Kapitel 28

Eigentlich bin ich absolut nicht die Person, die mit Leuten viel über das Handy schreibt. Aber als ich am Sonntag - dieses Mal zu christlichen Zeiten - eine Nachricht von Gray erhalte, fliegen meine Finger geradezu über die Tastatur, während ich mir ein breites Grinsen nicht verkneifen kann.
Selbst als ich mich an meinen Schreibtisch setze und die Sachen auspacke, die ich noch nachbereiten muss, landet mein Handy nicht wie sonst irgendwo auf meinem Bett, sondern bleibt neben mir liegen, sodass ich nach jedem Sinnesabschnitt einen Blick darauf werfen kann. Und in den meisten Fällen habe ich eine Nachricht von Gray.

Es ist ein ungewohntes Gefühl mit jemanden dauerhaft in Kontakt zu stehen. Ich sehe Grays Sonntag fast bildlich vor meinen Augen und das ganz ohne ihn auch nur einmal persönlich gesehen zu haben. Mir tut es schon fast körperlich weh am Abend, oder doch eher schon in der Nacht, mich verabschieden zu müssen und das obwohl ich hundemüde bin. Das warme Gefühl in meiner Brust verwandelt sich in ein schmerzliches Ziehen, doch schlussendlich schaffe ich es meine Finger zu einem "Gute Nacht" zu zwingen und dann mein Handy mit dem Display nach unten auf meinen Nachttisch abzulegen. Denn würde ich sehen, wie der Bildschirm aufleuchtet, hätte ich mich nicht vom Antworten abhalten können.

Doch obwohl ich wirklich schlafen will, kann ich es mit einem Mal nicht mehr. Mit klopfenden Herzen drehe ich meinem Handy den Rücken zu, aber selbst das hilft nicht. Mit meinen Gedanken bin ich doch bei Gray.

Wird es jetzt immer so sein? Werde ich Morgens aufwachen und als erstes eine Guten-Morgen-Nachricht auf dem Handy haben? Wird er mich danach fragen wie mein Tag war und sich wirklich dafür interessieren? Werde ich absofort immer mit diesem bittersüßen Gefühl herumlaufen, in einer Mischung aus Freude und Angst?

Ich drücke meine Decke fest an meine Brust.
Es ist seltsam. Ich fühle mich besser als jemals zuvor und zu gleich so als würde ich am Rand eines Abgrundes stehen. Und ich habe Angst einen falschen Schritt zu machen. Bisher scheinen Gray meine Eigenheiten nichts auszumachen, aber wer garantiert, dass das so bleiben wird? Wer sagt dass er mich in einer Woche, einem Monat noch immer mag? Vielleicht bin ich ja auch nur ein kleines Abenteuer. Zugegebenermaßen wahrscheinlich kein sonderlich spannendes, aber vielleicht wollte er einfach einmal Abwechslung. Von all den hübschen, selbstsicheren und beliebten Mädchen. Und was ist, wenn er mich nicht mehr will, ich aber nicht mehr von ihm loskomme?

Ich spüre jetzt bereits wie wichtig Gray mir geworden ist. Dass ich kaum Dienstag abwarten kann und am liebsten wirklich sein Glücksbringer wäre. Damit er all seine Ziele und Träume erreicht.
Ich schließe die Augen und presse die Lippen fest aufeinander. Ich muss verhindern, dass ich von ihm derart abhängig werde. Mich an ihn festklammere, wenn er dann irgendwann genug von mir hat.

*****************

Ich bin stolz auf mich, als ich aus meiner Ökologievorlesung am Montagmittag komme. Seit dem Morgen, als ich tatsächlich eine Guten-Morgen-Nachricht hatte und allein weil es die Höflichkeit gebietet darauf geantwortet habe, habe ich nicht mehr auf mein Handy geschaut.

