1 - Mr. Perfect und Tommy, die Schildkröte
So jemanden wie ihn hätte ich in dieser Buchhandlung nicht erwartet.
Thriller mit dramatischer Covers, komödiantische Lektüre mit quietschbunten Covern oder auch Kalender mit halbnackten Frauen suchte man hier vergebens. In Buchhandlungen wie diesen fand man eher Gestalten, die Shakespear verehrten und es liebten den Staub von alten Büchern zu pusten.
Da erwartete ich keinen jungen, sportlichen Mann, der aussah, als würde er nie eine Ausrede finden um nicht ins Fitnessstudio zu gehen. Interessiert ging er langsam durch die Reihen zwischen den Bücherregalen und ließ seinen Blick über die Buchrücken schweifen.
„Ach, Theo!", rief mein Onkel. „Schön, dass ich dir hier antreffe! Darf ich dir meine Nichte Helvi vorstellen? Sie hilft für ein paar Wochen hier aus."
Der Fremde, dessen Name offensichtlich Theo war, drehte sich um. Hätte eine Kamera diesen Moment eingefangen, hätte man diese Szene sofort in eine Haargel-Werbung einbauen können.
Theo sah mich mit einem offenen und interessierten Blick an. Bei der Zusammenstellung seiner Gene schien er einen guten Draht zu Gott gehabt zu haben. Er hatte helle blaue Augen und einen vergleichsweise dunklen Teint dazu im Kontrast. Seine Haare hatten ein schönes sonnenausgeblichenes Braun. So stellte ich mir die Surfer auf Hawaii vor.
„Hallo", begrüßte er mich mit einer auffallend ruhigen Stimme und reichte mir die Hand.
„Hi!", entgegnete ich und versuchte ein süßes Lächeln aufzusetzen, auch wenn mir bewusst war, dass ich mit ihm nicht mithalten konnte.
„Herzlich Willkommen, Helvi!"
Seine Stimme hatte eine angenehm rauchige Note.
„Danke!"
„Das ist Theo", sprach mein Onkel. „Er arbeitet bei uns ehrenamtlich und liest mehrmals die Woche für Kindergruppen vor."
Wow, eins war klar: Dieser junge Mann ließ sich eindeutig nicht in eine Schublade stecken. Seit wann lesen Männer Anfang zwanzig kleinen Kindern vor? Oder kommen gar in freiwillig in ihre Nähe?
„Wirklich?", fragte ich begeistert. „Da ist aber sehr ehrenwert!"
Theo sah ein wenig peinlich berührt zu Boden.
„Es ist eine Selbstverständlichkeit für mich."
Seine Eltern schienen in seiner Erziehung offenbar alles richtig gemacht zu haben.
Ich lächelte um meine Wertschätzung auszudrücken und war gleichzeitig von seiner ganzen Ausstrahlung in den Bann gezogen. Er hatte nicht diese übliche Ich-bin-ein-Mann-und-bin-stark-und-will-dass-du-das-auch-weißt-Attitude. Ganz im Gegenteil: Er wirkte unglaublich bescheiden. Fast so, als wüsste er gar nicht wie gut er aussah, was jedoch nur möglich war, wenn er noch nie zuvor im Leben in einen Spiegel gesehen haben sollte. Seine Attraktivität war einfach zu offensichtlich.
„Wenn du willst, können wir nachher gerne die Mittagspause zusammenverbringen. Paula wird auch da sein. Hast du Paula schon kennengelernt?"
Ja, das hatte ich. Paula war Mitte Zwanzig, hatte aber noch die Ausstrahlung eines Teenagers, was vermutlich an ihrer zarten und zerbrechlichen Statur lag.
„Ja, ich wurde ihr heute Morgen schon vorgestellt. Ich würde sehr gerne mitkommen!", nahm ich das Angebot sofort, wenn auch etwas überrascht an. Männer wie er wollten für gewöhnlich keine Frauen wie ich.
Ich war zwar nicht unvermittelbar, aber ich gehörte auch nicht zu den Menschen, die man für ein Plakat für eine Beautypraxis auswählen würde.
