Kapitel 32

Der Samstag ist wunderschön. Der Herbst zeigt sich noch einmal von seiner besten Seite, sodass meine Eltern, Alexis und ich einen Ausflug in die Stadt machen können. Da ich meine Mutter und ihre Neugierde kenne habe ich Alexis am Morgen noch angerufen und ihr klar und deutlich gesagt, dass sie sich auf keinen Fall von meiner Mutter irgendwelche Infos über Gray entlocken lassen soll. Am besten tut sie einfach so, als gäbe es niemanden besonderes.
Dafür habe ich zwar ein entnervtes Stöhnen erhalten, denn meine Mom und Alexis können nichts besser als miteinander zu tratschen, doch ich habe noch so einige Coveraktionen gegenüber Eltern gut bei ihr, als bleibt ihr letztendlich keine andere Wahl, als mir den Gefallen zu tun. Und nach den Gesprächen, die ich zwischen den beiden mitkomme, ist Alexis richtig gut darin das Thema großräumig zu umschiffen, während wir durch die Stadt bummeln.

Gegen Nachmittag fahren wir dann wieder zurück zum Campus, um Alexis abzusetzen, bevor es für uns weiter zum Spiel geht.
Natürlich kann Alexis es nicht lassen mir beim Verabschieden ein bedeutungsvolles Augenbrauenwackeln zu schenken, aber zumindest bewahrt mich die Anwesenheit meine Eltern davor, einen Kommentar zu all den Nachrichten zu bekommen, die ich über den Tag verschickt habe. Und die natürlich an Gray gingen.

Auch meine Eltern verabschieden sich herzlich von meiner besten Freundin und versprechen Alexis' Eltern liebe Grüße auszurichten. Dann verschwindet Alexis mit einem letzten Winken in ihr Wohnheim und mir fangen so langsam an die Nerven zu flattern.

Es ist nicht so, als wäre ich so nervös wie letztes Wochenende. Aber ich bin total aufgekratzt wegen dem Spiel, kann es kaum abwarten Gray und die Jungs wieder auf dem Eis zu sehen. Und da ich meinen Eltern nicht noch mehr Gründe geben will misstrauisch zu sein bezüglich meiner  Freunde versuche ich so wenig wie möglich zu zeigen, wie hibbelig ich eigentlich bin. Das macht es allerdings noch schwieriger das Kribbeln in mir auszuhalten.

Daher nutze ich die Chance noch einmal wie eine Verrückte herumzuspringen, als wir einen letzten Halt bei meiner Wohnung einlegen. Immerhin habe ich noch ein Trikot anzuziehen. Darüber dass es ziemlich offensichtlich ist, Grays Namen auf dem Rücken zu tragen, versuche ich so wenig wie möglich nachzudenken. Letztendlich werde ich meinen Eltern sowieso nicht verschweigen können, dass ich einen... Naja Freund habe?
Aber genau das ist das Problem: Gray und ich haben noch gar nicht darüber geredet was wir eigentlich sind. Vielleicht will er ja gar nichts Festes.
Der Gedanke lässt allerdings so schnell Übelkeit in mir aufsteigen, dass ich die Frage einfach schnell wieder verdränge. Über sowas kann ich mir Sorgen machen, wenn meine Eltern nicht unten im Auto auf mich warten. Dann ist ein kleiner Nervenzusammenbruch auch nicht mehr ganz so schlimm.

Also versuche ich einen tiefen beruhigenden Atemzug zu nehmen und werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Aus Gewohnheit fahre ich mir Mal wieder über das Glitzersteinchen in meiner Augenbraue und muss mit einem ironischen Lächeln feststellen, wie stark mich das Ganze an den Abend der Party erinnert. Damals stand ich auch hier und habe mir Mut zugesprochen. Nur war ich mir damals nicht klar darüber, was für eine besondere Person mir an diesem Abend über den Weg laufen würde. Naja, sind wir ehrlich, die zwei Wochen danach war ich mir darüber auch noch nicht bewusst, dass Gray das beste ist, was mir seit langem passiert ist.
Aber jetzt bin ich mir vollstens darüber klar. Und ich kann es kaum abwarten ihn wiederzusehen.

