17 - Instrument Gottes
Tim flog gewaltsam auf den Boden, wo Theo ihn kontrolliert fixierte.
Tim schrie vor Schmerz einmal kurz auf, blieb dann jedoch regungslos liegen. Ich stand im Schockzustand daneben und fühlte mich mehr wie ein Zuschauer als ein Beteiligter.
„Du verschwindest hier. Und zwar sofort! Hast du mich verstanden?", brüllte Theo und wirkte richtig bedrohlich.
Tim schien sehr bewusst zu sein, dass er Theo körperlich komplett unterlegen war. Er leistete keine Gegenwehr mehr.
„VERSTANDEN?", wiederholte Theo.
„Ja", brachte Tim gequält hervor.
Sofort ließ Theo ihn aufstehen. Tims Haare waren zerzaust seine Wange war leicht aufgeschürft.
„Geh!", zischte Theo und Tim gehorchte ihm aufs Wort. Er warf mir nicht mal mehr einen Blick zu.
Dann wandte sich Theo an mich.
„Ist bei dir alles in Ordnung?", erkundigte er sich besorgt.
Seine Ablehnung aus den letzten Tagen mir gegenüber war vollkommen verschwunden.
Nein.
Nein, es war gar nichts in Ordnung.
Ich war gerade widerlich begrapscht worden und Tim komplett ausgeliefert gewesen.
Ich ließ mich einfach nur in Theos Arme fallen und begann bitterlich zu weinen.
„Sch, ist gut. Ich bin ja hier", flüsterte er mir ins Ohr. „Es passiert dir nichts mehr."
Ich musste laut schluchzen. Es war mir so peinlich so hemmungslos vor ihm zu weinen. Ich versuchte mein Gesicht an seiner Brust zu verstecken. Ich spürte wie er mit seiner Hand sanft über meinen Hinterkopf streichelte.
„Es ist alles gut", sagte er wieder. „Er kann dir nicht mehr wehtun. Ich pass auf dich auf."
Ich schlang meine Arme so fest ich konnte um seinen Körper. Ich brauchte diesen Halt. Sonst würde ich schon längst auf der Straße knien und mich zusammenkauern.
„Alles ist gut", sagte er immer und immer wieder.
Er tat mir so gut. Seine Worte, seine Nähe, seine Anwesenheit.
Ich fühlte mich unfassbar geborgen in seinen Armen. Immer wieder streichelte er mir tröstend über den Rücken. Seine Berührungen waren sanft und fürsorglich.
„Komm", sagte er schließlich, als die ersten Wasserfälle aus Tränen vertrocknet waren. „Lass uns in die Kirche gehen. Da können wir uns in Ruhe setzen und reden."
Angesichts der Tatsache, dass wir direkt vor der Kirche standen, war das keine schlechte Idee. Auch wenn ich jetzt schon spürte, wie Gott uns intensiv beobachten würde. Kirchen waren für mich keine Orte, an denen ich mich sonderlich wohl fühlte.
Er ließ seinen Arm um meine Schulter gelegt, während wir zum Gotteshaus gingen. Ich hatte das Gefühl, dass er mich stets aus dem Augenwinkel beobachtete, um sicher zu gehen, dass es mir gut ging.
Als wir an der Kirche ankamen und vor der Tür standen, hielt Theo inne. Ich sah erst ein paar Sekunden nach ihm, worauf er starrte.
Oh mein Gott!
KINDERSCHÄNDER stand in großen Buchstaben und mit blutroter Farbe an der Kirchenmauer geschrieben. Es sah gruselig aus und hatte etwas von einem Horrorfilm.
Fragend wanderte mein Blick zu Theo. Für einen Moment vergaß ich, was mir eben passiert war.
„Was ist das?", fragte ich noch mit verheulter Stimme.
Theo wirkte entsetzt, versuchte sich angesichts der Situation jedoch zusammenzureißen.
„Es ist eine Schande", sagte er verärgert.
„Wer macht so etwas?"
„Menschen, die keinen Respekt vor Gott haben. Ich werde das gleich morgen früh wegmachen."
