Kapitel 48
Es ist wie ein Déjà-vu als ich am Freitagabend vor meinem Spiegel stehe und mein Outfit betrachte, während ich darauf warte von Beth angerufen zu werden, wann sie mich mit ihren Freunden abholt.
Ich trage eine zerissene schwarze Hose und dazu ein blutrotes Oberteil, dass die Schultern freilässt. Es handelt sich zwar um keine Kostümparty, aber irgendwie hatte ich das Gefühl doch etwas Halloween gerecht werden zu müssen. Dementsprechend ist mein Make Up auch stärker ausgefallen mit dunkelroten Lippen und Smokey-Eyes, die ich einem Schmicktutorial zu verdanken habe, dass ich mir vor einer Stunde noch schnell angeschaut habe.
Ich muss zugeben, es macht mich nervös so auszusehen. Das ist nicht die Row, deren Nase immer in einem Buch steckt. Aber es ist eine gute Nervosität. Und welcher Tag eigentlich sich besser aus der eigenen Haut zu kommen als Halloween? Also widerstehe ich dem Drang mich wieder komplett abzuschminken oder in ein weniger auffälliges Oberteil zu schlüpfen und gestatte mir stattdessen nur mit einem Seufzen über das Glitzersteinchen in meiner Augenbraue zu fahren. Es soll mich daran erinnern, dass am Ende nur ich bestimme wer ich bin. Und das heute mehr denn je.
Aber anders als früher möchte ich es nicht mehr als ein Täuschungsversuch sehen. Es soll nicht länger dazu dienen sich die Menschen wundern zu lassen, wie eine Einser-Studentin gepierct sein kann. Es soll einfach nur noch mich widerspiegeln, mit all meinen Ecken und Kanten, bei denen ich lernen will stolz drauf zu sein.
Ich fahre mir gerade nervös durch die Haare, als mein Handy zu klingeln anfängt. Eigentlich ist es unnötig drauf zu schauen, denn wer außer Beth sollte mich anrufen? Der Gedanke lässt ein Stich durch mein Herz fahren, denn vor einem Monat hätte ich genau das noch über Alexis gesagt. Aber ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das runterzieht, als ich abnehme.
"Hi, wir sind unten, bist du soweit?"
Ich stoße ein halb gequältes Lachen aus und schaue mein Spiegelbild an, als könne es mir auf diese Frage die Antwort liefern. Aber es blickt mich genauso ratlos an, wie ich mich fühle.
"So bereit, wie ich dafür sein kann. Bin gleich da."
Dann legen wir beide wieder auf und ich greife nach einem letzten tiefen Atemzug nach meiner Tasche und marschiere zur Tür, bevor mich die Entschlossenheit wieder verlassen kann. Die Ironie lässt mich fast auflachen, als ich Mary und Jackson auf der Couch vorfinde. Aber ich kann es mir gerade so noch verkneifen, während ich meine Mitbewohnerin dabei beobachte, wie sie das Kostüm ihres Freundes zurecht rückt. Sie sind als Doktor Frankenstein und das Monster verkleidet und brechen selbst wahrscheinlich bald auf, um bei Marys Gemeinde, in der sie gemeinnützig hilft, auf eine kleine Party zu gehen. Ich bin stolz auf mich, dass ich mich daran erinnern kann, dass sie mir das in den letzten Tagen erzählt hat, während ich in meinem Loch festsaß. Und ich bin unendlich dankbar, dass Mary und Cass mich so lange ausgehalten haben.
Als jetzt Mary aufblickt, sobald sie mich kommen hört, legt sich ein ehrlicher Ausdruck der Erleichterung auf ihr Gesicht, als sie mein Outfit sieht und daraus schließt, dass ich weggehe. Genau genommen schauen die beiden mich schon den ganzen Tag so an, seitdem ich endlich wieder aus meinem Zimmer gekrochen bin und am normalen Leben teilnehme. Und ihre Besorgnis lässt mein Herz ganz groß werden.
"Hey, ich bin dann weg. Euch beiden einen schönen Abend. Verschreckt nicht zu viele Kinder."
