Kapitel 20
Am Mittwochnachmittag sitze ich gezwungenermaßen im Café anstatt an meinem Schreibtisch, um die Dinge nachzuholen, die ich gestern vor lauter Nervosität nicht mehr geschafft habe. Aber ich kann von Glück sprechen, dass Alexis nicht noch gestern Nacht vorbeigekommen ist, um jedes Detail aus mir herauszuquetschen. Also will ich mich eigentlich nicht darüber beschweren jetzt mit einem Kaffee in der Hand ihr gegenüber zu sitzen.
"Okay, fang ab dem Moment an, als ich die Tür hinter dir geschlossen habe. Ich will einen zeitgetreuen Bericht!"
Alexis grinst mich über die Wasserflasche vor ihr hinweg an und ich muss über sie schmunzelnd die Augen verdrehen. Aber auf der anderen Seite kann ich ihr ihre Aufregung nicht übelnehmen. Immerhin stand ich gestern auch ein paar Mal kurz vor einem Herzinfarkt.
"So großartig viel ist nun auch nicht passiert, Lex."
Zumindest wenn ich es objektiv im Rückblick betrachte. Dass ich, als ich zu Hause angekommen bin, noch über eine Stunde hellwach im Bett gelegen habe, um alles zu verarbeiten, spricht subjektiv nicht unbedingt dafür. Aber ich verstehe mein Innenleben im Moment ja selbst nicht, wie soll ich es dann in Worte fassen?
Alexis scheint mir meine Aussage allerdings sowieso nicht abzunehmen, sondern verdreht nur stöhnend die Augen.
"Ich sehe schon, ich werde dir alles einzeln aus der Nase ziehen müssen. Dann fangen wir Mal ganz allgemein an: Hattest du denn... Spaß?"
Für die meisten würde die Frage ziemlich lächerlich erscheinen, aber zwischen Alexis und mir hat sie eine tiefere Bedeutung und ich kann ihr an den Augen ablesen, wie wichtig für sie die Antwort ist. Sie hat Angst, dass an dem Abend irgendetwas schlimmes passiert ist.
"Ja, ich hatte tatsächlich Spaß."
Und weil mich das aus welchem Grund auch immer verlegen macht, spiele ich an meiner Kaffeetasse herum, anstatt meiner besten Freundin ins Gesicht zu blicken, als diese freudig aufquietscht.
"Sehr schön! Dann jetzt in chronologischer Reihenfolge. Wie war die Autofahrt? Wie war Gray? Wie war..."
"Okay, okay! Ich erzähle ja schon von mir aus. Aber hör auf mit all diesen Fragen. Und hör vor allem auf so laut zu reden."
Mit roten Wangen blicke ich mich nach links und rechts um, in der Hoffnung, dass niemand in unserer Umgebung Grays Namen gehört hat. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl bei dem Gedanken, jemand könnte mitbekommen, dass Gray und ich etwas privat zusammen unternommen haben. Eigentlich ist es schon ein Wunder an sich, dass noch kein eifersüchtiges Mädchen in der Bibliothek aufgeschlagen ist.
"Was? Wieso denn? Willst du nicht, dass ich ganz laut verkünde...", als Alexis mit einem hinterlistigen Lächeln immer lauter spricht beuge ich mich panisch zu ihr hinüber und halte ihr den Mund zu.
"Lex, das ist kein Spaß!"
"Also ich finde ja schon", nuschelt sie gegen meine Hand und ich ziehe sie mit einem angeekelten Gesichtsausdruck weg, um sie mir an der Hose abzuwischen.
"Wenn du willst, dass ich noch irgendwas erzähle, solltest du das lieber nicht so sehen."
Herausfordernd funkle ich sie an und sie hebt mit einem geschlagenen Seufzen die Hände.
"Okay, ich bin still. Und jetzt schieß los!"
Erleichtert lasse ich mich in meinen Stuhl zurückfallen und nehme einen Schluck von meinem Kaffee, um ein paar letzte Sekunden Zeit zu gewinnen.
