11 - Das hätte nicht passieren dürfen
Am Abend traf ich mich mit Theo allein am See.
Die Sonne glitzerte wie tausend Kristalle auf der Wasseroberfläche und die Vögel gaben uns ein Privatkonzert. Es war einer dieser perfekten Sommerabende, an denen selbst in der Nacht die Temperatur nicht unter 20 Grad fiel.
„Du erzählst nie viel über dein Leben", sagte Theo nachdenklich als wir nebeneinander auf einer Decke lagen und die Augen geschlossen hatten.
„Ach, da gibt es nicht viel zu erzählen. Mein Leben ist ziemlich langweilig."
„Aber du kommst doch aus Berlin. Da kann es doch gar nicht langweilig sein. Erzähl mir was! Hast du Geschwister? Was machen deine Eltern? Wie war deine Schulzeit?"
Vielleicht sollte er besser als Polizist Verhöre führen, anstatt Pfarrer zu werden.
„Ach Berlin ist groß. Falls du denkst, dass ich im Zentrum in einer hippen Altbauwohnung wohne, dann täuschst du dich. Ich wohne an der Grenze zu Brandenburg in einem Reihenhaus. Mein Vater arbeitet im Finanzamt und meine Mutter als Sekretärin. Ich habe einen kleinen Bruder, der 14 ist und eine kleine Schwester, die 8 ist. Die sind beide ganz süß, können aber auch beide ziemliche Biester sein. Und meine Schulzeit war auch nicht aufregend. Ich habe weder zu den coolen Kids gehört noch zu den uncoolen. Ich habe mich mit allen gut verstanden, war im Debattierclub und Klassensprecher."
Das war so ziemlich mein Leben in einer Kurzfassung. Es war spießig, aber schön.
„Was hattest du für Leistungskurse?", fragte er interessiert nach.
„Politik und Englisch."
Ich hatte schon immer ein absolutes Durchschnittsleben geführt, doch ich mochte es. In meinem Leben hatte es weder Drama noch Tragik gegeben. Das konnte Theo von seinem Leben nicht behaupten. Und darum beneidete ich ihn nicht.
„Und mit deinen Eltern kommst du gut aus?"
„Ja", sagte ich sofort. „Meine Eltern haben mich immer in allem unterstützt. Ich könnte mir keine besseren Eltern wünschen. Wirklich!"
Als es plötzlich still wurde, merkte ich, dass ich mich angesichts Theos Familiengeschichte vielleicht weniger euphorisch hätte ausdrücken sollen.
„Tut mir leid", sagte ich schließlich.
„Kein Problem. Auch ich werde ja bedingungslos geliebt. Gott ist meine Familie."
So kritisch wie ich Religion gegen überstand, so glücklich war ich auch, dass es Theo unglaublich viel Kraft gab.
Ich wünschte wirklich, dass jeder so eine Familie haben könnte wie ich sie hatte. Für mich war es undenkbar mich mit meinen Eltern ernsthaft zu streiten oder sie anzuschreien. Meine Eltern hatten mir immer nur Liebe gegeben und die Vorstellung, dass viele Kinder auf dieser Welt so etwas nicht bekamen, machte mich unendlich traurig.
„Hast du Lust ins Wasser zu gehen?", fragte er mich. „Es ist so abartig heiß heute."
Der Tag heute hatte sich angefühlt, als würden wir uns direkt am Äquator befinden und zwar vom Merkur.
„Gerne, aber nur, wenn wir nicht wieder rennen!"
Mittlerweile schien er über die Situation lachen zu können.
„Alles klar! Wir gehen am besten in Zeitlupe."
Als ich mich von der Decke erhob, brauchte mein Kreislauf einen Augenblick um mich sich zu sammeln. Theo, dem das nicht entging, griff sofort nach meinem Handgelenk.
„Alles in Ordnung?"
„Ja, keine Sorge. Es war einfach nur ein bisschen viel Sonne für heute und vermutlich zu wenig getrunken."
Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, da streckte er mir schon eine Flasche Wasser entgegen.
„Danke", sagte ich schmunzelnd und nahm sie an.
Mein Kreislauf hatte sich zwar schon längst gefangen, doch ich machte keine Anstalten ihm das zu signalisieren. Er konnte mich ruhig noch ein bisschen länger stützen.
„Na komm!", sagte ich schließlich und machte eine Kopfbewegung in Richtung Wasser.
Barfuß liefen wir über den verbrannten Rasen. Die Natur könnte ein bisschen Regen gut vertragen, doch eine Wolke war am Himmel weit und breit nicht zu sichten.
Ich spürte ein leichtes Brennen auf meinen Schultern, da ich es heute mit der Sonne ein wenig übertrieben hatte. Umso angenehmer war es das kühle Wasser auf der Haut zu spüren.
