Mein Tonfall lässt Gray aus seiner eigenen Fassungslosigkeit fahren und mich neugierig mustern, bevor einer seiner Mundwinkel nach oben zuckt. Das trägt nicht gerade dazu bei mein Gemüt zu beruhigen, sodass sich mein Blick nur noch mehr verfinstert.
"Spricht da etwa wieder die Eifersucht aus dir, Bunny?"
Mit durch meine Reaktion neu gewonnener Selbstsicherheit kommt Gray mit einem schiefen Grinsen auf mich zu und legt provokant seine Hände auf meine Hüften. Der plötzliche Kontakt lässt mich erschaudern und ich verfluche meinen Körper dafür, ihm damit genau die Bestätigung zu geben, die er haben wollte. Sein Kopf senkt sich zu mir herab bis seine Augen mein gesamtes Sichtfeld einnehmen und ich gar nicht mehr die Möglichkeit habe wegzuschauen.
"Keine Sorge, ich saß nur hier in der Küche und die beiden sind reingekommen, um sich ebenfalls was zu Essen zu suchen. Ich habe nicht das Bedürfnis jemand anderen zu sehen. Ich will nur dich."
Die Worte lassen mein Herz aufgeregt hüpfen. Aber gleichzeitig kommt auch wieder die Traurigkeit der letzten Tage in mir hoch. Oder eigentlich... Nein, es ist nicht die gleiche tiefe Verzweiflung, die mich die letzten Tage ans Bett gefesselt hat. Anscheinend hat meine gewalttätige Ader tatsächlich etwas in mir gelöst. Denn anstatt nur den Verlust zu fühlen bekomme ich auch endlich zu fassen, was dahinter liegt. Und das lässt mich entschlossen einen Schritt zurücktreten, bis seine Hände von meinen Hüften rutschen und ich nicht länger von ihm und seiner Nähe irritiert bin. Ich schüttle den Kopf und lasse nun endgültig die Hand mit dem Kühlakku fallen, um stattdessen die Arme um mich zu schwingen.
"Hör auf so etwas zu sagen. Dazu hast du kein Recht."
Meine Stimme ist leise, aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie den ganzen Raum einnimmt. Gray erreichen sie auf jeden Fall, denn er runzelt die Stirn und scheint mit einem Mal wieder gar nicht zu Scherzen aufgelegt zu sein.
"Row, das Mädchen am Mittwoch war wirklich nur zum Lernen hier. Mein Test in Architekturgeschichte ist dermaßen schief gelaufen, dass mein Trainer darauf bestanden hat, dass ich mir jemanden suche, der mir hilft. Und sie ist die Beste und hat sich dazu bereit erklärt."
Ich weiß, dass er mich mit den Worten eigentlich beruhigen will, aber ganz im Gegensatz versetzen sie mir ein Stich ins Herz. Sie ist die Beste? Aber ich werde mich nicht von dieser dämlichen Eifersucht leiten lassen. Nicht, wenn es eigentlich um etwas viel entscheidenderes geht: Vertrauen.
"Mir ist absolut egal wer dieses Mädchen ist. Mir ist auch egal, wen du mit heim nimmst."
Bei der Lüge muss ich schwer schlucken, aber ich bin stolz auf mich, dass ich keine Miene verziehe.
"Aber du hast mich verletzt. Du hast mein Vertrauen genommen und es im nächsten Moment unachtsam preisgegeben, ob nun weil Lee Hilfe brauchte oder nicht interessiert mich nicht. Du hättest... Aufpassen müssen."
Ich fühle mich schlecht, weil in diesem Satz so viel mehr mitschwingt, was ich von ihm erwartet habe und von dem ich selbst bisher gar nicht gewusst habe. Aber Gray war der erste Mensch, an den ich mich wirklich anlehnen konnte. Jemanden dem ich Kontrolle und Macht über mich gelassen habe, nachdem ich Jahre lang genau das bei jeder Person vermieden habe. Und er ist unter dem Gewicht umgefallen. Die Erkenntnis treibt mir Tränen in die Augen, während all die Vorwürfe, die ich ihm unbewusst gemacht habe, sich als Worte auf meiner Zunge manifestierten.
"Mir ging es schlecht, bevor ich dich kennen gelernt habe. Das war mir damals zwar nicht klar, aber du hast mir gezeigt was in meinem Leben gefehlt hat. Aber nach dir geht es mir noch viel schlechter. Du hast ein riesiges Loch in mir hinterlassen."
Es ist grausam Gray ins Gesicht zu schauen, während ich diese Dinge ausspreche. Er sieht so schutzlos und verletzlich aus, wie er so wie schon immer alles offen zeigt und mich seine Gefühle sehen lässt. Die Schuld, die er selbst empfindet, die Angst, dass alles kaputt ist, und die Liebe, die er mir bereits gestanden hat und die mir doch erst jetzt richtig klar wird.
Aber mir ist klar, dass ich trotzdem weiter reden muss. Denn sonst wird er der neue schwere Klumpen in meiner Brust, der mich runterzieht.
"Vielleicht ist es unfair von mir, dass ich das von dir erwartet habe, aber ich habe gedacht in dir meinen sicheren Hafen gefunden zu haben. Die Person, der ich alles anvertrauen kann, bei der ich alle Schutzmauern fallen lassen kann, und die für mich stark ist, wenn ich es nicht bin. Und kaum habe ich das gemacht, hatte auf einmal die ganze Welt die Möglichkeit meine Schwächen zu sehen."