"Ich hatte zu Anfang echt Schiss", fange ich schließlich mit einem Geständnis an und spiele mit meiner Tasse, in der Hoffnung dass es dadurch leichter wird die Dinge laut auszusprechen. "Gray ist so... So offen. Das komplette Gegenteil von mir. Und seine Freunde sind genauso. Ich habe damit gerechnet, dass ich mich wie aussätzig fühlen würde. Aber...", hilflos zucke ich mit den Schultern. "Irgendwie haben sie das gar nicht zugelassen. Irgendwie hat Gray das gar nicht zugelassen."
Mit einem Seufzen stütze ich mein Kinn auf und wage ein Blick zu Alexis, die mich nur aufmerksam anschaut. Ich weiß nicht weshalb ich mich so schwer tue mit ihr zu reden. Sie versteht am besten von allen wie es mir geht. Aber mit Gray habe ich irgendwie das erste Mal das Gefühl etwas zu erleben... Was jemand Außenstehendes gar nicht nachvollziehen kann.
"In dem Pub, in dem wir waren, wurde so ein Quiz veranstaltet. Und die Jungs waren total scharf darauf zu gewinnen, weil als Preis alle Getränke aufs Haus gingen."
Ich kann nicht anders als anzufangen zu grinsen, als ich mich daran erinnere wie die Jungs ausgeflippt sind, als schließlich unser Tisch als Sieger verkündet wurde. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und ich wäre wieder auf Bas Schulter gelandet.
"Und du... Du hast mitgespielt?"
Die Verwunderung in Alexis Stimme überrascht mich nicht. Ich stelle mich ungern in der Öffentlichkeit zur Schau und erst recht nicht mit meinem Wissen. Mit einem zögerlichen Lächeln nicke ich.
"Ja, vielleicht etwas gezwungenermaßen, aber ich habe mitgemacht."
Alexis starrt mich für einen Moment mit offenem Mund an, bevor sich der erstaunte Gesichtsausdruck langsam in ein breites Grinsen verwandelt.
"Okay, Gray ist hiermit offiziell zu meinem Lieblingsmensch des Jahres erklärt. Ist denn sonst noch was vorgefallen?"
Sie wackelt anzüglich mit den Augenbrauen, um klar zu machen auf was sie hinaus will, und ich stöhne innerlich auf, denn auf die Frage habe ich eigentlich schon die ganze Zeit gewartet. Aber deswegen bin ich dagegen auch gewappnet und kann entschieden den Kopf schütteln, obwohl mein Bauch zu kribbeln anfängt.
"Nein. Alles absolut freundschaftlich."
Und das stimmt. Umarmungen sind freundschaftlich.
Natürlich ist das nicht unbedingt, was Alexis hören wollte, weshalb sie einen Schmollmund zieht, aber anscheinend reicht die Tatsache, dass ich mit einer Horde Eishockeyspieler abends einen trinken war, um ihre Stimmung schnell wieder aufzuheitern. Zumindest fängt sie keine Minute später wieder zu grinsen an.
"Naja, was noch nicht ist, kann ja noch werden. Du siehst ihn morgen wieder, oder?"
Am liebsten würde ich Alexis den wissenden Ausdruck aus dem Gesicht wischen. Das Problem ist nur, dass das aufgeregte Flattern in meiner Brust, wenn ich daran denke morgen wieder zu arbeiten, ihr insgeheim Recht gibt. Ich freue mich darauf Gray zu sehen. Aber das muss mir ja nicht direkt anzusehen sein, also versuche ich so nüchtern wie möglich zu nicken und mir nichts anmerken zu lassen. Das funktioniert auch ganz gut, bis mir bei meinem nächsten Schluck Kaffee noch eine Sache einfällt, die doch vielleicht erwähnenswert ist.
"Oh, und ich habe versprochen am Samstag auf ihr Spiel zu kommen."
Alexis, die ebenfalls gerade am trinken ist, verschluckt sich heftig an ihrem Wasser und hustet sich die Seele aus dem Leib, während ich rot anlaufe. So sitzen wir aber zumindest beide mit hochrotem Kopf da, als Alexis wieder normal Luft bekommt und mich wie ein Ufo anstarrt.
"Du hast was?", krächzt sie und ich richte mal wieder meinen Blick auf die Tasse vor mir.
