Kapitel 37

Mir ist nicht aufgefallen, dass ich eingedöst bin, bis ich durch ein sanftes Rütteln an meiner Schulter geweckt werde.

"Hey du Schlafmütze, hast du auch Hunger?"

Mit einem Gähnen öffne ich die Augen und blinzle gegen das Licht des Fernsehers an, während mein Kissen sich unter mir bewegt. Das finde ich ziemlich komisch, bis ich wach genug bin um zu registrieren, dass ich noch immer auf Gray liege, der sich streckt.
Vorsichtig rapple ich mich auf und rutsche von ihm runter, wobei ich mir ein erneutes Gähnen nicht verkneifen kann.

"Sorry, ich hoffe ich war nicht zu schwer."

Meine Augen haben noch nicht so richtig scharf gestellt, aber Grays Grinsen kann ich trotzdem erkennen, als er sich aufsetzt und sich die Brust reibt.

"Keine Sorge, Bunny. Auf dem Eis fallen manchmal hundert Kilo Männer auf mich, da bist du Fliegengewicht kein Problem."

Die Bezeichnung Fliegengewicht ist zwar diskutierbar, aber ich ziehe nur eine Augenbraue nach oben und spare mir lieber die Worte.

"Also", voller Tatendrang steht Gray auf und hält mir eine Hand hin, um mich ebenfalls hochzuziehen. "Hunger?"

Mein Bauch übernimmt das Antworten für mich, in dem er ein Knurren von sich gibt und ich nur noch bestätigend nicke. Das letzte Mal habe ich vor der Arbeit gegessen und das ist meinem Magen entschieden zu lange her.

"Dann komm. So wie ich meine Mutter kenne kannst du bei dem was sie gekocht hat auch noch eine hundertkilo Frau werden."

Gray zwinkert mir zu und zieht mich einfach mit sich, weil ich noch zu träge für eine Reaktion bin. Bisher habe ich noch nicht viel von dem Haus gesehen und auch jetzt müssen wir nur in das Nachbarzimmer, um in die Küche zu gelangen. Sie ist hell eingerichtet und ordentlicher als ich es jemals bei meiner Mom erlebt habe. Aber man sieht auch, dass sie viel genutzt wird und als Gray den Kühlschrank öffnet und zwei riesige Dosen rausholt, sehe ich diese Vermutung bestätigt. Genauso wie Grays Aussage über mich als hundert Kilo Kolossos.

"Also, die ist für dich und die für mich."

Einer der Dosen wird mir überreicht, aber ich kann nur  geschockt Gray anstarren, der bei meinem Gesichtsausdruck zu lachen anfängt.

"Das alles ist nur für mich? Damit könnte ich ja das ganze Eishockeyteam füttern!"

"Nein, nein, nein. Vegetarische Sachen würden von denen nicht Mal angefasst werden. Aber ich könnte mit meiner Portion definitiv Lee und Bas mitfüttern."

Grinsend öffnet Gray einen Schrank und zaubert daraus zwei Teller hervor.

"Aber so kocht Mom immer. Also nimm dir einfach so viel raus, wie du haben willst und den Rest bekommst du aller Wahrscheinlichkeit nach eh mitgegeben."

Gray hält mir einen Löffel entgegen, den ich zögerlich annehme.

"Und... Das ist nicht unhöflich etwas übrig zu lassen?"

Kritisch zieht Gray eine Augenbraue nach oben, während er die Dose vor mir betrachtet.

"Wenn du es schaffst das alles in deinen Magen zu bekommen, halte dich nicht zurück. Entspricht nur ungefähr dem zweifachen Volumen deines Kopfes, aber ich bin für Überraschungen offen, falls du eine geheime Wettessen-Karriere führst."

