Chapter 34
Weihnachten.
Ich schlug die Augen am Morgen auf und starrte an die eigentlich weiße Zimmerdecke des Gästezimmers. Jetzt sah sie allerdings noch dunkelblau aus. Die ganze Nacht hatte ich nicht ein Auge zubekommen, weil mein Herz die ganze Zeit unangenehm von innen gegen meinen Brustkorb hämmerte. Ich war nervös und ich hatte Angst vor dem Tag. Angst davor, was es in mir auslösen, oder eben nicht auslösen, würde.
Ich hatte Angst davor Zyriaks Eltern zu enttäuschen, weil eine gewisse Freude ausblieb, die ich seit über einem Jahrzehnt nicht mehr verspürt hatte. Ich setzte mich auf und sah zum Fenster. Es war draußen noch dunkel, aber das wunderte mich nur wenig.
Odin lag dick und fett am Fußende und schnarchte leise vor sich hin. Er schenkte mir keine Beachtung. Jedenfalls nicht, bis ich die Decke zurückschlug und aufstand. Endlich hob er den Kopf und hätte sich fast mit seinen Beinen verheddert, als er überstürzt aufstand, in der Sorge etwas zu verpassen. Ein kleines Lächeln bildete sich auf meinen Lippen und ich wuschelte ihm durch seinen dicken Kragen, bevor ich aufstand und mich anzog. Ich wusste noch nicht, was ich jetzt machen sollte, weil ich keine Ahnung davon hatte, wie der Weihnachtsmorgem bei ihnen hier ablief, aber mit der klopfenden Pumpe in meinem Brustkorb brachte ich es nicht lange fertig still rumzusitzen und mich eine weitere Stunde lang schlaflos umherzuwälzen.
Ich warf mir grade einen der alten Strickpullover über, die Zyriaks Vater mir gegeben hatte, da klopfte es ganz leise an meine Zimmertür. Ich schlüpfte mit dem Kopf grade durch das Loch und steckte eilig die Arme durch die Ärmel. Dann hüpfte ich, während ich versuchte mir eine Socke anzuziehen, auf einem Bein zur Zimmertür und öffnete sie, um nachzusehen, ob ich mich verhört hatte. In dem Moment, als ich meine Hand auf die Türklinke legte, wurde sie allerdings von außen geöffnet und knallte mir gegen die Nase. Es war nicht dolle, aber ein dumpfes Pochen löste sie dennoch in meinem Kopf aus.
"Au.", kommentierte ich, als ich meinen Nasenrücken abtastete, der jedoch gänzlich unversehrt schien. Zyriak streckte den Kopf rein und brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass das Hindernis wohl doch kein Hund gewesen war, sondern ich.
"Oh man, das tut mir voll leid.", flüsterte er so leise, wie möglich. Er schlüpfte in den Raum hinein, schloss die Tür und schaltete das Licht an. Ich kniff die Augen zusammen, plötzlich geblendet von dem hellen Schein der Lampe und stolperte schließlich noch über Odin, der grade vom Bett gesprungen war und hinter mir stand. Zyriak hatte zum Glück etwas bessere Reflexe, als ich grade in diesem Moment und schaffte es mich, am Arm wieder hochzuziehen, bevor ich stürzen konnte.
"Man.", Maulte ich leise und legte den Lichtschalter wieder um.
"Sorry, ich wollt nur sehen, ob's der Nase gut geht.", Zyriak kratzte sich wieder mal im Nacken und wandte seinen Blick zur Seite, wie er es immer tat, wenn er sich entschuldigte. Ich schüttelte den Kopf leicht und erkannte dann, dass er in voller Montur vor mir stand.
"Wo willst du hin?", fragte ich ihn leise. Warum flüsterte ich überhaupt? Seine Eltern schliefen drei Zimmer weiter.
"Wir.", er verwarf seine es-tut-mir-leid-Haltung auf der Stelle und grinste mich schelmisch an.
"Wir?", Ich runzelte die Stirn. Mein Herz machte einen Sprung nach dem anderen und mir wurde ein wenig schlecht. "H-heute ist Weihnachten, ich glaube nicht, dass wir vor dem Frühstück..."