Ich werfe ihnen ein schiefes Grinsen zu und bekomme von beiden ebenfalls viel Spaß gewünscht, bevor ich weiter zur Diele gehe und in schwarze Boots schlüpfe, die mit ihren Nieten und Schnallen meinem Outfit die perfekte Abrundung geben. Ich schnappe mir gerade meinen Mantel, weil es inzwischen draußen doch immer kälter wird, da höre ich auf einmal Schritte hinter mir und werde, kaum dass ich mich umgedreht habe, in eine innige Umarmung gezogen.
"Es freut mich so zu sehen, dass es dir wieder besser geht. Ich habe mich so... Hilflos gefühlt, weil ich nicht wusste wie wir dir beistehen sollten. Tut mir Leid, dass wir dir nicht helfen konnten."
Zu erstaunt, um im ersten Moment zu reagieren, lege ich meine Arme um Mary, als ich höre wie sie leise schnieft, und muss Mal wieder feststellen, dass mich die Leute in meiner Umgebung immer wieder erstaunen. Ich hatte nicht gewusst, dass sie das Ganze so sehr mitnimmt.
"Oh Gott Mary, mach dir bloß keine Vorwürfe deswegen! Ihr habt mehr getan als euch bewusst ist und ich glaube...", ich seufze und schiebe meine Mitbewohnerin ein Stück von mir, um ihr ins Gesicht schauen zu können. "Ich glaube ich habe es gebraucht ein paar Tage so in meinem Loch zu versinken, um mir über so einiges bewusst zu werden. Vielleicht ist noch nicht alles wieder gut, aber ich weiß jetzt, dass ich etwas ändern muss."
Wir tauschen ein letztes ehrliches, wenn auch noch immer schmerzliches, Lächeln, bevor sich Mary mit einer letzten kurzen Umarmung verabschiedet und wieder zu Jackson geht. Und auch wenn es nur ein kurzer Moment war, habe ich das Gefühl ihr näher zu sein als jemals zu vor. Und es fühlt sich gut an.
Aus dieser Erkenntnis neue Kraft schöpfend greife ich nach dem Türknauf und mache mich auf den Weg nach unten. Und wie das letzte Mal in diesem Treppenhaus auf dem Weg zu einer Party, schwöre ich mir selbst einen guten Abend zu haben. Egal wie nervös mein Herz schlägt bei der hohen Wahrscheinlichkeit Alexis oder Gray oder sogar allen beiden zu begegnen. Ein Teil von mir will sie ja sogar sehen und wenn es nur ist, um sich zu versichern, dass es ihnen gut geht. Egal, wie sehr es weh tun wird. Egal, wie sehr Gray mich verletzt hat. Egal, ob er mich vielleicht... Schon ersetzt hat.
Ein heftiger Stich fährt durch mein Herz, aber ich beiße die Zähne zusammen und zwinge mich dazu weiterzugehen. Ich habe es die ganze Zeit gewusst. Er würde mir das Herz brechen. Aber es zu wissen bereitet einen kein bisschen darauf vor.
Die Meter von der Haustür bis zu dem Auto, aus dem bereits laute Musik schallt, jogge ich, um möglichst kurz in der Kälte zu bleiben. Die hintere Tür wird für mich geöffnet bevor ich nach dem Türgriff greifen kann und eine strahlende Beth blickt mir entgegen, in einer Aufmachung, die Bloody Marry Konkurrenz macht. Sie steckt in einem weißen Kleid das über und über mit roten Blutflecken übersät ist und selbst in ihrem Make Up findet man Kunstblut, dass ihr wie eine Träne über das Gesicht rinnt.
"Hey du, spring rein!"
Kurz verunsichert, ob ich mich nicht doch hätte verkleiden sollen, schlüpfe ich in das Auto und bin erleichtert, als ich keine weiteren Kostüme bei den Insassen erkenne. Also habe ich es doch nicht falsch verstanden. Normale Jeans, normale Hemden und Oberteile. Das lässt mich erleichtert aufatmen, bis mit einem Mal eine männliche Stimme meint: "He, dich kenne ich doch!"