Ich tauchte soweit ein, sodass nur mein Kopf noch aus dem Wasser lugte.
Erst jetzt spürte ich wie aufgeheizt mein Kopf wirklich war. Vermutlich war es keine gute Idee gewesen sich dem Temperaturunterschied auszusetzen. Ich bekam Gänsehaut am ganzen Körper.
„Das Wasser ist herrlich!", sagte Theo und ließ sich auf der Wasseroberfläche treiben, während er seine Arme weit ausstreckte.
„Hmm", murmelte ich und merkte, dass mein Kreislauf doch noch nicht so stabil war, wie ich es zunächst gedacht hatte.
Mir wurde schummerig im Kopf.
„Theo, ich glaub, ich sollte besser aus dem Wasser. Irgendwie ist mir schlecht."
Er sprang förmlich an meine Seite.
„Ich trag dich!"
Ooookay, das machte normalerweise nur der Bräutigam mit seiner Braut über die Türschwelle, aber wenn Theo drauf bestand, würde ich nicht protestieren.
Seine Arme umgriffen meinen Körper und er hob mich hoch.
Nun wusste ich nicht mehr, warum mir schummerig war. Entweder hatte ich einen Sonnenstich bekommen oder es war der intensive Körperkontakt zu Theo. Sein Körper war wundervoll warm und weil wir beide nass waren, glitschte unsere Haut aneinander. Je weiter er mich aus dem Wasser hob, desto mehr spannte sich ein Bizeps an.
Manno man, der hatte wirklich Muckis.
Ich legte meinen Kopf an seine glatte Brust ab.
Ob er sich die rasierte? Sie war auffällig haarlos.
Vorsichtig legte er mich unter einem Baum im Schatten ab.
„Ich hol dir noch mehr Wasser."
„So schlimm ist es nicht", rief ich ihm noch zu, doch er kramte schon in seiner Badetasche. „Hier, trinken ist wichtig." Er reichte mir die Flasche.
Ich nahm einen großen Schluck, konnte aber auch nicht mehr aufnehmen, da mir zu schlecht war.
„Noch einen kleinen Schluck!", versuchte er mich zu motivieren.
„Ich kann nicht. Wirklich nicht! Ich glaube, ich brauche einfach ein bisschen Ruhe und ein Bett."
„Ich bring dich nach Hause. Meinst du, du kannst aufstehen?"
„Ich denke schon."
Er reichte mir seine Hand, sodass er mich hochziehen konnte.
Er nahm etwas zu viel Schwung und prompt landete ich in einer erstaunlich innigen Umarmung, die aufgrund unsere Badebekleidung auch noch halbnackt war. Ich konnte nicht widerstehen und ließ mich in die Umarmung fallen.
Warum gab es für Gefühle nicht einfach einen An- und Aus-Schalter. Das würde das Leben so viel leichter machen. Ich wollte hier für immer mit ihm so stehen.
Ich sah zu ihm auf und ich könnte schwören, dass da etwas zwischen uns war.
Plötzlich drückte er mich weg. Es kam so abrupt, sodass ich fast zu Fall kam.
Erst sah ich ihn verwirrt an, doch als ich bemerkt, wo er seine Hände hatte und was diese verstecken sollten, hielt ich inne.
Theo war derweil kreidebleich und ich sah die Überforderung mit dieser Situation.
„Das ist nichts, wofür man sich schämen muss", versuchte ich ihn sofort zu beruhigen, doch er wirkte, als wäre er am Rande eines Nervenzusammenbruchs. „Es ist okay", sagte ich versucht meine Hand auf seine Schulter zu legen, doch er machte einen Schritt nach hinten.
„Nein", sprach er unter Schock. „Das darf nicht passieren. Das ist Sünde. Meine einzige Liebe gilt Gott."
Er drehte sich von mir weg und schnappte ein Handtuch, welches er sich vor seinen Schritt hielt.
„Das ist keine Sünde. Du bist ein Mann. Das ist ganz normal. Wäre das Sünde, würde keiner von uns hier heute auf der Welt sein."
„Du verstehst das nicht. So etwas darf nicht passieren!"
Hatte er wirklich noch nie zuvor eine Erregung gehabt?
„Aber vielleicht heißt es doch auch nur, dass du vielleicht doch kein Pfarrer werden solltest. Vielleicht hat Gott für dich etwas Anderes vorgesehen."
„Nein! Hör auf mich von meinem Weg abzubringen! Ich weiß genau, was ich vom Leben will und was Gott für einen Plan mit mir hat!"
Hektisch suchte er seine Sachen zusammen und war wohl darauf bedacht, stets etwas vor seinen Schritt zu halten.
„Ich muss jetzt gehen", sagte er hastig.
Er schnappte sich seine Tasche und ging schnellen Schrittes zu seinem Fahrrad. Dort sprang er auf und radelte so schnell er nur konnte davon.
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