Gut, vielleicht war mir die ersten Stunden dafür dauerhaft flau im Magen. Ich weiß nicht was ich machen soll. Zulassen, dass da sich etwas zwischen uns entwickelt, obwohl selbst der Gedanke mich bitter auflachen lässt, denn ehrlich, wie verrückt hört sich das bitte an? Der Eishockeystar des Colleges und das kleine Mobbing Opfer? Das kann doch nur auf eine Art enden. Und eigentlich hätte es gar nicht beginnen sollen. Es gibt keine logische Erklärung, keinen Grund, weshalb Gray sich für mich interessiert. Und da ich diejenige sein werde, die am Ende des Ganzen am Boden zerstört sein wird, sollte ich aus reinem Selbstschutz einen Schlussstrich ziehen. Eine klare Grenze, so wie ich es bei jeder anderen Person auch handhabe.

Nachdem ich den ganzen Vormittag Zeit hatte mich davon zu überzeugen, hat tatsächlich sogar das Druckgefühl auf meiner Brust nachgelassen. So vielbeschäftigt wie Gray ist, kann es doch nicht so schwer sein, ihm aus dem Weg zu gehen. Also schiebe ich ihn gedanklich weg von mir und freue ich mich einfach darauf jetzt von Alexis mit einem Kaffee abgeholt zu werden und mit ihr gemütlich über den Campus zu schlendern.

Das denke ich zumindest, bis ich im Strom der anderen Studenten aus den Raum trete und Gray lässig an der gegenüberliegenden Wand gelehnt entdecke.
Es braucht nur seinen Schemen aus dem Augenwinkel und die mir noch eben so klar aufgerichtet erschienene Mauer klappt einfach wieder in sich zusammen.
Ich halte Mitten im Schritt inne, was den Kommilitonen hinter mir erst einmal voll in mich hineinrennen lässt. "He! Was..."

Ich höre nicht mehr, was man zu mir sagt, als Grays Gesicht sich erhellt, sobald er mich sieht, und er sich abstößt, um auf mich zu zuschlendern. Mein Herz ist bei zweihundert Schlägen die Minute angekommen. Wieso freut er sich so? Und wieso ist es schon fast ein Zwang, ebenfalls auf ihn zu zugehen? Wieso habe ich jegliche Selbstbestimmung verloren, wenn es um ihn geht?

"Hey Bunny."

Ich weiß nicht, was ich machen soll, aber um zumindest nicht zu hyperventilieren scheint es ganz sinnvoll zu sein, mich einfach auf den Kaffeebecher in seiner Hand zu konzentrieren.

"Es ist erschreckend leicht den Stundenplan von anderen herauszufinden. Du kannst froh sein, dass ich ein ganz harmloser Stalker bin."

Auch ohne hinzusehen, kenne ich das Grinsen mit dem Gray mich in diesem Moment betrachtet. Weil ich es die letzten Wochen so oft gesehen habe, dass es sich in meine Netzhaut eingebrannt hat. Seine funkelnden blauen Augen, das Grübchen in seiner Wange, die Unbeschwertheit, die Ehrlichkeit und die Liebenswertigkeit. Und mein Körper reagiert ganz von allein darauf mit einem kleinen Schmunzeln, obwohl in meinem restlichen Körper die Hölle ausgebrochen zu sein scheint.

"Bitteschön, dein Gray-Spezial."

Mit einem tiefen Atemzug nehme ich den Kaffee entgegen, in der Hoffnung, dass meine Hand nicht zittert, auch wenn ich mich fühle als würde ich kräftig ins Wanken geraten auf meiner Gratwanderung neben dem Abgrund.

Verdammt, reiß dich zusammen Row! Es gibt keinen Grund sich komisch zu verhalten. Wir haben uns geküsst. Super, das tuen zig Milliarden Menschen täglich und sie bekommen deswegen keinen halben Nervenzusammenbruch. Außerdem ändert es nichts daran, wer vor mir steht. Es ändert nicht einmal etwas an meinen Gefühlen, denn ganz ehrlich, ich bin Gray schon lange verfallen. Vielleicht seit meinem ersten Gray-Spezial-Kaffee oder seitdem ich es als selbstverständlich nehme, ihn neben mir in der Bibliothek sitzen zu haben. Macht ja auch keinen Unterschied, faktisch bleibt es die gleiche Ausgangslage: ich bin sowas von am Arsch.
Und ich wünsche es mir nicht anders.