Allein der Gedanke, das alles zu essen, dreht mir den Magen um. Also öffne ich als Antwort einfach nur die Dose und mache mich dran auf den Teller eine normal große Portion zu schaufeln.
Grays Mom hat für mich einen Gemüse-Nudel-Auflauf gemacht, der ganz fantastisch aussieht. Dass diese Frau sich tatsächlich die Mühe für mich, jemand eigentlich absolut fremden, gemacht hat, erwärmt mir das Herz. Ich muss das nächste Mal unbedingt daran denken, Amelia als Dankeschön etwas kleines mitzubringen.
Auch Gray macht sich dran sein Essen vorzubereiten und sein Teller ist am Ende ungefähr das Doppelte von meinem. Und ich war bereits nicht sparsam.
Als er dafür von mir erstmal einen kritischen Blick bekommt, zuckt er nur grinsend die Schultern.

"Was denn? Ich bin Sportler, ich brauche die Kalorien. Und du hast ja hoffentlich inzwischen zur Genüge festgestellt, dass ich keinen Schwabbelbauch habe. Oder willst du es noch Mal überprüfen."

Zum Ende hin rutscht Grays Stimme eine Oktave nach unten, während er einen Schritt auf mich zu macht und nach meiner Hand greift. Ich weiß, dass dieser Tonfall und vor allem dieser Blick, mit dem er mich betrachtet, für meine Unschuld kein gutes Zeichen sind. Und verdammt, mein Körper reagiert sofort darauf.
Noch bevor Gray meine Hand unter sein Shirt führt, um mich seinen 'Schwabbelbauch' beurteilen zu lassen, kribbelt es in mir bereits schon überall. Und das seine Lippen keine Sekunde später meine finden, macht es auch nicht gerade besser. In einem letzten Versuch auf dem richtigen Weg zu bleiben, murmel ich: "Hattest du nicht eigentlich Hunger?"

Aber als Antwort darauf werden nur hinter mir Dinge von der Arbeitsplatte weggeschoben und ich im nächsten Moment hochgehoben und darauf abgesetzt.

"Essen kann warten."

Dafür bin ich auch, als Gray meinen Mund wieder mit seinem verschließt. Eigentlich müssten wir echt damit aufhören, andauernd an den unterschiedlichsten Orten herumzuknutschen. Das kann doch nur irgendwann schief gehen. Aber Gray ist einfach viel zu gut darin solche Gedanken bei mir zu verstreuen. Ich danke meiner Selbstbeherrschung, dass sie aber zumindest reicht, um Gray nicht hier in der Küche seiner Eltern das Shirt über den Kopf zu ziehen. Und ihn es auch nicht bei mir machen zu lassen. Sobald seine Finger anfangen, um den Saum meines Oberteils zu wandern, schaffe ich es mich irgendwie von ihm zu lösen und atemlos den Kopf zu schütteln.

"Nicht hier... Ich meine, das ist das Haus deiner Eltern."

Gray gibt ein kleines frustriertes Stöhnen von sich und lehnt seine Stirn gegen meine.

"Keine Sorge, unter diesem Dach sind schon ganz andere Sachen passiert."

Oh, das kann ich mir vorstellen. Wissen will ich es aber nicht. Schnaubend, aber dafür um einiges entschiedener als davor, schiebe ich Gray von mir und schaffe mir genug Platz, um von der Küchentheke zu rutschen.

"Das musst du nicht weiter ausführen, ich will es gar nicht hören. Mir egal, was du hier schon gemacht hast. Ich mache nicht mit."

Mit vor der Brust verschränkten Armen blitze ich Gray aus zusammengekniffenen Augen an und meine dabei jedes Wort ernst. Ich habe meine Prinzipien.
Ergeben hält Gray die Hände hoch, doch dafür, dass er dabei grinst hätte ich ihn gern geschlagen. Dieser Kerl nimmt mich absolut nicht ernst.

"Okay Bunny, ich habe es verstanden. Meine Hände werden bei mir bleiben. Aber bitte, erschieß mich nicht."

Anscheinend darum bemüht ernst zu schauen, beißt er sich auf die Lippen. Aber gegen das Grinsen hilft das trotzdem nichts. Ich schnaube erneut.

"Wieso habe ich das Gefühl, dass du mich absolut nicht ernst nimmst?"

Entschlossen schüttelt Gray den Kopf verliert aber nun endgültig den Kampf, um einen gefassten Gesichtsausdruck.