"Sie haben mich dazu überredet auf ihr Spiel zu gehen. Ist doch nichts Besonderes."
Von Alexis ist ein schnaubendes Lachen zu hören, bevor sie meine Hand greift und mich damit dazu bringt zu ihr zu schauen.
"Nichts Besonderes, Row? Ich brauche fast ein halbes Jahr Vorlauf, um dich auch nur dazu zu bewegen mit mir irgendwo hinzugehen, wo mehr als zehn Menschen anwesend sind. Und Gray hat es geschafft dich innerhalb von einem Abend dazu zu bewegen auf eine Sportveranstaltung zu gehen, mit mehreren tausend Zuschauern? Das ist definitiv etwas Besonderes!"
So ausgedrückt... Hört es sich wirklich nach etwas Großem an und das lässt meine Wangen nur noch mehr brennen.
"Naja, eigentlich versucht Gray mich schon seit zwei Wochen dazu zu bringen, so gesehen...", versuche ich mich herauszureden, aber das lässt Alexis Augen nur noch größer werden.
"WIE BITTE? Und davon erfahre ich erst jetzt? Roween Mathews, was verheimlichst du mir sonst noch?"
Verlegen lächle ich und fahre mir über mein Piercing.
"Naja, ich glaube damals hat er es nur als Spaß gemeint. Irgendwas von wegen Verpflichtungen, weil ich sein Bunny bin..."
Wieder komme ich nicht dazu auszusprechen, weil mich Alexis mit einem dramatischen nach Luft schnappen unterbricht.
"Sein Bunny?"
Im Gegensatz zu meinem unwissenden Ich vor der Party sich wohl völlig darüber bewusst, was dieser Spitzname im Normalfall bedeutet, starrt mich Alexis in einer Mischung aus Entsetzen und Belustigung an. Irgendwie ist es für mich allerdings inzwischen so normal geworden von Gray so genannt zu werden, dass ich nur mit einem Seufzen reagiere und ergeben mit den Schultern zucke. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, diesen Spitznamen nochmal los zu werden.
"Ja, wegen diesem verfluchten Ritual, in das du mich da mit hineingezogen hast! Deswegen habe ich auch immer noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen, meine Liebe!"
Mein erhobener Zeigefinger lässt Alexis kichern, während sie sich langsam aber sicher von ihrem Schock zu erholen scheint.
"Ach komm, schau was sich jetzt im Nachhinein alles daraus entwickelt hat. Eigentlich solltest du mir dankbar sein."
Finster runzle ich die Stirn, was Alexis nur noch mehr zum Lachen bringt.
"Ganz sicher nicht."
Doch noch bevor Alexis darauf etwas erwidern kann, schweift ihr Blick hinter mich und bleibt dort an etwas hängen, das sie erschrocken innehalten lässt.
"Scheiße!"
Mit einem Mal gar nicht mehr in Kicherlaune dreht sie sich zur Seite und hält sich eine Hand vors Gesicht, während ich mich verwundert umdrehe, um zu sehen, was sie so erschrocken hat. Aber alles was ich erblicke ist ein plauderndes Pärchen, das gerade zur Tür hineinkommt. Und die Art und Weise, wie die beiden sich in den Armen liegen sieht eigentlich alles andere als furchterregend aus.
Mit gerunzelter Stirn drehe ich mich wieder zu meiner besten Freundin um, die versucht sich hinter ihrer Wasserflasche zu verstecken. Wie man sich vorstellen kann, gelingt das nur mit mäßigem Erfolg.
"Lex, was ist los?"
Ihren Blick hinter mich gerichtet, fährt Alexis sich mit einem Stöhnen über das Gesicht.
"Der Kerl, der gerade hereingekommen ist? Mit dem hatte ich was am Samstag."
Erstaunt ziehe ich die Augenbrauen hoch und blicke mich erneut um, ob ich einen einzelnen Mann übersehen habe. Aber die einzigen Neuankömmlinge, die sich zum Bestellen an den Verkaufsschalter anstellen, ist das Pärchen.
"Okay und seit wann versteckst du dich vor deinen alten Flammen?"
"Seitdem ich nicht wusste, dass sie eigentlich in einer Beziehung sind."