Meine ganze Statur war etwas kleingeraten. Meine Brüste seltsamerweise dafür deutlich größer, weshalb ich immer als etwas pummelig wahrgenommen wurde, was jedoch mehr eine Illusion und eine Sache der Perspektive war. Meine Beine waren schlank, meine Taille schmal und mein Bauch flach. Nur meine Brüste waren eben groß und da ich so klein war, sahen vielen Menschen von oben einfach nur die überproportionalen Brüste und dachten sich, dass alles darunter ähnlich proportioniert war. Mama sagte mir immer, ich solle sie mit Stolz tragen, doch ich hatte nie verstanden, weshalb ich etwas mit Stolz tragen sollte, das mir mit 19 Jahren schon Rückenschmerzen und billige Sprüche von Bauarbeitern einbrachte.
„Das ist nett von dir, Theo", bedankte sich mein Onkel Gerd sofort. „Helvi ist neu in der Stadt. Da ist es gut, wenn sie ein bisschen Anschluss bekommt."
Die Eingangstür schwang auf, ein Glöckchen läutete und eine Kindermeute rannte uns entgegen.
„Meine Gäste sind das", informierte mich Theo angesichts des näherkommenden Kindergeschreis.
Es gab zum einen die klassische Rosafront: Mädchen, deren Farbspektrum auf eine Farbe beschränkt war. Mädchen, die mehr Haarspangen auf dem Kopf hatten, als Haare und Mädchen, deren Nägel stärker glitzerten als ein Swarowski-Geschäft. Sie waren kleine Barbies, die gegen sämtlichen Genderwahn rebellierten. Die zweite Front waren Jungen, die als Werbeobjekte für Marvel und DC Comics fungierten. Spiderman, Superman und Batman sprangen einem von Tshirts, Schuhen und Mützen ins Auge.
„THEO!", rief sie und stürmten auf Mr. Perfect zu. Dieser breitete seine Arme aus und nahm die Kinder in Empfang.
Der Typ war doch nicht real!
„Setz dich doch einfach mal dazu"; schlug Onkel Gerd vor. „Ich hatte eh überlegt das Angebot für Vorlesestunden auszuweiten. Vielleicht kannst du ja demnächst auch so etwas machen."
Ich konnte mir Schlimmeres vorstellen, als Geschichten vorzulesen, die immer ein Happy End hatten und ein Publikum zu haben, dass noch an das Gute auf dieser Welt glaubte.
„Klar, gerne!"
„Super, dann kannst du dir ja schon mal etwas abgucken! Ich muss ein paar Bestellungen annehmen. Mach einfach nach der Vorleserunde deine Mittagspause und wenn du willst, kannst du danach nach Hause gehen. Wir wollen es am ersten Tag nicht zu schnell angehen!"
Dass dieser Mensch zusammen mit meinem Vater - alias Workoholic – aufgewachsen war, hatte ich mir noch nie vorstellen können. Zwar waren beide auf ihre eigene Art und Weise unglaublich nett, doch sie könnten kaum unterschiedlicher sein. Mein Vater hätte mich am ersten Tag wohl Überstunden machen lassen, um zu zeigen, dass man hart arbeiten muss um etwas erreichen zu können.
Aber gegen einen freien Nachmittag hatte ich natürlich nichts.
„Danke! Falls du doch noch Hilfe brauchst, sag mir Bescheid!"
Onkel Gerd gab mir einen Kuss auf die Wange.
„Mach ich."
Und während er das sagte, wusste ich, dass hier das ganze Haus abbrennen könnte und er mir meinen freien Nachmittag trotzdem nicht ruinieren würde. Onkel Gerd war die Sorte Mensch, die so gut war, sodass sie von all den bösen Kreaturen dieser Erde nur ausgenutzt wurden.
Die Kinder saßen alle schon im Halbkreis, während Theo das Cover des heutigen Buches allen zeigte.
Tommy, die Schildkröte.
Eine kleine Schildkröte mit überdimensional großen Augen winkte vom Buchdeckel.
Das Buch handelte von der Schildkröte Tommy, die sich im Meer in einer Plastiktüte verhedderte und sich nicht mehr selbstbefreien konnte. Also fragte Tommy seinen Schildkröten-Freund Luke. Doch Lukes Flossen hatten sich in einem Fischernetz verfangen. Also fragten Sie einen Hai, ob er mit seinen scharfen Zähnen das Netz durchbeißen könne, doch um sein Maul war eine alte Wäscheleine, sodass auch er ihnen nicht helfen konnte. Ein vorbeischwimmender Kranich hatte seinen Schnabel in einer Coladose feststecken und der Wal konnte sie nicht hören, weil ein Teppich aus Plastikmüll die Sonarwellen störte. Schließlich schleppte sich Tommy an den Strand, wo ein Kind ihn von der Plastiktüte befreite. Das Kind entschuldigt sich dafür, dass so viele Menschen achtlos Müll wegwerfen. Schließlich geht Tommy zurück ins Meer und befreit all seine Freunde von dem Plastikmüll."