"Ich nehme dich absolut ernst! Aber irgendwie siehst du so sauer echt... Verdammt niedlich aus."

Als Gray daraufhin zu lachen anfängt gebe ich es auf mir Respekt verschaffen zu wollen und verdrehe seufzend die Augen. Muss man eine gewisse Körpergröße erreichen, nur um wütend ernst genommen zu werden, oder was?

"Du bist ein Idiot."

Noch immer lachend zieht Gray mich in seine Arme und drückt mir einen Kuss auf den Scheitel. "Tut mir leid, Bunny. Du weißt doch, dass ich deine Meinung respektiere."

Ja das tue ich. Trotzdem behalte ich die Arme vor der Brust verschränkt.

**********

Das Essen schmeckt fantastisch. Ich weiß nicht woran es liegt, dass von Müttern gekochtes Essen immer besser schmeckt, als wenn man es selbst kocht. Ich könnte mir genau das Rezept geben lassen und trotzdem würde es bei mir anders schmecken.
Außerdem ist Gray ein ganz exzellente Tischgesellschaft. Nicht nur weil er sein Versprechen hält und die Finger bei sich lässt, sondern weil er ganz frei heraus anfängt Geschichten aus seiner Jugend zu erzählen und ich gar nicht genug davon bekommen kann.

"...da waren wir also: drei pubertäre Jungs, die meinten in Sport immer den großen Macker raushängen lassen zu müssen und eine alte Vertretungslehrerin, die unser Ego nur zu gerne Mal wieder zurecht gestuzt hat. Ich weiß nicht, ob ich nach dem Sportunterricht jemals so fertig gewesen bin. Diese Frau verstand es einem Feuer unter dem Hintern zu machen. Als Eishockey Coach hätte sie es weit gebracht."

In Erinnerungen versunken schüttelt Gray grinsend den Kopf über sein jüngeres Ich, bevor er sich unsere beiden leeren Teller schnappt und aufsteht.

"Ich räume das kurz in die Spülmaschine ein und dann müssten wir mit Lea Gassi gehen. Willst du mitkommen oder lieber wieder schlafen?"

Frech grinst mich Gray an wofür ich ihm die Zunge rausstrecke.

"Ich komme mit. Mein wundervolles Kissen wäre ja sowieso nicht da."

Damit bringe ich Gray zum Lachen, bevor er sich abwendet und in die Küche läuft.

"Na, wenn ich sonst für nichts zu gebrauchen bin!"

Mit einem Lächeln stehe ich ebenfalls auf, als Geschirrklirren aus der Küche zu hören ist und Gray kurz darauf wieder zu mir geschlendert kommt. Er drückt mir einen kurzen unschuldigen Kuss auf die Lippen und schiebt mich dann Richtung Flur.

"Ich hole noch kurz die Leine, zieh du schon Mal Schuhe an."

Da Gray hinter mir steht kann er nicht sehen, wie ich die Augen verdrehe, aber meinem Tonfall ist der Sarkasmus auch so wahrscheinlich genügend anzuhören, als ich "Ja, Papa." sage.
Dafür erhalte ich einen Kuss seitlich auf den Hals und ein ebenso sarkastisches: "Nicht so frech junge Dame."

Dann ist Gray weg und ich mache brav was er gesagt hat und stehe schon fertig angezogen da, als Gray mit der Leine in der Hand zurück kommt.

"Lea, komm!"

Gray pfeift und keine Sekunde später kommt Lea um die Ecke geschossen, hellwach  dafür, dass sie bis gerade eben schlafend in ihrem Körbchen gelegen hat.
Gray beugt sich runter, um die Leine am Halsband zu befestigen und streichelt dabei die Hündin liebevoll.

"Feines Mädchen."

Um sich selbst Schuhe und Jacke anzuziehen übergibt Gray mir mit einem Zwinkern die Leine, die ich zunächst zögerlich in der Hand halte. Ich habe noch nie einen Hund geführt und auch wenn ich nichts anderes mache als ruhig dazustehen habe ich irgendwie Angst etwas falsch zu machen. Aber selbst wenn, scheint das Lea nicht wirklich zu stören. Sie kommt nur schwanzwedelnd zu mir, um sich die nächste Streicheleinheit abzuholen. Mit einem unvertraut zufriedenen Lächeln gebe ich ihr, was sie will.