Erschrocken fährt mein Blick hoch und starrt in ein grinsendes Gesicht, dass mich neugierig vom Beifahrersitz betrachtet. Es dauert nur eine Sekunde, bevor ich ihn als den Typen wiedererkenne, den Kayla mir auf meinem ersten Eishockeyspiel vorgestellt hat. Der, mit der Kriegsbemalung über das ganze Gesicht. Aber da ich in keinster Weise damit gerechnet habe auch nur einen von Beths Freunden zu kennen, haut mich das dermaßen aus den Socken, dass ich nicht mehr zu Stande bekomme, als mit offenem Mund zu gaffen.
"Ja stimmt! Das ist doch die Freundin von Kayla."
Mein Blick schießt zu der Fahrerin, die sich nun ebenfalls zu mir umgedreht hat und auch sie erkenne ich von dem Tag wieder. Es ist die hübsche Rothaarige. Aber anscheinend interpretieren die beiden mein Starren falsch, denn der Junge stupst mich mit einem schalkhaften Grinsen an.
"Bestimmt erinnerst du dich nicht mehr. Wie könnte man auch, wenn man von einem Eishockeygott wie Gray abgelenkt wird?"
Mit einem theatralischen Seufzen legt er sich eine Hand an die Stirn und spätestens das hätte wohl die Erinnerung in mir wachgerüttelt. Vor allem als die Rothaarige genauso wie damals ihm wieder auf die Schulter schlägt und die Augen verdreht.
"Eric, können deine Gedanken auch nur einmal um etwas anderes drehen?"
Schmollend die Unterlippe vorschieben verschränkt Eric, dessen Name zugegebenermaßen mir entfallen war, die Arme
.
"Nein Em. Im Gegensatz zu euch kann ich von ihnen nämlich leider nur träumen."
Anscheinend an diese Art von Beschwerden gewöhnt schüttelt sie den Kopf und verrenkt sich dann um mir die Hand hinzuhalten.
"Hi, ich bin Emma, aber nenne mich ruhig Em. Schön, dass du heute mitkommst."
In der Hoffnung, dass meine Hände nicht total feucht sind vor Aufregung ergreife ich kurz ihre Hand und versuche mich an einem Lächeln.
"Hi, ich bin Row."
Ich bin verlockt anzuhängen, dass ich mich sehr wohl an die beiden erinnern kann, doch traue mich dann doch nicht. Aber anscheinend nimmt Em es mir auch nicht übel, denn sie dreht sich einfach wieder nach vorne und schmeißt den Motor an.
"So, dann kann der Spaß ja losgehen!"
Sobald wir losrollen stoßt etwas Kaltes an meine Schulter und ich drehe mich überrascht zu Beth um, mit der ich zu zweit auf der Rückbank sitze, und nehme die Flasche entgegen, die sie mir hinhält. Zweifelnd schaue ich die scharlachrote Flüßigkeit an.
"Keine Sorge, ist nur das geheime Punsch-Rezept meiner Familie."
Beth zwinkert mir zu und ich entscheide mich dafür ihr einfach zu vertrauen und setze an. Mhm, lecker fruchtig.
"Also Row, besteht die Hoffnung, dass wenn ich mich an dich hänge, ich Gray ganz aus der Nähe anhimmeln kann?"
Bedeutungsvoll lässt Eric die Augenbrauen wackeln und das Lächeln, dass sich gerade auf meinem Gesicht ausbreiten wollte, gefriert. Sofort liegt wieder der schwere Stein in meinem Magen, der mich jedes Mal runterziehen will, wenn ich daran denke, dass ich selbst nicht mehr Gray aus der Nähe sehen werde. Auch ich kann nur noch von ihm träumen.
So schnell wie möglich setze ich die Flasche wieder an und trinke in großen Schlücken. Glücklicher Weise übernimmt Beth für mich das Sprechen.
"Eric, schlechtes Thema. Um deine Sportlerschwärmereien musst du dich heute alleine kümmern. Und jetzt Themenwechsel."