Alexis presst die Worte angespannt hervor und geht wieder dazu über ihr Gesicht mit einer Hand abzuschirmen. Und da geht auch mir ein Licht auf und ich blicke mit einem stummen "Oh" zu dem Jungen, der so vertrauensvoll einen Arm um seine Freundin geschlungen hat. Die er anscheinend erst am Wochenende betrogen hat.
"Nicht gut."
"Nein, absolut nicht gut. Verdammt, hätte ich das gewusst, wäre da nie was gelaufen! Sowas macht nur Probleme."
Wieder erklingt ein frustriertes Stöhnen und dieses Mal kann ich Alexis nur zu gut verstehen.
"Komm, lass uns hier abhauen, bevor er mich noch sieht und irgendwas dummes passiert."
Und so nutzen wir die Gelegenheit, als die zwei ihre Bestellung aufgeben, um uns heimlich hinter ihnen aus dem Café zu schleichen.
************
Es ist ein Gefühl, dass mich am Donnerstagmorgen im Vorlesungssaal noch einmal kurz auf mein Handy schauen lässt, bevor der Kurs losgeht. Damit, eine Nachricht von Gray zu haben, habe ich aber nicht gerechnet und es beschleunigt meinen Herzschlag sofort. Fehlt ja nur noch, dass ich anfange wie eine Bekloppte zu lächeln. Doch das wäre mir wahrscheinlich eh vergangen, sobald ich die Nachricht gelesen habe. So ist es zumindest mit dem freudigen Kribbeln in meinem Bauch.
Gray: Sorry Bunny, ich schaffe es heute Nachmittag nicht :( hoffe du bekommst den Tag auch ohne meine einnehmende Persönlichkeit rum ;) und vergiss nicht Kayla für Samstag deine Adresse zu geben
Eigentlich ist es von ihm ziemlich nett, mir Bescheid zu geben. Ich kann mich nur zu gut an letzte Woche erinnern, als ich auf heißen Kohlen saß. Trotzdem wünscht sich ein Teil von mir einfach gar keine Nachricht erhalten zu haben, denn irgendwie ist mir jetzt die gute Laune vergangen. Und das gestehe ich mir wirklich nur sehr ungern ein.
Außerdem bleibt mir nicht einmal die Zeit, mir eine gescheite Antwort auszudenken, da tritt meine Professorin auch schon nach vorne ans Pult. Also tippe ich nur schnell halb blind unter dem Tisch etwas, dass in etwa "Okay danke fürs Bescheid geben" lautet und hoffentlich nicht zig Tippfehler beinhaltet. Danach lasse ich mein Handy in die Tasche fallen und fokussiere mich auf meine Vorlesung. Zumindest das bekomme ich nämlich noch hin, ohne dass mich Gedanken an Gray ablenken.
"Guten Morgen, meine Herrschaften. Bevor wir heute beginnen möchte ich wie angekündigt die Themen für die Projektarbeiten der nächsten Wochen vergeben."
Professor Ming blättert in ihren Unterlagen und im Raum wird es lauter, weil die Leute untereinander zu tuscheln anfangen. Ich im Gegensatz stöhne nur im Stillen auf und hätte am liebsten das Gesicht in den Händen vergraben. Verdammt, das hatte ich total verdrängt.
An sich sind die Projekte ziemlich cool. Psychologie ist zwar nur ein freiwilliger Kurs von mir, aber die Themen sind spannend und die Projektarbeiten geben einem die Möglichkeit sich vom Inhalt der Vorlesung losgelöst in einen Themenbereich vertieft einzuarbeiten. Was eigentlich voll mein Ding wäre... Müsste nicht in Zweierteams gearbeitet werden.
"Und Sie müssen erst gar nicht anfangen sich untereinander abzusprechen, ich habe die Paare eingeteilt und ohne triftigen Grund wird auch nicht getauscht."