Von dem Gedanken angetrieben und mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht schnappe ich mir meine Tasche und beeile mich zu meinen Eltern ins Auto zu kommen. Ich versuche mich so gut wie möglich an dem Gespräch der beiden zu beteiligen, aber ganz bei der Sache bin ich nicht. Dafür ist der Schwarm Schmetterlinge in meiner Magengrube zu groß. Ich fühle mich kurz vorm Platzen und als die Arena in Sicht kommt, kann ich mir ein strahlendes Lächeln nicht mehr verkneifen.

Ich bemerke, dass meine Mom mich durch den Rückspiegel mit einem kleinen Lächeln betrachtet, aber das versuche ich so gut wie möglich zu ignorieren. Genauso wie Dads leise gemurmeltes "Grayham also", als ich vor den beiden auf dem Parkplatz hergehe.

Es ist genauso wie letzte Woche. Nur, dass ich mich trotz Kaylas fehlender Führung unter all den Menschen wohl fühle. Es ist als würde die neue Situation zwischen Gray und mir die ultimative Erlaubnis darstellen hier zu sein und mit den anderen Fans dem Spiel entgegenzufiebern.
Meine Eltern kaufen noch für jeden von uns ein Bier, bevor wir uns auf den Weg zu unseren Plätzen machen. Es sind andere als das letzte Mal, aber die Sicht ist meiner laienhaften Ansicht nach genauso gut und darf man sich bei geschenkten Karten überhaupt beschweren? Was mich jedoch etwas traurig stimmt ist, dass Kayla anscheinend ihren Platz nicht bei uns hat. Eigentlich nicht wirklich verwunderlich, aber irgendwie habe ich bisher nicht darüber nachgedacht, dass sie wo anderes sitzen könnte.

"So aufgekratzt habe ich dich ja schon lange nicht mehr erlebt, Row."

Mom streicht mir über die Haare und zieht damit meine Aufmerksamkeit auf sie. In ihren Augen liegt ein ungewöhnliches Funkeln und ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass sie sich für mich freut. Und das obwohl sie nicht einmal genau weiß über was.
In einem Anfall von Zuneigung lege ich meinen Kopf auf ihre Schulter und kuschle mich an sie.

"Ja, dieser Sport bedeutet mir überraschender Wiese sehr viel."

Ich weiß, dass meine Mom versteht, dass der Sport nur eine Metapher für etwas anderes ist. Sie drückt mich als Antwort einmal fest an sich und für einen Moment frage ich mich, ob sich meine Mutter sorgen gemacht hat. Darüber, dass ich zu einsam bin.
Doch bevor ich mich in tiefschürfende Gedanken verlieren kann erwachen die Monitoren über dem Eis zum Leben und es gibt Wichtigeres zu tun. Zum Beispiel nach einer ganz bestimmten Nummer Ausschau zu halten, als die Teams das Eis betreten.
Die Stimmung in der Arena ist wie beim letzten Mal elektrisierend und sobald ich Gray unter den anderen Spielern gefunden habe, kann ich kaum noch den Blick von ihm lösen.

Es ist schon komisch, wie ich manchmal fast vergesse, dass er ein Eishockeyspieler ist. Denn wenn man ihn da unten beobachtet ist nur allzu klar, dass er nirgendwo anders hingehört.

Die Geschwindigkeit des Spiels ist Mal wieder beeindruckend. Zum Anfang zögere ich mit den anderen Zuschauern mitzugehen und aufzuspringen, wenn unsere Jungs nach vorne stürmen. Neben meinen Eltern kommt mir das irgendwie komisch vor. Doch als Elijah das erste Tor schießt, kann mich nichts mehr auf meinem Sitz halten. Und danach ist es mir auch egal, wie komisch es meine Eltern finden müssen auf einmal eine sportbegeisterte Tochter zu haben.