"Ich glaube ich kann Lea und dich nicht öfter zusammenlassen. Dann schenkt ihr beide mir zu wenig Aufmerksamkeit."

Mit einem gespielt bösen Blick schaue ich zu Gray auf und überreiche ihm wieder die Leine. "Du hattest in deinem Leben schon genug Aufmerksamkeit, mein Lieber."

"So etwas gibt es gar nicht."

Schief grinst Gray mich an, während er die Haustür öffnet und mir den Vortritt lässt. Ich knuffe ihn spielerisch beim Vorbeigehen in die Seite. Selbstverliebter Idiot.
Sobald Gray die Tür hinter uns abgeschlossen hat spazieren wir langsam los. Man spürt so langsam den näherkommenden Winter in der Luft und ich bin froh mir einen Mantel mitgenommen zu haben. Allerdings komme ich nicht dazu die warmen flauschigen Taschen des Mantels auszunutzen, weil Gray nach meiner Hand greift und unsere Finger miteinander verflechtet. Aber das ist genauso gut. In seiner großen warmen Hand wird mir genauso wenig kalt.
Ich beiße mir auf die Lippen, um mir ein glückliches Lächeln zu verkneifen.

"Sag Mal", Gray spricht sehr gedehnt, während wir beide Lea dabei beobachten wie sie im Gras herumschnüffelt. "Was war eigentlich mit Alexis die letzten Tage? Hat sich ziemlich ernst angehört."

Überrascht von der Frage spanne ich mich an. Damit habe ich nicht gerechnet. Oder naja, eigentlich schon. Aber ich hatte gehofft dem Gespräch zu entkommen und deswegen einfach von mir weggeschoben, was ich darauf antworten soll.
Ich weiß, dass Alexis nicht wollen würde, dass ich einer dritten Partei davon erzähle, was bei ihr momentan los ist. Und immerhin ist es auch ihr Ding, ich habe kein Recht darüber zu tratschen.
Aber auf der anderen Seite ist ihre Geschichte so eng mit meiner verflochten, dass ich gar nicht drumherum komme ein Teil von ihr zu enthüllen, wenn ich offen und ehrlich mit Gray sein möchte.
Und das will ich. Ich will nicht, dass es irgendetwas Unausgesprochenes zwischen uns gibt. Und auch wenn ich kein Experte bin, was Beziehungen angeht, weiß ich doch, dass meine Vergangenheit ein zu großes Thema ist, um es für immer im Ungewissen zu lassen.
Man muss sich nur mein Verhalten am Samstag anschauen. Wäre Gray nicht so verständnisvoll hätte das schon der Punkt sein können, an dem er sagt, entweder ich rede oder wir müssen das hier erst gar nicht weiter versuchen. Er hat es vielleicht nicht ganz so deutlich ausgedrückt, aber ich weiß dass es auf kurz oder lang darauf hinauslaufen würde. Und der Gedanke macht mir mehr Angst, als jeder Albtraum darüber wieder in die High School zu gehen.
Mir mit meiner Antwort zeitlassend, um die richtigen Worte zu finden, bin ich froh Lea beobachten zu können, anstatt Gray ins Gesicht sehen zu müssen.

"Sie... Ihre Vergangenheit hat sie auf unschöne Weise wieder eingeholt. Das ist auch damals auf der Party passiert und... Das war auch ganz ähnlich bei mir am Samstag."

Die Erwähnung von Samstag lässt nun Gray sich anspannen. Ich spüre es daran, wie er meine Hand etwas fester packt und einen tiefen Atemzug nimmt. Es rührt mich, dass ihn das Ganze so mitzunehmen scheint. Es zeigt, dass ich ihm wirklich viel bedeute. Und das ist die letzte Bestätigung, die ich brauche, um die nächsten Worte auszusprechen.

