Bericht: Volksmund

Märchen, das sind für die meisten Kindheitserinnerungen. Spätestens nach der Grundschule ist der Zauber verflogen, spätestens dann haben die meisten ihr Interesse an solchen Geschichten verloren. Denn Märchen basieren auf kindlichen, naiven Vorstellungen, mit denen man als Jugendlicher nichts mehr anfangen kann oder will. Doch neben diesen gibt es noch einige weitere, ähnliche Gattungen von Texten, deren genauere Betrachtung sich durchaus lohnen kann - vor allem dann, wenn man auf der Suche ist nach genialer Inspiration. - Ein Überblick.

Wir beginnen mit jenen Erzählungen, die in der Chronologie ganz am Anfang stehen: MYTHEN. Sie gehören wohl zu den ältesten überlieferten Geschichten und unterscheiden sich je nach Ursprungsort stark voneinander. Der Grund für diese große Diversität ist, dass Mythen immer das Weltverständnis einer bestimmten Kultur wiedergeben, etwa das der alten Griechen, Ägypter oder Römer. Doch auch, wenn Mythen inhaltlich stark variieren, so sind sie trotzdem alle ähnlich aufgebaut.

Eine besonders große Rolle spielt im Urglauben der verschiedenen Völker die Erklärung unterschiedlichster Ereignisse, so etwa die Entstehung der Welt. Somit hat jeder Mythos einen wahren Kern, für den er sinnstiftend ist. Darüber hinaus sind Mythen aber vor allem Götter- und Heldensagen, was bedeutet, dass die handelnden Charaktere zumeist übermenschliche Fähigkeiten haben. Dennoch fällt auf, dass die Götter in vielen Entstehungsmythen ein ausgeprägt menschliches Wesen zeigen, weshalb in diesen Geschichten die Menschheit nicht selten ein Resultat von Eifersucht, Zorn und Streit ist.

Beispiele für Mythen gibt es viele, einige kennt ihr sicher bereits selbst. Dennoch sei ein Mythos beigefügt - die Weltentstehungsgeschichte der Inuit.

Unsere Vorväter haben viel vom Entstehen der Erde erzählt. Sie konnten die Worte nicht in Striche verstecken wie später die weißen Männer. Sie erzählten nur, die Menschen, die damals lebten. Sie erzählten von vielen Dingen. Darum sind wir nicht unwissend. Alte Frauen reden nicht einfach so dahin, und wir glauben ihnen: im Alter gibt es keine Lügen. Damals, vor langer, langer Zeit, als die Erde entstehen sollte, stürzte sie von oben herab. Erde, Felsen und Steine, hoch vom Himmel hernieder. Und dann kamen die Menschen. Kleine Kinder kamen aus der Erde heraus, aus Weidenbüschen, und sie lagen darunter mit geschlossenen Augen und zappelten; denn sie konnten nicht einmal krabbeln. Ihre Nahrung bekamen sie von der Erde.
Von einem Mann und von einer Frau wird erzählt. Aber wie? Das ist rätselhaft. Wann hatten sie sich bekommen? Wann waren sie groß geworden? Man weiß es nicht. Aber die Frau nähte Kinderkleider und wanderte hinaus. Sie findet die Kindlein, zieht sie an und bringt sie nach Hause.
So wurden es viele Menschen. Sie kannten nicht die Sonne. Sie lebten im Dunkeln. Nur im Hause hatten sie Licht. Und die Menschen vermehrten sich immerfort. Und sie wurden uralt, denn es gab keinen Tod.
Und sie überfüllten die Erde. Da sprach eine alte Frau zu einer anderen: «Wir wollen beides haben, Licht und Tod.» Und als sie dies ausgesprochen hatte, wurde es so. Und mit dem Tod kam die Sonne, der Mond und die Sterne. Denn wenn die Menschen sterben, steigen sie hinauf zum Himmel und beginnen zu leuchten. [1]

Eine ähnliche Textsorte, die ebenfalls auf Religion und Volksglauben basiert, ist die LEGENDE. Im großen Unterschied zum Mythos stehen hier nicht Götter im Mittelpunkt, sondern Heilige, religiöse Persönlichkeiten oder ein religiöses Ereignis. Folglich haben die Orte und Personen in Legenden einen historischen Hintergrund, es gibt also auch hier einen wahren Kern, der allerdings durch die mündliche Überlieferung stark ausgeschmückt und heroisiert wurde.