Wir sind dieses Mal im Spiel drückend überlegen. Die Jungs tanzen geradezu über das Eis und treiben das Spiel immer wieder auf das gegnerische Tor zu. Dieses Mal ist es kein Mitfiebern oder Bangen, sondern viel mehr ein Genuss der Spielkunst.
Ich nehme mir die Zeit zu bewundern wie Gray und die anderen auf ihren Kufen über das Eis gleiten. Sie müssen sich nicht einmal darauf konzentrieren das Gleichgewicht zu halten oder die Richtung zu wechseln, sondern jagen einfach bedenkenlos dem Puck hinterher. Lee lässt sich in der Verteidigung sogar einmal einfach fallen, um in Laufrichtung weiter zu schlittern und mit dem Körper so den Puck abzufangen.

Wie auch schon letzte Woche, hat mich das Spiel bis zum Ende des ersten Drittels bereits vollkommen gepackt.
Auch mein Vater hat angefangen es mir nachzumachen und mit der Masse aufzuspringen, die Lieder mit zu gröhlen und das Team anzufeuern. Selbst meine Mutter scheint ihren Spaß zu haben. Das entnehme ich zumindest einmal der Tatsache, dass sie in der Pause angeblich nur kurz auf Toilette geht und am Ende erst kurz vor dem Anpfiff des zweiten Drittels wiederkommt, eingepackt in einen Schal in den Farben unseres Colleges. Der Anblick bringt mich zum Lachen, vor allem als sie aus ihrer Tasche einen zweiten Schal zaubert und ihn meinem Vater umwickelt. Zur Erklärung schenkt sie mir nur ein Zwinkern zusammen mit der Aussage: "Na, wenn meine Tochter etwas so begeistert, muss das doch einfach ansteckend sein."

Die zweite Hälfte geht ähnlich weiter wie die erste. Dem gegnerischen Team gelingt es zwar ebenfalls ein Tor zu schießen, aber erst nach dem wir 4:0 vorne liegen und man es den Armen wirklich gönnt.
Ich konzentriere mich derweil darauf die Anfeuerrufe und Lieder mir zu merken oder Gray zu beobachten. Er hat Recht viel Zeit auf dem Eis und es ist ihm anzusehen wie viel Spaß er hat. Selbst mit dem Helm und aus der Entfernung bin ich mir jedes Mal wenn er den Kopf in unsere Richtung dreht sicher, dass er sein übliches Grinsen aufgesetzt hat. Und ihm bei dem zu sehen, was er liebt, lässt auch mein Herz ganz warm werden.

Vielleicht bin ich deswegen mit einer ungewöhnlichen Zufriedenheit gefüllt, als auch das zweite Drittel vorbei ist und ich dieses Mal allein mit meiner Mutter sitzen bleibe, während  mein Vater loszieht, um uns Getränke zu erkämpfen.

"Und bei dir ist momentan alles gut, Spätzchen?"