Es herrscht kurz peinliches Schweigen im Wagen und mir entgeht nicht, wie Em mir über den Rückspiegel einen forschenden Blick schenkt, aber ich bin feige und wende einfach den Kopf ab. Damit kann und will ich mich jetzt nicht auseinandersetzen. Sonst schaffe ich es nicht auch nur einen Schritt ins Molly's zu setzen. Nicht, wenn ich darüber nachdenke einen Abend lang Gray aus der Ferne anstarren zu können, während er sein Leben weiterlebt.
"Trink, ich habe noch mehr dabei."
Beth hat sich zu mir rüber gebeugt, um leise mit mir zu sprechen und ich schenke ihr ein dankbares Lächeln und widme mich die restliche Fahrt der Flasche, bis der Alkohol das bedrückende Gefühl in meiner Brust durch eine angenehme Wärme ersetzt.
***********
Das Molly's ist rappelvoll. Wir haben gerade so noch einen Stehtisch ergattert, auf dem nun für jeden von uns ein Cocktail steht - Em's natürlich alkoholfrei.
Es wäre gelogen zu sagen, dass ich nicht seit dem ersten Schritt, den ich hier reingesetzt habe, mich nach zwei ganz bestimmten Personen umsehe. Aber es ist auch nicht so schlimm, wie ich eigentlich befürchtet habe. Und das ist vor allem Beth und Em zu verdanken, die mich immer wieder in Gespräche vertiefen und damit ablenken. Und der Alkohol trägt ebenso dazu bei, dass ich mich langsam aber sicher entspanne.
Das Eishockeyteam habe ich schon längst gesichtet. Die Jungs sind allerdings auch schwer zu übersehen, so wie sie zusammen mit den Footballspielern von den Mädchen umschwärmt werden und dazu noch so laut sind, dass selbst ich am anderen Ende des Raumes weiß, über was sie sprechen. Aber der eine Sportler, den mein Herz gleichzeitig hofft und fürchtet zu sehen, ist nicht unter ihnen. Und da bin ich mir absolut sicher, denn ich habe jedes einzelne Gesicht angescannt... Doch Grays ist nicht dabei.
Das lässt meinen Magen sich sowohl ängstlich zusammenziehen als auch einen kleinen Hüpfer machen. Es scheint Gray gar nicht üblich nicht hier zu sein. Und vielleicht bin ich voreingenommen in meiner Meinung, aber ich kann mir die Gruppe ohne ihn auch gar nicht vorstellen. Gray kommt mir immer wie der Kleber sozialer Gruppen vor. Er hält die Leute zusammen, weil es einfach niemanden gibt, der ihn nicht mögen könnte. Mir kommt es vor als wäre da eine riesige klaffende Lücke zwischen Lee und Bas, auch wenn sie direkt nebeneinander stehen. Und das lässt in mir ein ganz mulmiges Gefühl aufkommen.
Auf der anderen Seite... Bedeutet es, dass er nicht hier ist, dass auch er doch noch nicht über alles hinweg ist? Konnte er sich vielleicht nicht vorstellen unter all den Leuten zu sein und auf gut gelaunt zu machen, während es ihm eigentlich schlecht geht? Oder konnte er sich vielleicht sogar nicht vorstellen, ohne mich hier her zu kommen?
Ich weiß nicht was ich denken soll. Vielleicht spinnt sich mein verzweifeltes Herz da auch nur etwas zusammen, aber der Gedanke lässt in mir - so verdreht das Ganze auch ist - Freude aufkommen. Was absolut lächerlich ist, denn... Er hat mich verletzt. Sich so schnell einen neuen Lernpartner zu suchen, nachdem er noch den Tag vorher um mich kämpfen wollte... Wie soll man das verstehen? War ich mit einem Mal die Mühe nicht mehr wert?
Schnaubend stoße ich die Luft aus. Na gut, es ist zweifelhaft dass ich überhaupt jemals die Mühe wert war. Und deswegen kann ich auch nicht sauer auf ihn sein. Ich kann es ja verstehen, wer will schon jemand so emotional und sozial verkrüppelten wie mich als Partner? Es zeigt wie groß Grays Herz ist, dass er sich überhaupt meiner angenommen hat. Wie ein verängstigter Straßenköter, den man aufnimmt und aufpeppelt. Und dafür schulde ich Gray so einiges, denn auch wenn ich noch am Anfang meiner Reise stehe, durch ihn habe ich gelernt, dass in anderen Menschen nicht nur die Monster stecken, die ich überall sehe. Also wie könnte ich sauer sein? Wie könnte ich ihm Vorwürfe machen? Ich bin einfach nur traurig. Und das ist noch das falsche Wort für die tiefe Verlorenheit, die ich empfinde, wenn ich daran denke ihm nie wieder so nahe zu kommen.