Er war entrüstet. Sein ganzer Körper wirkte mit einem Mal angespannt.
„Passiert das öfter?", fragte ich und streichelte seinen Handrücken.
„In letzter Zeit immer häufiger, aber wir wissen nicht, wer so etwas macht. Aber zerbrich dir darüber nicht deinen Kopf. Du hast dich für heute schon mit genug schlimmen Geschehnissen auseinandersetzen müssen."
Was das betraf, hatte er recht. Ich war noch immer aufgewühlt und hatte meinen Tränenfluss nach wie vor nicht unter Kontrolle. Zu präsent waren noch die ungewollten Berührungen und die Gewalt in meinem Kopf. An meinen Handgelenken bildeten sich Blutergüsse.
Wir gingen in die Kirche hinein und ließen uns in der letzten Reihe nieder.
Theo strich mir eine Träne von der Wange.
„Geht's wieder?", fragte er und sah mich höchstbesorgt an.
Ich nickte schwach.
Der Schock saß noch immer tief. Nie zuvor war mir so etwas passiert. Ich war ihm vollkommen ausgeliefert gewesen.
„Ich bin so froh, dass du da warst, Theo. Danke, dass du mir zu Hilfe gekommen bist."
Ich fragte mich, was wohl gewesen wäre, wenn Tim mich gestern nach Hause gebracht hätte? Hatte er das nur gefragt, weil er sich mir sexuell aufdrängen wollte? Wollte er mich vielleicht sogar vergewaltigen? Und was wäre passiert, wenn Theo eben nicht dazwischen gegangen wäre? Ich wagte es gar nicht diesen Gedanken weiter auszumalen.
Theo drückte mich noch einmal fest. Er war so gut darin liebevoll zu umarmen.
„Tim hat ein Problem mit Drogen", begann er mir zu erklären. „Er ist ein guter Kerl, aber wenn er Drogen nimmt, ist er ein Monster."
„Er ist ein Scheißkerl", brummte ich verheult.
„Also das sollte keine Rechtfertigung für sein Verhalten sein", fügte Theo sofort hinzu. "Das hätte unter keinen Umständen passieren dürfen!"
Ich legte meinen Kopf auf seiner Schulter ab und eine Weile saßen wir in unseren Gedanken verloren schweigend da.
Ich konnte deutlich spüren, wie ich neben ihm ruhiger wurde. In seiner Anwesenheit fühlte ich mich beschützt und geborgen. Und wenn ich mich nicht vollkommen irrte, dann ging es ihm ähnlich. Es war so offensichtlich, dass er auch meine Nähe suchte.
„Was lief da eigentlich mit Tim und dir?", durchbrach er die Stille.
Ich war mir sicher, dass er auf die Situation gestern Abend anspielte.
„Nichts."
„Das sah nicht wie nichts aus", sagte er leise und ich hatte das Gefühl, dass ein bisschen Traurigkeit mitschwang.
„Es war ein betrunkener Kuss. Es war wirklich nichts, Theo."
Theo presste seine Lippen zusammen und wirkte wütend.
„Warum regt dich das so auf?", fragte ich schließlich und nahm seine warme Hand.
Er wirkte auf einmal wieder so vertraut und die Distanz, die sich innerhalb der letzten Tage zwischen uns aufgebaut hatte, war auf einmal wieder verflogen.
Er drückte meine Hand fest und es war spürbar, dass er mit sich selber einen Kampf austrug.
„Du hattest Recht", hauchte er kaum hörbar. „Du hattest Recht, als du sagtest, dass ich meine Gefühle nicht unter Kontrolle habe."
Das hatte er nicht gesagt! Meine Ohren müssten mich belügen!
„Das heißt, dass du mich sehr magst?", fragte ich vorsichtig.
Er lachte. Es war ein ganz zartes aber herzliches Lachen.
„Ja, was glaubst du denn? Du machst mich verrückt!"