Meine Mom betrachtet mich liebevoll, doch ich kann auch die Sorge in ihren Augen entdecken, die sich dort seit meiner Jugend eingenistet hat. Aber heute ist sie, anders als sonst, völlig unbegründet. Auch wenn ein Teil von mir es sich ungern eingesteht, Gray ist gerade dabei mich aus dem Loch zu ziehen,  in dem ich die letzten Jahre versunken bin.
Ich habe mir gern eingeredet, dass ich unabhängig und stark bin mit meiner Art andere von mir fern zu halten. Aber die Entwicklung, die ich mit Gray durchgemacht habe hat mir vor Augen geführt, dass es nichts anderes als Angst war. Vielleicht war mein Verhalten, zumindest für eine Zeit lang, gut und notwendig, um mir die Zeit zu geben mit mir selbst ins Reine zu kommen und die Schuld nicht länger mehr bei mir zu suchen. An mir ist absolut nichts falsch. Genauso wie an Alexis mit ein paar Pfund mehr nichts falsches dran war. Es sind die Leute, die uns das eingeredet haben, die falsch lagen. Die Schuld liegt bei denen, die uns die Schulzeit zur Qual gemacht haben. Die anders zu sein als etwas Schlechtes dargestellt haben. Und ich habe die Zeit gebraucht, in der ich mich nicht um das was andere sagen geschert habe, um auch aus tiefster Seele zu erkennen, dass es so und nicht anders ist.
Aber letztendlich ist es ungesund niemanden die Chance zu geben zu beweisen, dass er nicht so ist. Wenn ich aus Angst von Anfang an jeden verurteile so  zu sein wie Michael oder Joyce, dann muss es mich nicht wundern auch nie Leute kennenzulernen, die anders sind. Und ich muss mich auch nicht wundern niemanden kennenzulernen, der mich dafür mag wie ich bin.
Aber Gray hat mich letztendlich dazu gezwungen ihm eine Chance zu geben. Und ich könnte ihm nicht dankbarer dafür sein.
Mit einem Lächeln greife ich nach der Hand meiner Mutter und drücke sie einmal fest.

"Mom, mir könnte es nicht besser gehen."

Dem Seufzen meiner Mom ist die Erleichterung anzuhören und es ist irgendwie schmerzlich zu erkennen, wie besorgt sie tatsächlich gewesen ist. Ich hatte immer die Hoffnung alles was ich durchgemacht habe, sowohl das Mobbing selbst als auch die emotionale Tieffahrt danach, so weit wie möglich von meinen Eltern fernhalten zu können. Aber vielleicht wäre meiner Mom das Ganze sogar leichter gefallen, hätte sie die ganze Wahrheit gewusst und nicht nur den Teil, den sie sich zusammenreimen konnte.
Aber egal wie, jetzt ist der falsche Zeitpunkt das nachzuholen. Stattdessen will ich gerade den Mund öffnen, um meiner Mom zu sagen, wie lieb ich sie eigentlich habe, da erhellt sich mit einem Mal ihr Gesicht.

"Oh! Jetzt weiß ich, was ich total vergessen habe dir zu erzählen.".

Auf meinem Gesicht will sich gerade schon ein mildes Lächeln einstellen, weil ich genau weiß was für ein Redeschwall mich erwartet, da gefrieren meine Gesichtsmuskeln durch einen Namen, den sie ausspricht.

"Joyce ist von ihrer Europareise nach Hause gekommen. Wenn möglich ist die Süße noch hübscher geworden. Und einen süßen Italiener hat sie sich wohl auch angelacht."

Ich versuche so gut wie möglich auf Durchzug zu schalten und mir nicht anmerken zu lassen, dass ich am liebsten aufgestanden und davon gerannt wäre, während meine Mutter ein Lobeslied auf das Mädchen anstimmt, dass mir einen Großteil meiner Jugend das Leben zur Hölle gemacht hat.
Es tut weh meine Mutter etwas Gutes über dieses... Miststück sagen zu hören. Ich weiß, dass sie es nicht besser wissen kann, aber ein Teil von mir besteht einfach darauf, dass die Leute doch nicht so dumm sein können auf Joyce' gute Mädchen Fassade reinzufallen. Aber meine ganze Heimatstadt scheint das zu tun.

Joyce war immer und überall die Vorzeigetochter. Schülersprecherin, wohltätig engagiert, Ballkönigin. Wenn es eine Auszeichnung gab, dann hat Joyce sie auch abgestaubt. Ich kann mich noch zu gut an ihren Killerblick erinnern, als ich in der vierten Klasse gegen sie im Finale den Buchstabierwettbewerb gewonnen habe. Spätestens ab da stand ich auf ihrer Abschussliste.
Denn so ist Joyce: Alles was ihr nicht passt wird dem Erdboden gleich gemacht. Aber von der älteren Generation scheint jeder in ihr nur die zielstrebige, hübsche und liebenswerte Joyce zu sehen. Mir kommt es übel auf, wenn ich nur daran denke.