Dem Ziehen in meiner Brust nachgebend mache ich einen Schritt nach vorne und lehne mich an diesen absolut unglaublichen Kerl, während mein persönliches Schicksal damit in Grays Hände übergeht.
Ein Teil von mir zittert, fleht ihn im Stillen an: "Bitte verletze mich nicht." Aber welche Zweifel oder Ängste ich auch habe, Gray kann sie ganz einfach damit zerstreuen, dass er seine Arme um mich legt.

"Hey, alles gut bei dir?"

Mir brennen die Augen, als ich sanft seine Hand an meinem Hinterkopf spüre und ich mein Gesicht an seiner Brust berge. Gott, ist ihm eigentlich klar, wie kaputt ich bin?
Ein Zittern durchfährt mich, aber Gray ist wie Balsam auf meiner Seele und ich schaffe es tatsächlich nicht in Tränen auszubrechen und ihn Rotz und Wasser heulend zu fragen, weshalb er sich überhaupt die Mühe mit mir macht. Sonst war ich doch auch noch niemanden das wert.
Aber ich verkneife es mir, ihm diese zerbrochene Seite von mir zu zeigen. Stattdessen erkämpfe ich mir meine Selbstbeherrschung zurück und löse mich vor Gray, bevor ich das nie wieder kann.

"Ja, tut mir leid. Ich war nur... Überrascht dich hier zu sehen."

Schüchtern schiebe ich eine Haarsträhne hinter mein Ohr, während Gray mich nicht wirklich überzeugt mustert. Aber bisher hat er noch nie genauer nachgehakt, wenn er bemerkt hat, dass ich nicht darüber reden will. Und das will ich nicht. Ich will das hier einfach nur genießen. So lange wie es auch halten mag.

Mit so viel Überzeugung wie möglich setze ich ein Lächeln auf und nehme einen großen Schluck des Kaffees. Er wärmt mich von innen und ich glaube dieser würzigsüße Geschmack ist für mich für immer mit Gray verbunden.

"Danke für den Gray-spezial."

Die tiefe Falte auf Grays Stirn vertieft sich für einen Moment und mein Herz setzt einen Schlag aus, in der Angst dass ich es mit meiner Aktion von gerade eben nun vermasselt haben könnte. Aber dann stößt Gray die Luft mit einem leisen Seufzen aus und schüttelt seinen Kopf kurz, bevor ein Lächeln wieder sein Gesicht ziert. Gott, ich kenne niemanden der ein schöneres Lächeln hätte.

"Also wenn ich jedes Mal so einen Empfang bekomme, wenn ich dich überrasche, habe ich eine neue Lebensaufgabe gefunden."

Ich presse die Lippen aufeinander und lasse den Blick schweifen, unsicher was ich darauf erwidern soll. Womit ich allerdings nicht gerechnet habe, ist einige Meter hinter Gray Alexis zu entdecken, die pantomimisch zu mir zu sprechen versucht. Ich will schon verwirrt die Stirn runzeln, als sie in einer ziemlich eindeutigen Geste die Arme um einen imaginären Partner legt und die Lippen spitzt. Stattdessen läuft dafür mein Gesicht rot an.

"Was ist denn da hinten?"

Suchend will sich Gray umdrehen, doch ich bekomme ihn am Arm zu fassen, bevor er Alexis entdecken kann, die mir jetzt ein Daumen hoch Zeichen gibt. Oh mein Gott, wieso bin ich mit diesem Mädchen befreundet?

"N...nichts! Also ähm... wenn du nur eine Umarmung willst Gray, dann hättest du das doch sagen können. Dafür musst du mich nicht extra überraschen."