Bei dem strengen Blick, den die Professorin uns über den Rand ihrer Brille hinweg schenkt, geht dieses Mal ein Stöhnen durch die Menge. Aber sich mit Professor Ming anzulegen hat jeder schon nach der ersten Stunde aufgegeben. Die Frau hat es faustdick hinter den Ohren und dafür bewundere ich sie. Vor allem, weil sie fachlich ein Genie ist und wenn es darauf ankommt genauso weiche Saiten aufziehen kann. Sie lässt sich nur einfach nicht auf der Nase herumtanzen.
"Gut dann fangen wir an: Svenja Thomson und..."
Ich höre mit halbem Ohr zu, wie ein Name nach dem anderen aus dem Kurs genannt wird und welche Themen verteilt werden. Dabei fange ich an auf den Rand meines Blockes zu kritzeln. Viereck für Viereck fülle ich das karierte Blatt aus, bis mein Name aufgerufen wird.
"Elizabeth Flynn und Roween Mathews. Ihr Thema: Psychosomatik."
Ich hebe den Arm, damit meine Projektpartnerin mich entdecken kann und drehe mich gleichzeitig um, um selbst zu sehen, welche arme Seele mir zugeteilt wurde. Es ist ein Mädchen, vier Reihen hinter mir mit honigblonden Haaren und einem babyblauen Oberteil, die mir begeistert zu grinst, als sie mich entdeckt. Na super. Das wird ja spaßig.
Aus Höflichkeit ziehe ich die Mundwinkel leicht nach oben, wende mich dann aber schnell wieder ab, um die letzten Sekunden meines Friedens zu genießen. Das Mädchen sieht so aus, als würde es viel und gerne reden. Und das beißt sich ziemlich mit meiner Vorstellung davon, wie diese Projektarbeit verlaufen soll.
Eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf erinnert mich daran, dass da ein anderer Idiot mit großer Klappe ist, den ich inzwischen sogar gerne ertrage, aber ich verweigere mir den Vergleich zu Gray. Das ist einfach etwas anderes. Und ich bin nicht in der Stimmung mich vor mir selbst rechtfertigen zu müssen.
Als Professor Ming mit ihrer Liste fertig ist, habe ich fast den ganzen linken Rand meines Blockes ausgefüllt. Und dabei ist deutlich zu sehen, dass nach unten hin der Stift mit immer mehr Druck geführt wurde. Gruppenarbeit ist einfach so gar nicht meins. Es weckt nur alte Erinnerungen und ob ich sie vergessen will oder nicht, sie haben meine Einstellung geprägt. Ich vertraue meinen Projektpartnern nicht, noch will ich mich mit ihnen treffen, um unproduktiv drei Stunden zu verschwenden, nur um am Ende doch alles selbst machen zu müssen. Da habe ich lieber den doppelten Arbeitsaufwand und muss mich dafür nur auf mich selbst verlassen. Ich reibe mir über meine Brust, als diese zu schmerzen anfängt. Ich kenne dieses Ziehen. Es ist ein Abklatsch der alten naiven Hoffnung, die ich jedes Mal empfunden habe, wenn ich mit Joyce oder Michael zusammen in einer Gruppe eingeteilt worden war und dachte dieses Mal würde es anders ablaufen. Dieses Mal würden wir Freunde werden.
"Gut, dann wäre das ja erledigt. Ich gebe ihnen am Ende der Stunde eine Viertelstunde, um sich mit ihrem Partner zusammenzusetzen und die nächsten Schritte zu besprechen. Alle benötigten Texte und Informationen finden Sie in einem Ordner auf unserer Website. Ich erwarte ein dreißigminütiges Referat mit Handout und Präsentation. Machen Sie es interessant, interaktiv und zu Ihrem Spezialgebiet! Die fertige Präsentation will ich von allen bis spätestens in drei Wochen haben."
Damit klappt Professor Ming ihren Ordner zu legt ihn zur Seite und öffnet ihre eigene Powerpoint, als Signal, dass es nun mit dem klausurrelevanten Stoff weiter geht. Mein Stift schwebt bereits erwartungsvoll über dem Papier, da öffnet Professor Ming erst den Mund.
"Wir sind letzte Woche bei der Dissonanz Theorie stehen geblieben. Kann jemand nochmal in eigenen Worten zusammenfassen, um was es dabei geht?"