Ich werde aus meinen betrübten Gedanken gerissen als Em sich neben mir streckt und heftig jemanden in der Menge winkt. Etwas orientierungslos blinzle ich und greife nach meinem Glas, um etwas zu tun zu haben, während ich versuche zu erkennen, wem Em winkt.
"He, Kayla! Hier sind wir!"
Der Schluck bleibt mir im Hals hängen, als ich den Namen höre und gleichzeitig die Gestalt erkenne, die sich durch die Leute zu uns durchschlägt. Hustend versuche ich wieder zu Luft zu kommen, während gleichzeitig meine Gedanken rasen.
Es ist nicht so als würde ich Kayla nicht mehr mögen oder ihr aus dem Weg gehen wollen, aber... Am liebsten wäre ich geflüchtet. Denn es besteht kein Zweifel, dass sie das ganze Drama mitbekommen hat. Und ich weiß nicht ob ich es schaffe von ihr bemitleidet zu werden. Oder sogar Rechtfertigungen und tröstende Worte zu hören. Ich komme mit dem Ganzen klar. Solange ich so wenig wie möglich darüber reden muss. Das sage ich mir zumindest.
Aber für Flucht ist es schon längst zu spät. Das ist mir klar, denn mit meinem filmreifen Auftritt gerade, kann ich Kayla in der Gruppe gar nicht entgangen sein. Und sie ist keine zwei Meter mehr von uns entfernt. Rasselnd komme ich wieder zu Atem und bin für die extra Sekunden froh, die es mir verschafft, dass Eric sich auf Kayla stürzt als wäre sie jahrelang verschollen gewesen. Damit kann ich meine Gedanken zumindest kurz unter voller Sauerstoffversorgung sortieren. Nicht, dass es viel helfen würde.
"Hallo Schönheit! Wieso wusste ich gar nicht, dass du hier bist? Obwohl dumme Frage, dein sexy Boy ist ja auch hier. Alle sexy Boys sind hier. Weißt du ob zwischenzeitlich einer von ihnen das Ufer gewechselt hat?"
Eric hatte eindeutig auch schon zu viel Punsch im Auto. Ich beobachte wie er Kayla ungestüm umarmt, doch das stellt sich als Fehler heraus. Denn Kaylas Aufmerksamkeit liegt nicht auf ihm. Sie starrt mich aus großen hoffnungsvollen Augen an. Und ich bekomme Panik, denn ich weiß was dieser Ausdruck in ihrem Gesicht heißt: Sie will mit mir reden.
Schnell lasse ich den Blick schweifen, während mein Herz mir bis zum Hals schlägt. Nein, das kann ich nicht. Ich kann das nicht hören. Nicht wenn ich irendwann einmal mit dem Ganzen abschließen können will. Nicht, wenn ich irgendwie lernen muss ohne Gray zu leben. Verzweifelt auf der Suche nach etwas, das mir die Flucht ermöglicht, scanne ich den ganzen Raum.
...Und erstarre, als ich Alexis entdecke.
Sie sieht bezaubernd aus in einem schwarzen Mini, dass ihre schlanke Figur zur Geltung bringt. Auch wenn ich noch immer finde, dass sie ein Stück zu dünn geworden ist. Ihre Handgelenke schmücken goldene Armreife und mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich unter ihnen nicht unser Freundschaftsarmband entdecke. Der Schock sie mit einem Mal wiederzusehen sitzt so tief, dass ich nicht bemerke wer da bei ihr steht, bis Alexis defensiv die Arme hebt und einen Schritt zurücktritt. Doch ihr gegenüber rückt nur noch ein Stück näher und erst da erkenne ich Carly, die mit verkniffenen Gesichtsausdruck auf meine beste Freundin einschimpft. Oder Ex-Beste-Freundin?