"Ich kann dir nicht erzählen, was bei Alexis los ist. Das ist ihre Sache. Aber wenn du willst... Wenn du willst kann ich dir meine Geschichte erzählen."

Ich schlucke schwer.

"Das erklärt für dich vielleicht, weshalb ich mich manchmal so komisch benehme und... Weshalb mir gewisse Sachen schwer fallen."

Es bleibt für einen Moment still zwischen uns und ich warte mit laut pochendem Herzen darauf, wie Gray reagiert. Ich wage es sogar zu ihm zu sehen, doch da er starr gerade aus schaut, kann ich sein Gesicht nur von der Seite sehen.

"Du musst es nicht erzählen, wenn du nicht willst."

Grays Stimme hört sich gepresst an. Ich weiß, dass er sich zurücknimmt. Um mir die Chance zu lassen es einfach zu haben und einfach weiter darüber zu schweigen. Aber das muss er gar nicht.

"Ich will es aber. Ich vertraue dir."

Mein Hals ist wie zugeschnürt so viel Wahrheit steckt in dem Satz. Ich bin nicht gut darin anderen zu kommunizieren, wie es mir geht oder wie ich empfinde. Aber ich hoffe, dass Gray es mir anhören kann. Wie sehr ich ihn... Naja, wie viel er mir bedeutet.
Seine Hand drückt sanft meine.

"Dann würde es mich freuen alles zu hören."

Mein Atem entkommt mir ein einem Seufzen. Es ist schon komisch: zum einen bin ich nervöser als jemals zuvor. Ich habe noch nie jemanden davon erzählt. Nur mit Alexis habe ich über unsere Schulzeit gesprochen und ihr musste ich nicht erst sagen, was passiert ist.
Aber auf der anderen Seite fühle ich mich seltsam befreit. Es ist als würde es mir eine Last abnehmen endlich mit jemandem zu teilen, was mich schon seit Jahren beschäftigt. Und das obwohl ich noch nicht Mal angefangen habe zu sprechen.

"Alexis und ich waren... Nicht unbedingt beliebt in der Schule."

Ich stoße ein ironisches Schnauben aus. Okay, das mit der Wahrheit sagen muss ich wohl noch etwas üben.

"Nein, das ist eine Untertreibung. Wir waren die letzten mit denen sich irgendjemand abgeben wollte."

Ich merke, dass Gray etwas dazu sagen will, doch ich schüttle den Kopf bevor es dazu kommt.

"Nein, hör einfach zu. Das alles ist sowieso schon Vergangenheit. Man kann nichts dran ändern."

Ich nehme einen tiefen Atemzug und bin dankbar, dass wir an der frischen Luft sind. Es macht es irgendwie leichter darüber zu reden, während wir hier mit Lea entlang laufen. Als wäre es nur etwas Nebensächliches und nicht meine Lebensgeschichte.

"Du musst wissen... Alexis war früher übergewichtig. Sie war nicht immer die super sportliche Person in engen Kleidern, die sie heute ist. Und sie ist eigentlich auch nur halb so selbstbewusst, wie sie immer tut. Wie könnte man das auch, wenn du Jahre lang wegen deinem Körper fertig gemacht und wie ein Stück Dreck behandelt wirst?"

Meine Stimme zittert, so plötzlich und heftig überkommt mich wieder die altvertraute Wut. Wie kann man einem Menschen nur sowas antuen?
Auch Gray neben mir ist sichtlich angespannt, aber er kommt meinem Wunsch nach und bleibt still, während ich tief durchatme, um mich wieder zu fassen.

"Und ich... Naja, ich war genauso wie heute. Ein kleiner Streber, der zu nichts zu gebrauchen ist, außer um von ihm abzuschreiben."

Dieses Mal zerquetscht Gray meine Hand geradezu, aber das ist nicht weiter schlimm, denn ich halte ihn mindestens genauso sehr fest.

"Rede nicht so über dich."