Meine Hand schießt in die Höhe und die nächste Stunde vergeht wie im Rausch. Ich bin voll konzentriert und habe diese verdammte Gruppenarbeit schon fast vergessen, da gibt uns Professor Ming wie angekündigt die letzten fünfzehn Minuten Zeit, um uns zusammenzusetzen, anstatt mit ihrem viel interessanteren Vortrag weiter zu machen. Und bevor ich mich mental darauf vorbereiten kann, sitzt auch schon ein strahlendes, in babyblau gekleidetes Mädchen neben mir.
"Hi, ich bin Elizabeth, aber nenne mich einfach Beth. Und du bist Roween, richtig?"
Ich starre auf die Hand, die mir hingehalten wird und nehme sie mit einem leisen Seufzen an.
"Einfach nur Row."
„Oh, da steht wohl noch jemand nicht auf seinen vollständigen Namen. Ich hasse es, wenn mich jemand Elizabeth nennt, dann komme ich mir gleich fünfzig Jahre älter vor."
Beth lacht auf und legt sich eine Hand auf die Brust und ich nicke mit einem verkrampften Lächeln, als würde ich voll und ganz verstehen, was sie meint. Insgeheim finde ich jedoch Beth noch viel schlimmer. So hieß eine Großtante von mir. Wenn man Elizabeth schon abkürzt, um es jugendlicher zu machen, wieso dann nicht Liz? Oder von mir aus auch Eliza, selbst wenn das ebenso negative Implikationen in mir weckt.
Aber eigentlich kann es mir ja auch egal sein.
„Okay, was hältst du davon: Wir teilen uns die Arbeit gleich zu Anfang auf, jeder macht seine Hälfte und dann müssen wir uns nur noch für die Präsentation treffen."
Als wäre das Thema für mich bereits erledigt, packe ich meine Sachen zusammen und werfe meiner neuen Projektpartnerin nur noch einen kurzen Blick zu. Diese scheint meine Schwingungen jedoch empfangen zu haben oder zumindest blickt sie nicht mehr ganz so begeistert drein, wie noch vor einer Minute.
„Oh, ähm, okay... Ich habe eigentlich gedacht, wir könnten uns mal in der Bibliothek treffen und die Texte zusammen durchgehen. Du weißt schon, Teamwork und sich ein bisschen kennenlernen."
Mit neuem Enthusiasmus strahlt mich Beth an und erinnert mich damit wirklich einen Moment lang an Gray. Aber was Gruppenarbeit betrifft, bin ich ein gebranntes Kind. Keine Chance, dass ich mich auf irgendetwas einlasse.
„Sorry, aber dafür fehlt mir um ehrlich zu sein die Zeit. Ich denke es reicht, wenn wir die Präsentation zusammen machen."
Mit einem harten Lächeln mache ich meinen Standpunkt ein letztes Mal klar. Ich weiß, dass ich in diesem Moment extrem abweisend und kaltherzig erscheinen muss. Aber dazu hat mich meine Schulzeit gemacht. Früher habe ich jedem geholfen, bin auf die Leute zugegangen und habe eigentlich Recht ähnlich zu Beth reagiert: Immer mit einem Lächeln und auf der Suche nach Kontakt. Aber wenn man sich zu oft die Finger verbrannt hat, lässt man es irgendwann die heiße Herdplatte anzufassen. Und selbst wenn ein Teil von mir sich ändern will, überwiegt das schlechte Gefühl, die Angst was passieren könnte.
Mir ist klar, dass der Gedanke eigentlich völlig unangebracht ist. Dass Gray nicht so ist, aber mit einem Mal meine ich auch in seinem Verhalten Parallelen zu früher zu sehen. Am Dienstagabend war ich ihnen sehr nützlich und jetzt, da kann er auf einmal nicht mehr. Hat anderes zu tun, als sich mit mir zu treffen.
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, als meine Gedanken in die Vergangenheit abgleiten.