In dem Versuch mich solange zusammenzureißen, wie meine Mutter mir all diese ach so interessanten Dinge über meine größte Übeltäterin erzählt, kralle ich die Hände ineinander. Ich weiß dass meine Fingernägel sich tief in meine Haut graben, aber der Schmerz hilft nicht tief in einen Strudel aus Erinnerungen gezogen zu werden.

Und ich bin mir sicher, ich hätte es auch durchgehalten, hätte ich es wirklich geschafft einfach nicht zu zuhören, was sie zu Joyce zu sagen hat.
Aber das ist das Problem. Sobald es um Joyce geht würde ich am liebsten nichts wissen. Ha! Im optimal Fall würde ich das Mädchen am liebsten nicht einmal kennen! Aber es ist wie ein Unfall, den du eigentlich gar nicht sehen willst, aber doch nicht den Blick abwenden kannst: Ich sauge jede Information zu ihr auf und speichere sie unweigerlich ab. Als wolle ich mich selbst damit quälen zu wissen, dass jeder sie liebt.
Und da ich also mein Gehör nicht abstellen kann, während meine Mom weiter von unserem Sternchen erzählt, bekomme ich auch unweigerlich den Teil mit, der mich endgültig aus der Fassung bringt.

"Ach, und sie weiß jetzt endlich, was sie beruflich machen will. Wirklich, ich kann mir nicht vorstellen, zu wem das besser passen würde: Sie will Lehrerin werden! Engagiert wie immer hat sie sich auch schon um eine Praktikumsstelle bei uns an der Schule gekümmert und..."

Das Entsetzen muss mir ins Gesicht geschrieben sein, aber meine Mutter ist zu sehr in ihrem Redefluss vertieft, um zu bemerken, dass ich kurz davor stehe meinen Mageninhalt vor mir zu verteilen.
Das kann doch nicht wahr sein. Joyce, die Alexis Nutella auf den Stuhl geschmiert hat, damit es aussieht als hätte sie sich in die Hose gemacht. Joyce, die mit voller Absicht laut in der ganzen Klasse verkündigt hat, dass alle zu ihrem Geburtstag eingeladen sind, nur um Alexis und mir doch keine Einladung zu geben. Joyce, die mich um Hilfe bei den Hausaufgaben gebeten hat, nur um sie dann abzugeben und eine eins für meine Arbeit zu kassieren. Diese Joyce soll Lehrerin werden?

"Ach Gott, überleg mal wie schön es wäre, wenn du deine Kinder später zu ihr in den Unterricht schickst! Naja, vorausgesetzt natürlich ihr kommt beide in eure Heimatstadt zurück. Aber..." 

Ich unterrichte meine Kinder lieber privat selbst zu Hause als sie auch nur in die Nähe dieses Biests zu lassen. Mit steinerndem Gesichtsausdruck wende ich mich von meiner Mom ab und starre auf das Eis, unsicher was ich tun würde, wenn ich ihr weiter ins Gesicht schauen müsste.
Die Übelkeit und Angst, die auch nur die Erwähnung von Joyce Name in mir aufkommen lässt, werden langsam aber sicher von der Wut abgelöst, die ich in den letzten Jahren auf sie entwickelt habe. Es ist schlimm, dass dieses Mädchen noch nicht einmal anwesend sein muss, um mich wieder genauso schwach und unbedeutend wie früher fühlen zu lassen. Sie sollte absolut keine Macht mehr über mich haben.
Aber meine Mutter weiter und weiter von ihr erzählen zu hören, mit diesem liebevollen Tonfall, als wäre Joyce und nicht ich ihre Tochter, reißt ein Loch in meinem Herzen von neuem auf, von dem ich gerade erst das Gefühl bekommen hatte, dass es solangsam verwächst.