Ich versuche mich an einer verführerischen Tonfall, aber um ehrlich zu sein höre ich mich wahrscheinlich nur so an, als wäre ich mitten im Stimmenbruch.
Aber Gray scheint es trotzdem von seinem Vorhaben abzubringen, denn sein verwirrter Gesichtsausdruck verändert sich zu einem schiefen Schmunzeln, dass mein Bauch zum Kribblen bringt, während sein Blick an Intensität zu nimmt.

"Oh Bunny, wir wissen beide das es nicht nur um eine Umarmung geht."

Verdammt, das ist eine sexy Stimme. Tief, schmeichelnd, verführerisch. Kein Wunder, dass die Mädchen Gray in Scharen hinterherlaufen. Ein Satz, bei dem er mich mit diesem Blick betrachtet, der nur allzu deutlich macht auf was er hinaus will, und meine Knie sind Wackelpudding. Und woher auch immer dieser Wagemut auch herkommt, anstatt davon eingeschüchtert zu sein stelle ich mich auf die Zehenspitzen, um ihm näher zu kommen.

"Ach ja, um was geht es sonst? Brauchst du Mal wieder Lernmotivation?"

Mit einem Brummen legt Gray seine Hände auf meine Hüften und zieht mich zu sich. Und obwohl alles in mir freudig angespannt ist, galoppiert dieses Mal mein Herz nicht davon.

"Row, treib es lieber nicht weiter. Ich habe kein Problem dich hier in aller Öffentlichkeit zu küssen. Um genau zu sein habe ich es nur aus Rücksicht auf dich bisher noch nicht gemacht."

Ich ziehe die Unterlippe für einen Moment zwischen die Zähne, abwägend ob ich diesen letzten Ausweg nutzen will. Aber bevor ich mich versehe entschlüpft mir schon ein leises: "Hier ist doch gar niemand mehr."

Und das stimmt. Der Gang hat sich geleert. Auch von Alexis ist keine Spur mehr zu sehen, womit meine Ausrede, dass ich Gray einfach nur ablenken will, auch nicht mehr gilt. Aber wer braucht schon ausreden, wenn diese sündhaft weichen Lippen, die sich bevor ich mich versehe auf meine legen, schon Begründung genug sind, alle Vorsicht über Bord zu werfen?
Ich bin nicht erfahren was küssen angeht. Eigentlich bin ich nicht sonderlich erfahren, was vieles angeht von dem was zwischen Gray und mir passiert. Aber er lässt mich mutig werden. Weil Gray mich noch nie verurteilt hat.

Ich lege eine Hand um seine Wange, spüre die rauen Bartstoppeln unter meinen Fingerkuppen und wie Gray als Reaktion darauf den Griff um meine Hüfte verstärkt. Irgendwann schwanken wir beide nach hinten, bis ich im Rücken die Wand spüre und ich glaube ich habe mich noch nie so sicher gefühlt, wie in dem Moment als Gray seine Arme links und rechts von mir abstützt und sich atemlos von mir löst.

"Ich glaube wir sollten an dieser Stelle lieber aufhören."

Völlig high kralle ich mich am Stoff seines Shirts fest und würde gerne alles tun, außer aufhören. "Wieso denn?"

Ohne großartig nachzudenken recke ich mich nach oben, um ihm einen ganz keuschen Kuss auf die Lippen zu drücken. Aber das lässt Gray gar nicht zu, der die kurze Berührung sofort nutzt, um mit einem Stöhnen den Kuss wieder zu intensivieren. Eine seiner Hände rutscht wieder zu meiner Taille hinab und als einer seiner Finger die Haut berührt, die mein hochgerutschtes Oberteil offenbart, durchfährt es mich wie ein Blitz.
Dieses Mal ist es an mir aufzukeuchen. So habe ich mich noch nie gefühlt. Ich glaube neben uns könnte eine Bombe einschlagen und es würde mich nicht interessieren. All die aufgewühlten Gefühle von heute Morgen kommen wieder auf, doch dieses Mal liegen sie mir nicht schwer im Magen, sondern geben mir ein Gefühl von Schwerelosigkeit. Aber Gray beendet den Kuss mit einem Mal wieder und schafft es damit tatsächlich mir ein unzufriedenes Murmeln zu entlocken.