"Du kannst protestieren, wie du willst, du kommst mit.", sein Blick wurde ernst. Ihm schien einiges daran zu liegen. Ich blickte zum Fenster. Draußen war immer noch alles dunkel. Nur weit am Horizont sah man eine kleine, etwas hellere Farbveränderung, dort, wo die Sonne aufgehen würde.
"Na gut.", stimmte ich sehr zögerlich zu. "Ich will deinen Eltern nur nicht das Fest versauen."
Nein, du willst keinem das Fest versauen, aber genau das wirst du sehr wahrscheinlich tun, ermahnten mich meine Gedanken gnadenlos. Ich fühlte mich schlecht für etwas, das noch gar nicht passiert war. Während ich Zyriak auf leisen Sohlen nach unten folgte und erst, als ich unten angekommen war, endlich meine zweite Socke anzog, überlegte ich die ganze Zeit, wie ich mich heute am besten verhielt, ohne jemandem zur Last zu fallen.
"Du grübelst schon wieder.", Zyriak blickte mich im Schein seiner Handytaschenlampe düster an. Ich setzte an, um es zu leugnen, aber ich schaffte es nicht.
"Stell deinen Kopf doch mal für einen Tag lang ab, heute ist Weihnachten, man"
"Ja, man, ich wünschte, das wäre so einfach", imitierte ich seine Stimmlage. Er reichte mir meine Stiefel und leuchtete mir, als ich sie anzog. Danach gab er mir sein Handy, damit ich das gleiche tat.
"Üb's halt.", schlug er mir mit einem Schulterzucken vor und richtete sich wieder auf. Seine Haare saßen direkt wieder perfekt im Scheitel. Nach ein paar Minuten, merkte ich, dass er mir seit einiger Zeit seine Hand vor mir in die Luft hielt, die Handfläche zur Decke gerichtet. Mein Gehirn ratterte und ich fragte mich kurz, was er wollte. Meine Hand?
"Gib mir doch mal mein Handy wieder", schmunzelte er, als ich seine Hand anstarrte, als wäre sie ein unentdecktes Wesen des Tierreiches. Meine Wangen begannen zu glühen. Sofort drückte ich ihm das Gerät wieder in die Hand. Er gab es in die andere Hand und hielt die selbe Hand in der gleichen Position wieder vor mir in die Luft. Ich hob den Blick nun vollends verwirrt zu seinen Augen. Die Grübchen in seinen Wangen konnte ich bei seinem Grinsen sogar im halbdunkeln erkennen. Noch bevor ich fragen konnte, was er wollte, schnappte er sich nun doch meine Hand und zog mich kompromisslos hinter sich her. Die Haustüre öffnete er leise, wir verließen das Haus - mir war schon wieder so fürchterlich übel - und hinter uns zog er das Türblatt leise wieder ins Schloss. Er kontrollierte, dass er seine Schlüssel dabei hatte, schnappte sich wieder meine Hand und zog mich zu Fuß mit hinter sich her.
Die frühmorgendliche Luft war schneidend kalt und ich vergrub mein Gesicht in dem Kragen meiner Jacke. Vielleicht hätte ich einfach weiterschlafen sollen?
Mein Blick fiel auf Zyriak, der zielstrebig vorging und meine Hand fest in seiner hielt. Der Anblick auf seinen Hinterkopf und das Grinsen, das er jedesmal zeigte, wenn er sich nach mir umsah, um sicher zu sein, dass er nicht plötzlich nur noch meinen Arm hinter sich herzog, sagte mir jedoch, dass er mich so oder so aus dem Bett getrommelt hätte. Nun erschien auch ein kleines Grinsen auf meinen Lippen. Was hatte er nur vor?
Ich versuchte zu erahnen, wo er mich hinführte.
In den Wald, um mich dort umzubringen? Höchst unwahrscheinlich.
Ins Dorf, um, was weiß ich nicht was zu machen? Nur, dass wir uns in die entgegengesetzte Richtung bewegten.