Jeder Mensch der uns beide kennt und den man vor die Wahl zwischen uns stellen würde, würde sich für Joyve entscheiden. So haben es alle Mitschüler immer gemacht. Still schweigend Joyce in ihren Taten bestätigt, weil niemand es sich mit ihr verspielen wollte. Und weil Alexis und ich nie auch nur ansatzweise so viel wert waren wie sie.

Ich bin froh als mein Vater endlich wieder zu uns stößt und damit meine Mom in ihrem Redefluss innehalten lässt. Denn ich bin mir nicht sicher, wie viel ich davon noch ausgehalten hätte. Auch so bin ich nicht Mal mehr in der Lage auch nur ein Wort zu einem der beiden zu sagen. Ich kann nur stumm mein Getränk entgegen nehmen und irgendwie einen Schluck davon herunterwürgen. Der einzige Grund weshalb ich darauf gleich den ganzen Becher herunterstürze ist, dass mein Vater erneut Bier mitgebracht hat und ich die Hoffnung habe, dass der Alkohol mir dabei hilft das hier durchzustehen.
Da glücklicher Weise dann auch direkt das letzte Drittel anfängt fällt es nicht allzu sehr auf, dass ich es nicht schaffe meiner Mutter ins Gesicht zu schauen.

Ich versuche mich wie in den ersten zwei Drittel wieder in dem Spiel zu verlieren, aber es will mir nicht so Recht gelingen, obwohl ich noch immer mit den anderen Fans aufspringe, noch lauter mitgröhle als zuvor und alles gebe, um Teil der Menge zu sein.
Aber das Gefühl nicht dazu zugehören will einfach nicht aufhören. Es ist als wäre ich immer eine Sekunde verzögert zu den anderen. Als würde meine Stimme sich nicht in den Gesang einfügen, sondern als einsame zweite Stimme darunter liegen. Und obwohl ich weiß, dass das alles nur in meinem Kopf ist, steigt innerhalb von zehn Minuten die alte Verzweiflung in mir auf.
Ich würde sie gerne abschütteln, aber ich bemerke bereits, wie sie mir den Hals zuschnürt und meine Augen zu brennen anfangen.
Ich kann nicht glauben, dass ich mich noch immer so sehr aus dem Gleichgewicht bringen lasse. Verdammt, ich bin zig Kilometer von meiner Heimat entfernt und trotzdem kann ich die Geister von dort nicht abschütteln!
Aber vielleicht ist es auch genau das: Ich habe mich aus meiner eigenen Heimat vertreiben lassen, während sie dort thront wie die Königin von allem. Ich bin weggerannt und habe mich hinter meinen Büchern versteckt. Aber Joyce' Schatten bin ich nie entkommen.

Ich schaffe es kaum bis zum Abpfiff des Spiels, bevor ich aufspringe und irgendetwas darüber, dass ich auf Toilette muss, zu meinen Eltern sage, bevor ich die Beine in die Hand nehme und wegrenne.
Weit komme ich nicht wirklich, da alle versuchen durch die Ausgänge nach draußen zu kommen, aber unter den Menschen kann ich wenigstens einfach abtauchen.
Ich klammere mich an Grays Trikot fest und stelle fest, dass das zumindest ein bisschen hilft, um meinen Herzschlag wieder runterzufahren. Es erinnert mich daran, dass es vielleicht doch jemanden gibt, der auf meiner Seite steht. Jemanden der sich die Mühe macht genauer hinzuschauen und aus welchen Gründen auch immer anscheinend mag, was er sieht.
Der Drang Gray zu sehen ist mit einem Mal übermächtig.

Mit zitternden Fingern kramme ich mein Handy aus der Tasche, sobald ich es endlich geschafft habe von den Tribünen runter zu kommen. Der rationale Teil von mir weiß, dass es nichts bringt ihn anzurufen. Gray wird jetzt mit seinem Team in den Umkleiden sein und den Sieg feiern und nicht auf sein Handy schauen. Immerhin haben sie mit 5:1 ziemlich eindrucksvoll gewonnen.
Aber der irrationale Teil von mir glaubt, dass er auf irgendeine Art und Weise wissen wird, dass ich ihn gerade brauche. Dass ich mich an irgendetwas festhalten muss und er der einzige ist, dem ich vertraue, dass er mich halten wird.