"Hör auf, Bunny."

Ich spüre sein Grinsen als er sich hinunter beugt und mir einen Kuss seitlich auf den Hals drückt. Meine Haut steht an der Stelle augenblicklich in Flammen.

"Vielleicht will ich aber nicht."

Ich kichere auf, weil sein Atem mich am Hals kitzelt, aber als er mich an der gleichen Stelle erneut küsst wird das Geräusch schnell zu einem atemlosen Seufzen.

"Oh, von wollen kann bei mir auch nicht die Rede sein. Aber mir kommen Gedanken, die ich hier in der Öffentlichkeit lieber nicht haben sollte. Also haben wir gar keine andere Wahl."

Innerhalb von einer Sekunde hat mich Gray von der Wand weggezogen und schiebt mich vor sich den Gang entlang. Ich will mich schon beschweren, als ich die Stimmen höre und kurz darauf eine Gruppe Studenten plaudernd um die Ecke kommen. Fast augenblicklich verstecke ich mich hinter Grays breiten Schultern und spüre wie er hinter mir lautlos lacht.

Oh mein Gott. Wie muss ich aussehen? Habe ich gerade wirklich mitten auf einem Flur mit Jonah Grayham herumgemacht? Und wollte noch nicht einmal aufhören? Voller Scham glühen meine Wangen. Doch als ich fühle wie Grays Finger dieses Mal mit völliger Absicht unter den Saum meines Shirts fahren, weiß ich wieder, weshalb mein Kopf abgeschaltet hat. Dieser Mann ist mein Untergang.

******************

Zweiter Tag, zweite Guten-Morgen-Nachricht. Ich kann gar nicht anders als durch den ganzen Morgen mit einem Dauergrinsen zu schweben, während mein Herz Achterbahn fährt. Ich verstehe zwar immer noch nicht warum das Ganze passiert, aber ich komme nicht mehr gegen dieses kribbelnde Glück in mir an. Selbst dass es auf meinem Weg zum Campus anfängt zu regnen und ich nichts anderes als meine Jeansjacke habe um mich zu schützen, ändert daran kaum was.
Mir ist kalt und ich bin durchgenässt, aber lächeln tue ich immer noch, als ich mich in meinen Kurs setze.

Meine Jacke über den Stuhl neben mir hängend in der geringen Hoffnung, dass sie zumindest etwas trocknet, lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Der Professor ist noch nicht da, aber trotzdem ist es irgendwie ungewöhnlich leise. Und umso länger ich die kleinen Grüppchen betrachte, die beisammen sitzen und teils leise untereinander sprechen, desto unbehaglicher fühle ich mich. Und als ich ein Mädchen dabei erwische, wie sie schnell den Blick abwendet, als meiner zu ihr schweift, weiß ich auch wieso.

Sie reden über mich. Na gut, nicht alle. Es gibt genug die ganz normal miteinander schwatzen und die Zeit nutzen, bevor die Vorlesung anfängt. Aber da sind mehrere Gruppen, die ungewöhnlich geheimnisvoll die Köpfe zusammenstecken.
Unbehaglich rutsche ich auf meinem Stuhl herum und blicke starr nach vorne. Aber das Gefühl beobachtet zu werden wird dadurch trotzdem nicht besser.

Eigentlich hätte ich es mir ja denken können. Nicht nur, dass jeder der in den letzten Wochen in die Bibliothek gekommen ist Gray bei mir gesehen hat, am Samstag haben wir in aller Öffentlichkeit miteinander getanzt. Es war nur allzu deutlich, dass ich seine Begleitung war. Theas Aushorchen hätte mich herauf vorbeireiten sollen. Gray ist ein Sportler. Sein Privatleben ist in den Augen anderer alles außer privat. Und damit bin ich jetzt wohl auch ein Objekt des öffentlichen Interesses. Oh Gott.