Man unterscheidet überdies zwischen Heiligenlegenden und Volkslegenden. Erstere dienen der religiösen und moralischen Erbauung sowie Belehrung des Volkes, letztere zur Unterhaltung.

Auch hierfür gibt es zahlreiche Beispiele, drei aus dem christlichen Glauben sind im Folgenden kurz angeführt.

Päpstin Johanna: Wurde um 850 geboren und fiel schon früh aufgrund ihrer Weisheit auf. Verkleidete sich als Junge und erlangte Ansehen, weshalb sie letzten Endes zum Papst aufstieg. Gebar ein Kind angeblich während einer heiligen Prozession, was die schockierten Zuschauer dazu veranlasste, sie kurzerhand zu steinigen. In anderen Texten stirbt sie durch die Geburt des Kindes.

Martin von Tours: Im Winter des Jahres 334 soll Martin einen unbekleideten Mann getroffen haben. Kurzerhand zog er sein Schwert und teilte seinen eigenen Mantel, um diesem mit dem Mann zu teilen. Ihm werden zahlreiche Wunder und Heilungen zugeschrieben. Wir erinnern an ihn am Martinstag.

Nikolaus von Myra: Nikolaus war im vierten Jahrhundert Bischof von Myra. Angeblich verhalf er einmal dem Volk zu einer unverhofften Getreidelieferung, um den Hunger zu stillen. Er gehört mit Sicherheit zu den bekanntesten Heiligen, weshalb wir Anfang Dezember immer noch unsere Schuhe putzen und sie uns vom heiligen Nikolaus befüllen lassen. [3]

Genau wie die Legende dienen außerdem auch FABELN der Belehrung, allerdings fehlt hier der religiöse Bezug. Die Unterrichtung des Lesers erfolgt meist in Form von Satire, allgemeiner gesagt Kritik, an bestimmten menschlichen Verhaltensweisen und Handlungen. Allerdings ist diese Botschaft, anders, als es beispielsweise bei Mythen der Fall ist, für den Leser nicht offengelegt und deshalb unter Umständen schwerer verständlich. Grund dafür ist, dass in Fabeln die handelnden Figuren vor allem Tiere sind, auf welche bestimmte menschliche Eigenschaften übertragen werden (schlauer Fuchs, diebische Elster). Mit derartigen Allegorien ließen sich in der Vergangenheit etwa Geschichten erzählen, die die versteckte Kritik an Machthabern ermöglichte, ohne dass man seinen Kopf riskieren musste.

Aufgebaut ist die Fabel in drei Teile: Ausgangssituation, Streit (Gespräch), Lösung. Diese Abschnitte sind von geringer Länge, zusammen ergeben sie eine sehr knappe Kurzgeschichte - das typische Erscheinungsbild einer Fabel, ideal zum Lesen und Erzählen. Während Mythen und Legenden allerdings durch den Volksmund überliefert wurden und daher die Verfasser dieser Texte nicht mehr feststellbar sind, ist bei Fabeln zumeist der Autor bekannt. Vor allem der griechische Dichter Aesop (ca. 6. Jahrhundert v.Chr.) hat sich damit einen Namen gemacht; von ihm stammt folgende Fabel:

Der und der Ochse
Der Frosch erblickte eines Tages einen Ochsen, der eben über eine Wiese ging und der Frosch schmeichelte sich, dass er wohl eben so groß werden könnte wie dieses Tier. Er wandte also alle Mühe an, die faltige Haut seines Körpers aufzublähen und fragte seine Gefährten, ob seine Gestalt anfing, jener des Ochsen ähnlich zu werden.
Sie antworteten mit - nein. Er strengte also neue Kräfte an, um sich aufzublasen und fragte die Frösche noch einmal, ob er nun bald der Größe des Ochsen gleich wäre. Sie gaben ihm die vorige Antwort. Das schreckte den Frosch nicht ab; allein die Gewalt, die er anwandte, um sich aufzublähen, machte, dass er an der Stelle zerplatzte.
Die Kleinen finden ihr Verderben, wenn sie den Großen gleich sein wollen. [8]