Aber wie immer siegt die Rationalität. Gray geht nicht ans Telefon. Und ich bin kurz davor in Tränen auszubrechen.
Ich reiße mich zusammen und setze mich in Bewegung ohne genau über den Weg nachzudenken. Ich weiß noch, dass ich mit Kayla viele Treppen hinunter musste. Allerdings bin ich dieses Mal auf der anderen Seite des Stadions und sobald ich das Treppenhaus einmal komplett hinunter gelaufen bin, weiß ich nicht weiter wo es lang geht.
Stehen bleiben kommt aber nicht infrage. Dann holen mich meine Gedanken wieder ein. Also laufe ich auf gut Glück in eine Richtung los.

Ich kann nicht glauben, dass Joyce Lehrerin werden will. Für sie war Schule doch nie ein Ort des Lehrens und Lernens, sondern nur der Treffpunkt für sie und ihre Freunde. Der Ort, an dem jeder nach ihrer Nase getanzt ist. Ist es das was sie sucht? Will sie Lehrerin werden um in den guten alten Zeiten zu schwelgen?
Aber eigentlich ist der Grund auch egal. Ich sollte vor Gericht gehen und dafür klagen, dass sie nie wieder einer Schule auch nur zu nahe kommt.

Die Gänge um mich herum sehen alle gleich aus und irgendwie befürchte ich, dass ich im Kreis laufe. Aber trotzdem wollen meine Beine einfach nicht innehalten. Sich zu verirren hört sich immer noch besser an, als wieder zurück zu meinen Eltern zu gehen und Gefahr zu laufen den Bericht meiner Mutter noch zu Ende anhören zu müssen.
Außerdem hilft es nach und nach die Gedanken abzustellen.
Ich unterdrücke sie, versuche meinen Kopf mit Leere zu füllen und das alles einfach von mir wegzuschieben.
Kann mir doch egal sein, was irgendein Mädchen hunderte Kilometer entfernt von mir macht. Kann mir doch egal sein, was meine Mutter redet. Kann mir doch egal sein was andere denken.

Ich ziehe meine Mauern hoch, sperre Seite für Seite die Verletzlichkeit aus, bis ich wieder normal atmen kann. Ich bin nicht auf die Meinung anderer angewiesen. Joyce hat absolut keine Macht über mich. Ich bin die einzige, die bestimmt wie mein Leben abläuft.

Irgendwie zittrig auf den Beinen halte ich inne und lasse mich mitten im Gang an der Wand herabrutschen. Mit geschlossenen Augen lehne ich den Kopf nach hinten und stoße die Luft durch den Mund aus.
Ich habe mich so darauf gefreut, dass meine Eltern zu Besuch kommen. Doch jetzt würde ich am liebsten wieder alleine sein. Allein in meinem Zimmer, ohne Menschen um mich herum, deren Bild man entsprechen soll. Den man gefallen will und denen man etwas vorspielen muss. Denn nichts anderes mache ich hier doch, wenn ich mit Grays Freunden abhänge, was mit ihnen trinken gehe und zu Pokerrunden komme. Ich versuche dazuzugehören.
Und trotzdem lande ich am Ende wieder irgendwo einsam in einem Gang und verstecke mich vor der Welt.

Schnaubend blicke ich mich um und kann gerade zu die Spinde sehen, die mich früher umgeben haben, wenn ich in der Schule ein ruhiges Plätzchen gesucht habe. Eigentlich hat sich doch nichts verändert. Ich habe mich nicht verändert, bin nur besser darin geworden mir selbst etwas vorzuspielen. So viel hat der Tag wohl gezeigt.

Und diese Erkenntnis tut weh. So weh, dass ich mir wünschte, ich wäre nie auf dieses Spiel gegangen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top