Als wäre ich nackt, schlinge ich die Arme noch etwas enger um mich und versuche das Schaudern zu unterdrücken, dass mich überkommen will. Durch all den Schmerz, den Alexis wegen dem Ganzen durchmachen musste, ist mir gar nicht aufgefallen, wie sehr es mich tatsächlich auch selbst belastet hat, meine Vergangenheit plötzlich vor allen präsentiert gesehen zu haben. Es ist zwar nicht so, dass aus dem Bild jeder meine Lebensgeschichte schließen kann, aber ich weiß was ich selbst damit assoziiere und es fühlt sich einfach so an, als läge auch all das dem Blick von jedermananders preis. Als ich weiterspreche ist mein Blick vielleicht noch auf Gray gerichtet, aber ihn wirklich sehen tue ich nicht mehr.
"Weißt du wie schlecht ich mich die letzten Tage gefühlt habe? Ich war zu nichts in der Lage. Nicht lernen, nicht essen, nicht schlafen. Ich habe mich einfach... Leer gefühlt. Und so grausam das klingt, das hatte mehr mit dir als mit Alexis zu tun und das obwohl ich sie schon mein ganzes Leben lang kenne."
Blinzelnd fokussiere ich wieder auf Gray, dem der gleiche Schmerz ins Gesicht geschrieben steht, der in meiner Brust wütet.
"Ich liebe dich."
Die Worte rauben mir jede Kraft, aber ich muss sie gesagt haben, egal was passieren mag.
"Ich liebe dich, aber ich weiß nicht, wie ich dir wieder vertrauen soll."
Verzweifelt schüttle ich den Kopf und hoffe, dass er in meinen Augen sieht wie viel tiefer das Ganze noch reicht.
"Ich stehe hier und fühle wie das Loch in meiner Brust sich wieder füllt. Aber da fehlt etwas. Ein kleiner Teil, aber er reicht, dass ich mir nicht sicher bin, wie..."
Hilflos zucke ich mit den Schultern, um Worte verlegen die passen um zu beschreiben was ich empfinde, wenn ich Gray ins Gesicht sehe. Wie zerrissen ich bin. Aber Gray scheint es selbst zu spüren, das sehe ich daran wie hilflos er wirkt, als er den Abstand zwischen uns überbrückt und mein Gesicht so sanft wie möglich in die Hände nimmt, um mir ja nicht weh zu tun.
"Ich weiß und ich verstehe es. Aber Row ich... Ich, Gott, ich weiß nicht mehr wie ich ohne dich leben kann. Du warst zu nichts in der Lage? Ich habe das Gefühl mein Leben wie ein Zombie zu bestreiten. Selbst auf dem Eis fühle ich mich nicht mehr vollständig. Mein Kopf ist ständig bei dir und mein Herz hast du schon lange. Ich weiß, ich habe etwas kaputt gemacht. Und alles was ich zu meiner Verteidigung sagen kann ist, dass es keine Absicht war. Ich wusste weder wer Carly war, noch was sie anstellen würde, sonst hätte ich sie höchst persönlich in hohen Bogen hier rausgeworfen. Aber ich habe das Bild abfotografiert ohne dich zu fragen und das ist unverzeihlich. Vor allem da ich weiß, wie wichtig Vertrauen für dich ist. Das kann ich nicht ungeschehen machen. Das einzige was ich tun kann ist dich zu bitten, mir eine zweite Chance zu geben. Lass mich für dich stark sein, lass mich durch deine Mauern und vertraue dich mir an. Ich würde alles für dich tun, ich möchte alles für dich tun. Also bitte gib mir die Chance meinen Fehler wieder gut zu machen."
Unsicher was ich darauf erwidern soll starren wir uns eine Zeit lang einfach nur an. Ich suche in seinen Augen nach einem Funken Zweifel, nach etwas, dass mir zeigt, dass er diese Worte nicht zu hundertprozent ernst meint. Doch alles was ich finde ist Offenheit und feste Entschlossenheit, mich nicht gehen zu lassen. Und Mal wieder kann ich es nicht fassen, dass jemand wie Gray um mich kämpfen will. Müsste es nicht eigentlich andersherum sein? Er ist der Beliebte und ich das Problemkind am Rande des sozialen Gemeinschaft.
Aber Gray hat das noch nie so gesehen. Er fühlt sich nicht als etwas besseres, Eishockeygott hin oder her. Das was ich zu Anfang fälschlicher Weise als Arroganz abgestempelt hatte, ist seine natürliche Selbstsicherheit, mit der er so gut wie immer durch die Welt zu laufen scheint. Doch genau in diesem Moment sehe ich davon nichts in seinen Augen. Ganz im Gegenteil, er wirkt so als würde sein ganzes Schicksal davon abhängen, was ich als nächstes tue. Er ist der Gray, der neben mir in der Bibliothek sitzt und versucht sich zu konzentrieren. Er ist nicht perfekt. Er hat Fehler und er macht Fehler, genauso wie Alexis und ich. Und genauso wie Klein-Alexis und Klein-Row von vor zehn Jahren hat er eine Chance verdient. Denn jeder hat Fehler, aber deswegen ist man nicht weniger Wert.
Zögerlich nicke ich, doch schaffe es nicht ein Wort herauszubekommen, während mein Herz hoffnungsvoll schlägt.
Gray ist die Erleichterung anzusehen, als er mit einem langen zittrigen Seufzen die Luft ausstößt und meinen Fingern sanft das Kühlpack entnimmt, um es mir erneut an den Kiefer zu halten.
"Gut. Ich werde dich nie wieder enttäuschen Roween Mathews."
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