Darüber hinaus gibt es auch neuere Fabeln - die nicht mehr unbedingt menschliche Eigenschaften karikieren, sondern sich allgemein mit jedmöglichem Thema auseinandersetzen - wie etwa dieser Text von Franz Kafka (1883 - 1924):

Kleine Fabel
»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« - »Du musst nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.

Nun kommen wir zur wohl bekanntesten der fünf ausgewählten Textsorten, die in der Einleitung bereits erwähnt wurde. Es ist das MÄRCHEN - und kann vielleicht als eine Weiterbildung der Fabel bezeichnet werden, da sie inhaltlich und von der Größe her umfangreicher und detaillierter ist. Geblieben ist, dass auch das Märchen eine Moral vermitteln möchte, allerdings auf einem etwas anderen Weg.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht hier zumeist ein Held menschlicher Gestalt, der im Verlauf der Handlung eine Aufgabe lösen muss. Allerdings hat der Protagonist eine Schwäche, die seine Aufgabe gefährdet, ihm zum Verhängnis wird oder gar für das Problem verantwortlich ist, welches er zu bewältigen hat. Dennoch gibt es immer ein Happy End.

Genau wie die Fabel berufen sich Märchen nicht auf eine wahre Begebenheit, weshalb Ort und Zeit der Handlung undefiniert bleiben. Typisch sind außerdem die zahlreichen fantastischen Elemente und Wesen, darüber hinaus auch bestimmte Zahlen, und Zauberformeln, die in Sprüchen, Liedern oder Versen dargestellt werden.

Die Verfasser sind bei den meisten Märchen unbekannt, eben deshalb, weil diese Geschichten lange Zeit mündlich weitergegeben wurden. Allerdings gab es einige, die diese Erzählungen gesammelt und verschriftlicht haben. Besonders sind dafür die Gebrüder Grimm bekannt, deren Märchensammlung wohl alle unter euch Lesern ganz oder zumindest in Teilen kennen, weshalb ich hier keine weiteren Beispiele anführen werde.

Der letzte Punkt auf dieser kleinen Liste ist die SAGE, aus diesen fünf Textsorten die vielleicht beste Quelle der Inspiration. Sie hat einen historischen Hintergrund, spielt also an einem konkreten Ort zu einer konkreten Zeit, hat vielleicht sogar einen real existierenden Protagonisten. Allerdings hat das Tatsachengerüst der Geschichte im Lauf der mündlichen Überlieferung viel an Ausschmückung und Umgestaltung erfahren, es wurden mysteriöse, magische, mythologische Elemente hinzugefügt.

Die Handlung der Sage konzentriert sich auf unerklärliche Naturereignisse, Helden und regionale Fabelwesen, will also eine regionale Eigenart, einen Namen oder Volksglauben erklären. Im Mittelpunkt des Geschehens befindet sich ein Mensch, der eine bestimmte Situation durchstehen muss, und dabei trifft er auf allerlei Sagengestalten und übernatürliche Kräfte, die er besiegt oder zu seinem eigenen Vorteil nutzt.

Je nach Region oder Land unterscheiden sich die Sagen inhaltlich teilweise mehr, teilweise weniger stark voneinander, und eben weil sie regional fixiert sind und es noch dazu solch eine Masse an Sagen gibt, sind nur sehr wenige der Allgemeinheit bekannt - es lohnt sich daher auf jeden Fall, ein wenig zu stöbern und die versteckten Schätze wieder auszugraben.