Grays Stimme ist ein gefährliches Knurren und veranlasst mich zu ihm aufzublicken. Doch während in seinen Augen nur zu deutlich die Wut lodert, ist mein Gesicht völlig neutral. Ich habe abgeschalten, so wie ich das fast immer mache. Nichts fühlen ist manchmal das beste. Und es ist notwendig, um Gray die volle ungeschönte Wahrheit ins Gesicht zu sagen.

"Ich sage nur, was man mir direkt ins Gesicht gesagt hat. Aber damit hatte ich Glück."

Grays Stirn liegt in tiefen Falten, während an meinen Mundwinkeln ein ironisches Lächeln zupft.

"Sie haben mich nur ignoriert, wenn sie mich nicht gebraucht haben. Ich wurde selten beleidigt, man hat mir keine dummen Streiche gespielt. Ich war einfach nur... Luft für die anderen."

Mit einem Blinzeln wende ich den Blick von Gray ab und betrachte die Straße, die wir entlang laufen und Lea, die noch immer genauso fröhlich herumtollt wie zuvor.

"Ich sage das nicht um Mitleid von dir zu bekommen. Es ist einfach die Realität, wie meine Jugend ausgesehen hat. Ich bin zur Schule gegangen, habe im Unterricht aufmerksam zugehört, meine guten Noten geschrieben und die Pausen damit verbracht halb in der Hoffnung, halb in der Angst, dass die Leute mich bemerken. Dass sie mich an den Tisch der Beliebten einladen oder mir ihr Essen überkippen, wie es Alexis eine Zeit lang fast täglich ergangen ist. Ich habe die Schikanen mit Alexis miterlitten, aber nie den Mut besessen für sie in die Presche zu springen. Ich habe mich ausnutzen lassen bei jeder verdammten Gruppenarbeit, immer wieder in der kindischen Hoffnung mehr für die anderen zu sein als ein Mittel zum Zweck. Aber letztendlich war ich über die gute Note hinaus, die ich den anderen eingebracht habe, nie von Interesse. Ich war ungefähr genauso viel wert wie ein Taschenrechner und ich habe es akzeptiert. Ich habe mich selbst so behandeln lassen, weil ich bis zu meinem Schulabschluss nicht verstanden habe, dass nur ich daran etwas ändern kann. Dass es nichts bringt sich allein abends die Augen aus den Kopf zu heulen. Also habe ich angefangen mich dagegen zu schützen."

Ich weiß nicht, ob ich Gray vermitteln kann, wie es war. Vielleicht kann man das auch gar nicht verstehen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Worte können verletzen, Taten können verletzen. Aber Missachtung kann das genauso.

"Ich gebe keine Nachhilfe, ich hasse Gruppenarbeiten, ich lasse mich nicht auf Menschen ein, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass sie sich letztendlich eh nicht für mich interessieren, sondern nur auf irgendetwas aus sind."

Ich schaue zu Gray auf, der den Blick starr nach vorne gerichtet hat, während seine Kiefer mahlen.

"Ich habe meinen Glauben an die meisten Menschen verloren. Wenn nicht wegen dem was man mir angetan hat, dann wegen all dem Scheiß den man Alexis angetan hat. Menschen können grausam sein. Sie tun anderen weh und... Und bemerken es noch nicht Mal! Sie haben gelacht und gesagt es ist alles nur ein Scherz, während Alexis sich kaum noch in die Schule getraut hat. Und selbst heute sehe ich noch dieses gemeine Funkeln in den Augen der Leute. Wie sie sich für Partys auftakeln, vorne herum auf lieb machen und insgeheim nur nach deinen Schwachstellen suchen. Alle wollen nur sich selbst profilieren und trampeln dabei auf anderen herum, als wären sie nichts wert. Ich hasse es. Also halte ich mich von Leuten fern. Mit all diesen Trug und Schein will ich nichts zu tun haben."

Ich kann gar nicht anders, als bei diesem Satz an Joyce zu denken, die mit ihrem Engelslächeln jeden blendet. Einen auf guten Samariter macht, aber insgeheim sich um niemanden schert außer sich selbst. Allen geht es nur um ihren Ruf.