Verdammt, das ist doch völlig egal!
Ich höre nur halb wie Kayla meinen Namen ruft, als ich losgehe um mich durch die Menge zu drängen. Das Blut rauscht mir in den Ohren und ich kann selbst nicht ganz fassen, was ich im Inbegriff bin zu tun. Aber ich wollte das Leben nicht mehr an mir vorbeiziehen lassen. Und ich wollte mich nicht länger unterdrücken lassen. Von niemandem aus der Gegenwart, von niemandem aus der Vergangenheit und erst recht nicht von meinen eigenen Ängsten.
Also atme ich einige Male tief durch, fahre die Ellenbogen aus und kämpfe mich durch die Menge, bis ich auf der anderen Seite direkt neben Alexis ausgespuckt werde.
"...hattest du noch nicht genug? Wie viel billiger kann man denn noch werden? Bist du wirklich für jeden zu haben oder was willst du sonst mit dem Kleid signalisieren? Das Ding ist ja kaum größer als eine Serviette."
"Ja und? Soweit ich weiß, darf jeder tragen was er will."
Die Härte in meiner Stimme überrascht mich selbst einen Moment, doch als ich sehe wie Carly überrascht zu mir rumfährt und Alexis ihren gesenkten Kopf hebt und ich einen Blick auf ihren gequälten Gesichtsausdruck erhasche, nehme ich die Schultern noch ein Stück zurück und lasse die Wut und den Frust der letzten Tage in mir aufsteigen. Genug ist genug.
Carly blinzelte irritiert und scheint einen Moment zu brauchen, bis sie mich erkennt. Dann stößt sie ein schnaubendes Lachen aus und schüttelt den Kopf.
"Sorry, das geht echt nicht gegen dich, aber irgendjemand muss deiner Freundin einmal Anstand bei bringen."
Sie spricht es zwar nicht aus, aber das "also misch dich einfach nicht ein" hängt in der Luft und mein Herz krampft sich für einen Moment zusammen, als ich daran denke, dass genau das meine übliche Reaktion wäre: Mich einfach raushalten und klein machen, damit es mich nicht erwischt. Aber irgendwas müssen die letzten Tage ja gebracht haben, auch wenn es nur der zornige Mut ist, mich kein bisschen einschüchtern zu lassen.
"Sorry, aber alles was gegen Alexis geht geht auch gegen mich."
Carly, die sich schon wieder Alexis zuwenden wollte, anscheinend der Ansicht dass die Sache mit mir damit geregelt ist, zieht überrascht die Augenbrauen hoch und taxiert mich kritisch. Ich schnaube.
"Das hast du wohl nicht von der kleinen Streberin erwartet, was?"
Eigentlich wollte ich die Worte nur denken, aber der Alkohol hat anscheinend meine Zunge locker gemacht. Und verdammt, das ist Carlys verdutzten Gesichtsausdruck wert, bevor ihre Züge hart werden und sie demonstrativ die Arme verschränkt.
"Nein, tatsächlich habe ich gedacht, dass du dich ohne die Hand deines Freundes nicht Mal auf solche sozialen Veranstaltungen traust."
Der sitzt tief und mir fehlen die richtigen Worte um einen Konter zu setzen. Solche Situationen bin ich nicht gewohnt und ich kann nichts anderes machen als mit aufkommender Panik zu beobachten, wie Carlys Mundwinkel siegessicher nach oben zucken.
"Wenigstens hat sie jemanden, der sie an die Hand nimmt. Wie geht es Julian so?"