Es war das erste Jahr in der High School und wir sollten im Biounterricht in Vierer-Gruppen ein kleines Umweltprojekt erarbeiten. Zum Beispiel einen eigenen Komposthaufen anlegen und den ökologischen Sinn dahinter erklären. Ich wurde damals mit Joyce, einer Freundin von ihr und einem Jungen, der in Michaels Clique war, eingeteilt. Ich weiß noch, wie mein Herz damals gerast ist, als wir uns im Unterricht das erste Mal zusammensetzen sollten und wie nett alle zu mir waren, während ich eine Idee vorschlug und beschrieb, was wir alles tun müssen würden. Sie machten Witze, die ich nicht so ganz verstand, auch wenn mir jetzt im Nachhinein klar ist, dass sie in gewisser Weise auf meine Kosten gingen. Darüber, wie intelligent man doch sein muss, um auf solche Ideen zu kommen. Und wie viel Zeit ich in die Schule investiere. Aber damals lachte ich mit, weil ich dachte, dass ich Teil von etwas war. Und so fühlte es sich auch an.
Zumindest bis ich zum Abschluss des Projektes alle zu mir einlud. Meine Mom war ganz begeistert davon, dass ich Freunde mit nach Hause bringen wollte und ich war mindestens genauso aufgekratzt. Ich bin durchs ganze Haus gesprungen, habe mein Zimmer ordentlich gemacht, zusammen mit Mom einen Kuchen gebacken und dann habe ich gewartet. Darauf, dass mein Besuch kommt. Und ich habe weiter gewartet, gewartet und gewartet. Fast zwei Stunden, während ich mit meiner Mom am Küchentisch saß und ihr im Gesicht ablesen konnte, wie ihr klar wurde, dass man mich versetzt hatte, während ich es noch nicht wahrhaben wollte. Und ihr Mitleid machte es nur noch unerträglicher.
Irgendwann habe ich als Alibi auf mein Handy geschaut und so getan als hätte ich eine Nachricht bekommen. Ich habe versucht so normal wie möglich zu wirken, als ich meiner Mom mitten ins Gesicht log, die anderen hätten mir abgesagt. Aber sie wäre keine Mutter, wenn ihr der Schwindel nicht aufgefallen wäre. Ihre Traurigkeit steht mir noch bis heute klar vor Augen, als sie mir anbot, dass wir uns einfach zu zweit über den Kuchen hermachen. Aber ich habe damals keinen Bissen runterbekommen und auch bei der Erinnerung dreht es mir noch den Magen um.
Das war mit eins der ersten Male, dass meine klar wurde, dass die Einsamkeit in meinem Zimmer besser ist, als die Einsamkeit, wenn du von den Leuten um dich herum abgewiesen wirst. Und wie leicht es ist sich in Büchern zu fliehen, wenn man über nichts nachdenken möchte.
"Na gut... Willst du mir dann zumindest deine Nummer geben, damit wir ausmachen können, wer was macht?"
Beths Stimme reißt mich wieder in die Gegenwart zurück und ich brauche ein Moment, um mich wieder zu sortieren. Also räuspere ich mich, um den Kloß in meiner Kehle wieder loszuwerden und gleichzeitig ein paar Sekunden zu gewinnen, aber es bringt nicht viel. Meine Stimme klingt trotzdem kratzig, als ich ihr antworte.
"Ja klar, können wir machen. Gibst du mir dein Handy?"
Als würde sie das Ganze inzwischen auch nur noch schnell hinter sich bringen wollen, reicht mir Beth sofort ihr Handy und ich fange an meine Nummer einzutippen. Ich werde zwar so oder so alles selbst durcharbeiten, aber zumindest so unhöflich will ich nicht sein, ihr das direkt ins Gesicht zu sagen. Also drücke ich ihr, als ich einen Kontakt mit meiner Nummer erstellt habe, wieder das Handy in die Hand und versuche es mit einem kleinen Lächeln, das hoffentlich nicht zu gezwungen wirkt.
"Schreib mir dann einfach, was du machen willst."
Ich warte kaum Beths Nicken ab, da schultere ich auch schon meine Tasche und mache, dass ich aus dem Raum rauskomme.
Hey Leute :) Sorry dass wieder kein zweites Kapitel letzte Woche kam :( Ich stecke momentan mitten in meiner Prüfungsphase und komme dementsprechend nicht so viel zum Schreiben wie ich das gern hätte... Die Dienstagskapitel sind aber save ;)
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