"Ich weiß, das hört sich verbittert an und... Ich muss zugeben seitdem ich dich kenne fange ich an viele Dinge wieder anders zu sehen. Aber alles was mich an diese Jahre erinnert lässt mich zurück in meine Schutzmechanismen fallen. Am Samstag, da...", Ich schlucke den Knoten in meinen Hals runter, fest entschlossen kein Zittern und keinen Zweifel in meiner Stimme zu zulassen, wenn ich über Joyce rede. "Da hat meine Mom mir etwas von einem Mädchen aus meiner Schulzeit erzählt. Naja, eigentlich hat sie mir von ihr vorgeschwärmt."

Ich schnaube bitter auf.

"Sie ist der Liebling der ganzen Stadt und das obwohl sie Alexis und mir unser Leben zur Hölle gemacht hat. Dieses Mädchen..."

Ich muss die Lippen fest Aufeinanderpressen und für einen Moment die Luft anhalten, um nicht einfach frustiert zu schreien, während ich eine Erinnerung zu lasse, die ich meist best möglichst verdränge.

"Sie ist an unserem Abschlussball zu mir gekommen, ihr Ballköniginnen-Krönchen auf dem Kopf und hat zu mir gesagt, dass wenn ich nicht hin und wieder so nützlich gewesen wäre, ich mich nur zu gerne mit meiner fetten Freundin zusammen für immer auf den Schultoiletten hätte verstecken können. Dort wären wir gut aufgehoben gewesen."

Ich schüttle fassungslos den Kopf, als mir die Szene wieder nur zu genau vor Augen steht. Wie ich ihr jedes Wort geglaubt habe und mich nicht gewehrt habe, während sie sich mit einem triumphierenden Lächeln abgewandt hat und zu ihrer Familie gegangen ist.

"Wir sind uns zwei Stunden später auf besagten Toiletten wieder begegnet. Ich habe mich nach ihren Worten dort versteckt mit dem eBook Reader, den meine Eltern mir zum Abschluss geschenkt haben. Ich wollte einfach meine Ruhe. Mich in eine andere Welt fliehen, so wie ich es die Jahre über immer gemacht habe, wenn ich mit meinem eigenen Leben nicht mehr zurecht kam. Als Joyce mich dort gesehen hat, nachdem ich ihr ja sowieso zu nichts mehr dienen konnte, hat sie angefangen zu lachen, sich zu ihren Freundinnen gewendet und laut genug, dass alle es hören, gesagt: 'Mein Gott, kein Wunder, dass dieses Mädchen immer gute Noten hatte, wenn man kein Leben hat. Aber weiter als diese Toiletten wird sie trotzdem nicht kommen. Um etwas zu erreichen gehört so etwas wie Charisma und Führungsstärke. Nichts was man in Büchern lernen kann. Man hat es oder nicht. Und das hier ist definitiv ein hoffnungsloser Fall.' Sie hat mir mein eBook Reader abgenommen und ihn in die Toilette geschmissen."

Ich schlucke hart und wehre mich gegen die Gefühle, die in mir aufsteigen wollen. Selbst heute schäme ich mich immer noch, auch wenn ich rational weiß, dass es dafür keinen Grund gibt. Es ist nichts verkehrt an mir. Aber damals habe ich es ihr geglaubt und auch jetzt muss ich gegen die Worte ankämpfen, um mich nicht wieder völlig wertlos zu fühlen.

"Verdammte Scheiße, und deine Mutter verliert auch nur ein gutes Wort über diese..."

Gray unterbricht sich selbst, indem er die Zähne fest aufeinander beißt. Seine Hand um Leas Leine ist zu einer festen Faust geballt und er macht so große wütende Schritte, dass ich es schwer habe mitzukommen. Gray hat mich die letzte Minute kein einziges Mal angeschaut und irgendetwas sagt mir, dass das daran liegt, dass seine Selbstbeherrschung am seidenen Faden hängt.
Es tut mir weh, ihn so zu sehen. Denn ich kenne diese Art von Wut und weiß, dass es nichts gibt, dass er machen kann, um sie los zu werden. Ich wollte ihn nicht so aufbringen. Aber er wollte die Wahrheit wissen.