Ich war noch nie so dankbar wie heute meinen Professor fünf Minuten später den Raum betreten zu sehen. Ich habe das letzte Jahr damit verbracht so gut wie möglich unter dem Radar zu fliegen, doch jetzt ist es so als hätte man Flutlichter auf mich gerichtet.

Auch als ich mich später auf den Weg zur Bibliothek mache, immer noch im schüttenden Regen, bemerke ich mehr Blicke als sonst, die mir folgen. Ein paar Mädchen schenken mir sogar ein kleines Lächeln, als sie mir entgegenkommen, aber ich bin zu verschreckt, um darauf zu reagieren.
Ich zittere, als ich die Bibliothek betrete, doch ich zwinge mich dazu mich zusammenzureißen. Ich werde die nächsten Stunden hinter einem öffentlichen Informationsschalter sitzen. Da kann ich nicht wegen jeder Person, die mich länger als eine Sekunde anschaut ausrasten.

Außerdem wird auch Gray bald hier sein. Das lässt sowohl mein Herz erfreut hüpfen, als auch den Knoten in meinem Magen etwas fester werden. Es ist doch eh schon zu spät, die Leute wissen bereits Bescheid. Und wenn ich Gray haben will führt gar kein Weg daran vorbei mich dem zu stellen.

Mit einem Seufzen mache ich mich zunächst auf den Weg zu den Toiletten, um meine Haare auszuwringen, bevor ich alles voll tropfe. Gegen meine nasse Kleidung kann ich allerdings nichts machen, also halte ich nur kurz meine kalten Finger unter warmes Wasser, damit sie auftauen, trockne mir mit den Papierhandtüchern nicht nur die Hände sondern auch einmal das Dekolté und das Gesicht und laufe schicksalsergeben wieder nach vorne.
Mir tut es um das Stuhlpolster leid, als ich mich mit meinen nassen Hosen auf meinen Platz fallen lasse, aber ich werde die nächsten Stunden definitiv nicht stehen.

Wie immer ausgerüstet packe ich meine Unterlagen aus und versuche etwas über das endokrine System zu lernen, während ich Bücher verlängere, mir Beschwerden über kaputte Einbände und zerrissene Seiten anhöre und dabei versuche zu ignorieren wie viele mir unbekannte Gesichter sich länger als sonst zu mir wenden.

Das ist schrecklich.
Wie schafft es Gray nur von jedem mit diesen neugierigen Blicken betrachtet zu werden, als dürfe man kein Privatleben mehr haben? Ich merke selbst, dass ich angespannter bin als sonst. Meine Antworten fallen kurz aus und ich blicke andauernd von meinen Unterlagen hoch, weil ich das Gefühl habe beobachtet zu werden. Es ist wie ein Jucken, das nicht weggehen will.

Erst als die Tür ein weiteres Mal aufschwingt und dieses Mal eine mir nur allzu vertraute Gestalt die Bibliothek betritt, lockern sich meine verkrampften Schultern wieder.
Mit einem Seufzen schaue ich Gray entgegen, der unbesorgt wie eh und je hereingeschlendert kommt. Er tippt noch schnell etwas auf seinem Handy, doch sein Grinsen hat sich bereits eingestellt, bevor er den Kopf hebt. Wie kann allein sein Anblick mich nur schon so beruhigen?

"Hey Bunny. Mann, was ist das nur für ein Wetter drau..."

Sobald er meine nassen Haare bemerkt bleibt Gray mitten im Schritt stehen und runzelt besorgt sie Stirn. "Dich hat es wohl schlimmer erwischt als mich."

Erleichtert endlich wieder Atmen zu können, obwohl Grays Anwesenheit doch eigentlich die Aufmerksamkeit, die man mir mit einem Mal schenkt nur noch schlimmer machen wird, will ich schon abwinken. Doch ein Niesen ist alles was ich herausbekomme, als ich den Mund aufmache. Aber das ist wohl auch eine Art Antwort.