Carly und ich reißen gleichermaßen überrascht den Kopf zu Alexis herum, die die Schultern nach oben gezogen und die Fäuste geballt dasteht, aber Carlys Blick fest erwidert. Zumindest bis sie kurz zu mir schaut und mein Herz fast zerbricht, an all den unausgesprochenen Worten, die in ihren Augen liegen. Aber sie müssen auch nicht ausgesprochen werden, ich weiß es auch so. Wir beide gegen den Rest der Welt. Schon witzig, wie ein Blick meine ganze Welt wieder kitten kann. Aber in diesem Moment hat Alexis alle Mauern fallen gelassen und lässt mich in ihr tiefstes Inneres blicken. Und die nagende Schuld, das Flehen um Verzeihung und die tiefe Dankbarkeit, dass ich jetzt an ihrer Seite stehen, lassen mich alle hässlichen Worte vergessen, die zwischen uns gefallen sind. Sie ist und bleibt meine beste Freundin. Und das wir beide wohl nicht die leichtesten Charaktere sind ist ziemlich offensichtlich. Aber wahre Freundschaft zeichnet sich dadurch aus, dass man in den entscheidenden Momenten zueinander steht. Und das hier ist so einer. Egal was die letzte Woche alles vorgefallen ist, ich werde den Teufel tun und Alexis allein mit diesem Biest lassen. Nicht wenn letztendlich Carly doch an allem schuld ist.
Mit neuem Mut rücke ich auf, bis Alexis und ich Schulter an Schulter stehen, wie eine unumstößliche Mauer. Genau so wie es sein muss. Doch Carly scheint gar nicht mitzubekommen, wie sich das ganze Weltgefüge wieder ins Lot gerückt hat. Sie starrt nur giftig Alexis an und spukt ihr beinahe vor die Füße: "Nimm du ja nicht seinen Namen in deinen dreckigen Mund. Von einer Schlampe wie dir lass ich mir nichts sagen."
"Wow, beeindruckend. Du besitzt also doch den Mut es direkt auszusprechen, anstatt dich nur feige hinter einem Fake-Account zu verstecken. Herzlichen Glückwunsch, das ist mehr Ehrenhaftigkeit, als ich dir zugetraut habe."
Ich merke wie Alexis bei ihren Worten neben mir zittert und kann mir nur vorstellen, wie schwer das hier für sie ist. Sie ist so viel mutiger als ich, aber ich bin fest entschlossen mir ein Beispiel an ihr zu nehmen.
Als hätte sich Carly daran erinnert, dass sie ein Gesicht zu bewahren hat, nimmt ihre Miene wieder einen zivilisierteren Ausdruck an, während sie sich gleichzeitig eine Haarsträhne hinter die Schulter wirft.
"Keine Ahnung was du meinst. Aber wer auch immer das gepostet hat hat wenigstens endlich einmal die Wahrheit offengelegt: Du bist auch nichts weiter, als eine fette Kuh in viel zu engen Kleidern."
Alexis wird völlig starr neben mir... Und mir brennt eine Sicherung durch. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so wütend gefühlt. Nicht einmal bei Joyce kann ich mich an diese Art von Flammen erinnern, die in mir lodern. Aber vielleicht liegt das alles von damals auch noch tief in mir versteckt und bricht sich jetzt endlich Bahn. Egal was es ist, ich bin dankbar dafür. Denn diesem Mädchen muss jemand Mal den Kopf zurechtrücken. Und verdammt ja, ich übernehme diese Aufgabe nur allzu gerne.
Die Kälte in meiner Stimme steht im scharfen Kontrast zur Hitze in mir, aber ich nehme jedes Quentchen meiner Selbstkontrolle, um so nüchtern wie möglich ein Schritt auf Carly vorzutreten, der mich gleichzeitig zwischen sie und Alexis befördert, und dann in meinem besten belehrenden Tonfall zu sagen:
"Oh Carly Schätzchen, hat dir noch niemand beigebracht, dass man Fehler bei sich selbst suchen soll? Keine Ahnung welches Brett du vor dem Kopf hast zu glauben es wäre Alexis Schuld, dass dein Freund dich betrogen hat. Ja, sie ist wahrscheinlich das heißeste Mädchen in diesem ganzen Raum und verdammt ja! Jeder Junge würde sie dir vorziehen. Aber dass Julian lieber seinen Schwanz wo anders reingesteckt hat, liegt glaube ich eher daran, dass du völlig durchgeknallt bist. Wer würde da nicht reißaus nehmen?"
Die einzige Vorwarnung, die ich bekomme, ist das irre aufblitzen in Carlys Augen, da saust auch schon ihre Faust heran und Sterne explodieren vor meinen Augen.
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