"Meine Mom weiß nichts von dem Ganzen."

Als auf mein Geständnis hin Grays Kopf zu mir herumschießt lasse ich meine Haare wie einen Schleier über mein Gesicht fallen. Ich könnte einen Blick in seine Augen gerade nicht ertragen.

"Was? Row ihr hättet mit dem ganzen Scheiß zum Direktor gehen sollen! Oder zumindest deine Eltern..."

"Ich wollte ihnen das hier nie antun!"

Frustriert entziehe ich ihm meine Hand und beiße mir auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten.

"Ich wollte nicht, dass sie mich jemals so anschauen, wie du es gerade tust. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machen und letztendlich doch nichts ändern können. Ich... Ich wollte es ihnen nicht noch schwerer machen, als es mit mir sowieso schon war."

Meine Stimme wird immer leiser, während ich mich an all die Male erinnere, als meine Mutter gefragt hat was los ist und ich mich einfach nicht ihr mitteilen konnte. Vielleicht wollte ich es einfach nie laut aussprechen. Das hätte alles nur noch realer gemacht.
Gray hält inne und packt mich am Handgelenk, sodass ich ebenfalls stehen bleiben muss.

"Wie schaue ich dich denn an?"

Den Kopf noch immer gesenkt antworte ich selbst angewidert: "Voller Mitleid für den kleinen Streber ohne Freunde."

Ein schnaubendes Lachen ist zu hören und der Griff um mein Handgelenk wird etwas fester, als ich versuche mich daraus zu entwinden.

"Du schaust mir ja nicht Mal in die Augen, woher willst du das wissen?"

Weil jeder so reagiert. Aber ich höre die Herausforderung in Grays Stimme und bin viel zu stur, um ihm nicht zu beweisen, dass ich Recht habe. Also hebe ich, das Kinn störisch vorgeschoben, den Kopf. Mir fällt nur am Rande auf, dass wir bereits wieder vor Grays Haustür stehen. Anscheinend sind wir einmal im Kreis gelaufen, während ich geredet habe.
Aber sobald ich Grays funkelnden Blick begegne, gibt es besseres zu tun, als über unsere Gassirunde nachzudenken.
In seinen Augen ist viel zu entdecken, aber allem voran, dass er angepisst ist. Kein Mitleid oder Bedauern, aber dafür eine gute Portion Wut.

"Du besitzt mehr Charakter in deinem kleinen Finger, als dieses kleine Flittchen ihr lebenlang haben wird. Ich bemitleide dich nicht, weil du es nicht nötig hast. Verdammt, du wirst in zehn Jahren in einem Penthouse sitzen als gefeierte Medizinerin und auf uns herunterlächeln! Und was wird dieses Mädchen in der Zeit erreicht haben? Wahrscheinlich wird sie immernoch in eurer Heimatsstadt sitzen und von den alten Tagen schwärmen, als sie Ballkönigin war. Und außer ihr wird sich niemand mehr daran erinnern, während du ein Mittel gegen Krebs findest und den Nobelpreis dafür bekommst."

Gray legt seine Hände um mein Gesicht, während ich ihn nur sprachlos aus großen Augen anstarren kann.

"Mir tuen die armseligen Menschen leid, die in ihrem Leben nichts erreichen und deswegen andere fertig machen müssen, nur um sich gut zu fühlen. Aber du, du erweckst in mir nur einen riesen Respekt. Das hast du schon von Anfang an, als du diese verdammten drei Tischtennisbälle in den Bechern versenkt hast."

Als Gray mich küsst ist es wild und sanft zu gleich. Meine Hände krallen sich wie automatisch in seiner Jacke fest, während ich diesem Mann alles von mir gebe, was ich habe.
Ich habe noch lange nicht verarbeitet, was ich gerade gehört habe. Kann noch immer nicht glauben, was Gray bei mir hält.
Aber eins weiß ich mit einem Mal: Ich liebe ihn und es fühlt sich schöner an als alles andere auf dieser Welt.

Und sie hat sich endlich getraut :D na wie findet ihr Grays Reaktion? Meistert er doch ganz gut oder? ;)

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