Ich höre nur Grays Lachen, als ich mir die Haarsträhnen aus den Gesicht streiche, die nach vorne gefallen sind. Dann wird eine Tasche hinter den Tresen geschwungen und kurz darauf lässt er sich auf den Stuhl neben mich fallen. "Warte, ich glaube ich kann dir helfen."

Verwirrt beobachte ich Gray, wie er in seiner Tasche zu kramen beginnt, während ich ein Tempo aus einer Schublade zaubere. Oh Mann, bitte habe ich mich nicht erkältet. Ich war viel zu angespannt, um zu bemerken, wie kühl mir in meinen nassen Klamotten geworden ist.

"Hier. Du musst in trockene Kleider kommen."

Überrascht betrachte ich das Shirt, welches Gray mir hinhält und nehme es nur zögerlich an, als er ungeduldig damit vor meiner Nase herumzuwedeln beginnt.

"Aber... Brauchst du das nicht selbst?"

Ich betrachte Gray, der seine regenfeste Jacke abstreift und darunter ein perfekt trockenes Shirt offenbart.

"Das sind nur meine Wechselklamotten für nach dem Training, aber ich kann genauso gut das hier nochmal anziehen. Im Gegensatz zu dir. Du scheinst das Shirt nötiger zu haben als ich."

Gray betrachtet mich mit einem kleinen Lächeln, aber ich fühle mich trotzdem nicht gut, ihm seine Wechselklamotten wegzunehmen.

"Ach was, bei mir ist alles gut. Behalte deine..."

Mit einem nur allzu deutlichen Kopfschütteln drückt Gray meine Hand weg, als ich ihm das Shirt zurückgeben will.

"Row in den Klamotten holst du dir noch den Tod. Und denk erst gar nicht daran mit mir darüber zu diskutieren, denn du hast morgen als mein Glücksbringer die Verpflichtung mich in einem Pokerwettbewerb zu unterstützen. Da brauche ich dich in Top-Form."

Ich rümpfe die Nase und lasse das Shirt in meinen Schoß fallen, um meinen strengen Blick durch vor der Brust verschränkte Arme zu unterstützen.

"Fängt das jetzt wieder an? Ich bin zu rein gar nichts verpflichtet."

Gray schaut sich einmal im Raum um, bevor er sich verschwörerisch zu mir beugt. Ich will es ihm gleich tun, doch hier ist niemand und als sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt ist, gibt es wichtigeres.

"Nein bist du nicht. Aber ich gehe davon aus, dass du gerne Zeit mit mir verbringst."

Ich will gerade zu einer empörten Antwort ansetzen, wegen dieser unverschämt selbstüberzeugten Aussage, da verschließen seine Lippen auch schon meine und lassen mich alle Worte vergessen.
Auch als er sich wieder von mir löst und mich mit einem schiefen Grinsen betrachtet ist mein Gehirn noch im Ausnahmezustand. Also funkle ich ihn nur grimmig an.

"Also, gehst du dich jetzt umziehen oder soll ich dir dabei helfen?"

Wir vertiefen uns in ein Blickduell. Er mit einem breiten Grinsen ich mit schmallen Augen. Denn auch wenn ich natürlich froh bin aus meinen nassen Kleidern rauszukommen, will es mein Stolz nicht zu lassen so bevormundet zu werden.
Aber gegen das erneute Niesen kommt auch mein Stolz nicht an, sodass ich die erste bin, die den Blickkontakt unterbricht. Also schniefe ich, greife wieder nach dem Shirt und stehe mit einem geschlagenen Seufzen von meinem Stuhl auf.

"Ich bin schon groß, umziehen bekomme ich da gerade so schon alleine hin."

Ich will das Siegeslächeln auf seinem Gesicht gar nicht sehen, aber es ist selbst seinem Tonfall anzuhören, als Gray mir ein "Das nehme ich auch als ein Ja zu morgen!" hinterherruft.

Er ist und bleibt ein unverbesserlicher Vollidiot.

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