Moral der Geschichte: Schmeiße gefälligst keinen Müll weg! Die Welt gehört nicht nur uns, sonst auch andere!
Die Art wie Theo die Geschichte vortrug, war so lebhaft, sodass ich zwischenzeitlich glaubte selber mit einer Plastiktüte um den Kopf durch das Meer zu tauchen. Er brachte die Kinder an den richtigen Stellen zum Lachen und am Ende auch zum Nachdenken. Es folgte eine kleine Diskussion über Umweltschutz.
Warum brauchen wir Plastiktüten, wenn wir auch Stoffbeutel mehrmals benutzen können? Warum brauchen wir Strohhalme, wenn wir doch einfach aus dem Glastrinken können? Erstaunlicherweise fand Theo bei den Kindern Gehör. Sie empörten sich über die bösen Erwachsenen, die einfach so Müll wegschmissen und versprachen hoch und heilig, dass sie nie wirklich NIE etwas einfach so wegschmeißen würde. Dass die Rückfallquote wohl sehr hoch sein würde, war leider traurige Gewissheit.
„Woah! Du bist echt gut!", ließ ich Theo wissen, nachdem sich jedes Kind einzeln von ihm verabschiedet hatte und nun als Mini-Umweltaktivist für diesen Tag durch die Straßen marschierte.
„Ich habe auch schon ein bisschen Übung. Ich mache das schon ein paar Jahre."
„Das ist wirklich cool! Und die Geschichte war auch toll ausgesucht!"
„Ja, ich versuche immer den Kindern eine Botschaft mit auf den Weg zu geben." Mit jedem Satz, den er mehr sagte, wirkte er auf mich gottähnlicher. Er schien keinerlei Schwächen zu haben. „Jetzt habe ich aber wirklich Hunger! Es ist Zeit für Mittagspause. Wir gehen immer ins Café nebenan. Die Buchhandlung hat mit denen eine Kooperation und deshalb bekommen wir dort alles zum halben Preis. Die Auswahl ist nicht wirklich groß, aber dafür ist die Qualität umso besser. Der Brezeln mega!"
„Dann werde ich das definitiv probieren!"
Theo führte mich in das Café nebenan. Kein Stuhl und kein Sessel glich dem anderen. Die Wände waren tapeziert mit Bildern aus den 50ern und 60ern. Hier versuchte man nicht mit Superfoods und Anglizismen zu werben. Hier ging es einfach nur um Individualität und Charme.
Ich sah Paula schon auf einer Couch warten. Sie winkte uns fröhlich zu.
„Ach, das ist schön, dass du auch mitkommst!" hieß sie mich willkommen.
Wir ließen uns zu Dritt auf das Sofa fallen und sofort erschien ein Kellner.
„Hey, Joe!", begrüßte Theo ihn. „Geht es deiner Tochter besser?"
Die kannten sich wohl besser.
„Ja", antwortete er mit einem italienischen Akzent. „Meine Mama hat ihr ihre traditionelle Hühnersuppe gemacht und seitdem geht es bergauf."
„Das freut mich!"
„Mich erst." Dann sah er neugierig zu mir. „Ich sehe ein neues Gesicht!"
Er zwinkerte mir zu, ohne dabei aufdringlich zu wirken.
„Das ist Helvi", stellte Theo mich vor, als wären wir schon seit Ewigkeiten befreundet. „Sie hilft ab sofort in der Buchhandlung aus. Sie ist Gerds Nichte."
„Ah!", rief Joe mit weit aufgerissenen Augen. „Wunderbar!" Er sagte es auf eine Art und Weise, wie nur Italiener es sage konnten. „Dann gibt es zur Begrüßung eine heiße Schokolade aufs Haus!"
„Ähm, danke", ließ ich ihn etwas überrumpelt von so viel Gastfreundschaft wissen. „Was kann ich euch noch bringen?"
„Ich nehme eine Brezel!", sagte Paula.
„Ich auch."
„Und ich auch", schloss ich mich den anderen beiden an.
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