Irgendwann blieb er stehen und drehte sich zu mir um.
"Warte kurz hier.", sagte er. Seine Wangen glühten vor Aufregung und brachten mein Herz wieder dazu den ein oder anderen Schlag einfach auszusetzen.
Gott, der Kerl bringt mich noch um, dachte ich mir, als ich nickte und ihm hinterher starrte. Wir befanden uns mitten in einem sehr kahlen Laubwald. Überall zwischen den Bäumen lag Schnee, der selbst in der Dunkelheit ein helles Blau von sich warf. Ich fand die Spur eines Eichhörnchens und hockte mich hin, um es genauer in Augenschein zu nehmen, da erleuchtete plötzlich ein warmer Lichtschein die Umgebung zu meiner Linken. Ich erschrak und stand augenblicklich kerzengerade da, den Blick zur Seite gerichtet.
Lichterketten?
Mein Blick folgte den Lämpchen, die in den Bäumen hingen und alles in eine seltsam warme Atmosphäre tauchten. Eine Atmosphäre, die sogar mich erreichte. Ich hielt nach Zyriak Ausschau und sah mich um. Nach fünf vergangenen Minuten, entschied ich, nachzusehen, was es mit den Lichterketten auf sich hatte. Noch einmal warf ich einen Blick in die Richtung, in der seine Fußspuren hinter einigen Bäumen verschwand, in der Hoffnung er würde genau in diesem Moment auftauchen und auflösen, was das hier war, aber er kam nicht. Auch die Sicherheits fünf Minuten, die ich noch wartete, wurden nicht mit seiner Anwesenheit geschmückt. Ich wartete nochmal fünf Minuten und tat dann zögerlich einen Schritt Richtung der Lichter. Dann noch einen. Ich lief mehr oder weniger rückwärts auf die Lichter zu, den Blick immer an die Stelle gewandt, an der Zyriak verschwunden war, nur für denn Fall, dass er plötzlich wieder auftauchte, aber das tat er nicht. Kurz breitete sich ein wenig Angst in mir aus. Hatte er mich alleine gelassen? War er einfach wieder zurück gegangen? Würde er sowas tun? Mein Atem wurde schneller und flacher. Jedenfalls bis zu dem Punkt, an dem ich stehen blieb, weil der Lichtschein nun direkt von über mir kam. Ich blickte erst auf meinen Schatten hinab, dann hinauf zu den vielen kleinen Glühbirnen, die so aussahen, als würden die Bäume glitzern. Ich starrte sicher mehrere Sekunden lang einfach fasziniert hinauf. Jedes Licht schien an dem Platz zu sein, an den es gehörte.
Hatte er das die letzten Tage über in seiner Freizeit gemacht? Er hatte Bäume dekoriert?
Ich sah mich um und entdeckte, dass die beleuchteten Bäume einen Tunnel an goldenen Torbögen bildeten.
Mit etwas mulmigen Gefühl drehte ich mich einmal um mich selbst, noch immer auf der Suche nach Zyriak. Wo war er, verdammt nochmal?!
Ich schüttelte den Kopf und seufzte, bevor ich mich dann dazu entschied, dem "Tunnel" aus Licht zu folgen.
Ich ging erst sehr langsam und vorsichtig, nur um sicher zu sein, dass Zyriak jetzt nicht plötzlich hinter mir angesprintet kam und mich anmaulte, dass ich hätte warten sollen. Aber nach wenigen Metern, war ich zu beschäftigt damit die Umgebung zu bestaunen, als dass ich auf ihn hätte warten wollen. Zwischen den Bäumen tauchten hin und wieder Figuren aus Schnee aus. Belustigt von einem Rehkitz mit Weihnachtsmütze schüttelte ich den Kopf. Mittlerweile grinste ich. Grade, als ich dachte, der ausgelegte Weg würde sich dem Ende zuneigen, entdeckte ich eine Schneemauer mit einem Torbogen darin. Irritiert ging ich darauf zu und blickte neugierig hindurch, in der Erwartung Zyriak nun endlich zu finden.
Aber was ich hier sah, raubte mir den Atem.
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