Nie im Leben hätte ich so deutliche Worte von ihm erwartet. Da erschien mir ja fast seine Konvertierung zum Buddhismus wahrscheinlicher. Das war der Moment, in dem er sich endlich eingestand, dass es vielleicht auch noch mehr gab als nur die Liebe zu Gott.
„Echt?", hakte ich noch einmal ungläubig nach.
„Du hast keine Ahnung, was für ein bezauberndes Wesen du bist, oder?"
Ha! Das musste er gerade sagen. Aber nein, mit dem Wort „Bezaubernd" hatte ich mich tatsächlich noch nie in Verbindung gebracht.
„Helvi, ich habe noch für jemand so empfunden wie für dich. Es ist verrückt."
Mein Herz begann auf Hochtouren zu fahren. Am liebsten würde ich mich einfach vorbeugen und ihn küssen, doch ich wollte ihn in seiner Rede nicht unterbrechen.
„Und das hat mir alles so viel Angst gemacht, weil ich noch nie zuvor so etwas gespürt habe. Aber ich verstehe jetzt den Sinn dahinter. Gott stellt mich auf die Probe. Ich muss jetzt meine Treue zu ihm beweisen."
Ähm. Moment. Stopp-Taste und einmal zurückspulen bitte!
Was hatte er da gerade gesagt?
Ich war nur ein Instrument von Gott? Um Theo zu testen?
Ich könnte gekränkter nicht sein. Das konnte doch nicht sein Ernst! Mir sowas an den Kopf zu werfen, wo ich vor ein paar Minuten auch noch massiver sexueller Belästigung ausgesetzt war.
„Gott testet mich", sagte Theo und begriff gar nicht, wie er mit jedem weiteren Wort mein Herz ein Stückchen mehr zerriss. „Und das ist meine Gelegenheit ihm zu zeigen, dass ich mich nicht durch weibliche Reize von meinem Weg abbringen lasse."
Ich rutschte von ihm weg, um Abstand zwischen uns zu bringen.
„Was ist?", fragt er völlig unwissend und schien nicht nur auf dem Schlauch zu stehen, sondern eher auf einer Pipeline.
„Du machst mir hier die süßeste Liebeserklärung ever und zwei Sekunden später machst du alles wieder kaputt, indem du mir erzählst, dass Gott mich nur benutzt um dich zu testen. Was glaubst du wohl, wie ich mich fühle? Ich brauche gerade nichts mehr als ein bisschen Trost und dir fällt nichts Besseres ein als mein Herz zu zerreißen und darauf einen Stepptanz aufzuführen."
Mittlerweile war ich von der Bank aufgesprungen. Ich war so unfassbar wütend auf ihn. Ich hätte ihm deutlich mehr Fingerspitzengefühl zugetraut.
Ich war vollkommen überfordert mit der Situation. Es war so viel innerhalb der letzten Stunde passiert und mit diesem Wendepunkt hatte ich einfach nicht gerechnet.
„Helvi, so war das nicht gemeint."
„Nein?", fragte ich provozieren und mit lauter Stimme. „Komisch, denn genau so hast du es gerade gesagt!"
„Es tut mir leid. Dann hast du es falsch verstanden. Ich schätze dich als Person sehr und du bist nicht nur ein Instrument Gottes!"
Nicht nur!? Das machte es natürlich gleich viel besser! Ich war also nur Teilzeitkraft als Instrument Gottes, oder wie?
„Lass stecken! Auch wenn du hier einen auf Möchtegern-Pfarrer tust, bist du letztendlich genau wie jeder andere Mann auch. Du spielst mit den Gefühlen einer Frau, als wäre ich ein Brettspiel!"
Ich konnte Theos Gesicht ansehen, dass die Worte in sein Gesicht wie eine Ohrfeige klatschten.
Mehr hatte ich nicht mehr zu sagen.
Ich ging schnellen Schrittes in Richtung Ausgang.
„Du hast gewonnen", brüllte ich noch wutentbrannt nach oben, wo Gott mich hoffentlich hören würde, bevor ich die Tür mit einem Knall hinter mir zuschmiss.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top