Dem Beispiel und der Ergänzung halber möchte ich hier dennoch drei der verbreiteteren deutschen Sagen in einer kurzen Zusammenfassung erwähnen:

Rattenfänger von Hameln: In Hameln soll im 13. Jahrhundert ein Mann gelebt haben, der versprach die Stadt von der Rattenplage zu befreien. Die Bürger versprachen ihm einen Lohn, woraufhin er eine Melodie pfiff und die Ratten so aus der Stadt lockte - doch die Bürger verweigerten ihm die Bezahlung. Später kam er zurück und rächte sich, indem er ebenfalls mit einer Melodie die Kinder aus der Stadt lockte, die man niemals wiedersehen sollte.

Fliegender Holländer: Erzählt von einem Kapitän, der auf ewig dazu verdammt ist, bis zum Untergang der Welt mit einem Gespensterschiff auf dem Welt umherzuirren. Seinem Schiff werden unglaubliche Fähigkeiten zugesprochen: so kann es rückwärts segeln und durch die Luft fliegen.

Rübezahl: Spielt im Riesengebirge und der näheren Umgebung. Rübezahl ist ein Riese oder Berggeist, der den Menschen in verschiedenen Gestalten erscheint. Gegen gute Menschen verhält er sich meist freundlich, wohingegen er denjenigen, der ihn verspottet mit seiner Rache straft. [5]

(Ebenfalls empfehlenswert sind die Nibelungen und die Geschichte von Dädalus und Ikarus.)

Einige dieser Sagen wurden bereits zahlreich verschriftlicht, in Theaterstücke umgewandelt oder gar verfilmt. Es besteht also kein Recht, die alten Geschichten als Schund abzutun - nicht die Märchen, nicht die Fabeln; und ganz besonders nicht die Sagen.

- Verena

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Gute Websites für Recherche bezüglich (deutscher) Sagen:
sagen.at: http://www.sagen.at/texte/sagen/deutschland/bayern/Franken/sagen_franken.htm
baden-wuerttemberg.de: http://www.baden-wuerttemberg.de/de/unser-land/traditionen/sagen-und-legenden/

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Quellen Internet (Stand 31.07.2016)

[1] bibliomedia: Schöpfungsmythen aus aller Welt
https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=4&cad=rja&uact=8&ved=0ahUKEwiu36CL6Z3OAhWiApoKHYdMAkQQFgg1MAM&url=http%3A%2F%2Fwww.bibliomedia.ch%2Fde%2Fangebote%2Fdokumente%2FSchoepfungsmythen.pdf&usg=AFQjCNEabREhP0T6YraKrZ48zkdP_eDGvg

[2] Müller, Silke / Wess, Susanne (1999): Studienbuch neuere deutsche Literaturwissenschaft, 1720-1848: Basiswissen
https://books.google.de/books?id=iJxSZ-_jscMC&pg=PA151&lpg=PA151&dq=heiligenlegende+volkslegende&source=bl&ots=SisjXQhtBO&sig=TFUukzlSflysNQh6ezDA7vr0uMw&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwj_wIb6iJ7OAhWDECwKHciFDpwQ6AEINDAE#v=onepage&q=heiligenlegende%20volkslegende&f=false

[3] Geldschläger, Jonas: Legende
http://wortwuchs.net/legende/

[4] Geldschläger, Jonas: Mythos
http://wortwuchs.net/mythos/

[5] Geldschläger, Jonas: Sage
http://wortwuchs.net/sage/

[6] Geldschläger, Jonas: Fabel
http://wortwuchs.net/fabel-merkmale/

[7] Geldschläger, Jonas: Märchen
http://wortwuchs.net/maerchen-merkmale/

[8] Leverenz, Rainer: Fabeln von Aesop
http://www.online-lernen.levrai.de/deutsch-uebungen/fabeln/aesop_fabeln.htm#Frosch_Ochse

[9] Volkert, Catarina: Hintergrund: Märchen - Definition, Abgrenzung zur Sage, Legende, Fabel
https://www.planet-schule.de/wissenspool/die-brueder-grimm/inhalt/hintergrund/maerchen-definition-abgrenzung-zur-sage-legende-fabel.html

[10] Sagen und Legenden aus dem Südwesten
http://www.baden-wuerttemberg.de/de/unser-land/traditionen/sagen-und-legenden/

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