Das nächste Jahr
Amelies erster Schultag war ein Großereignis im „Clan", wie sich die Mitglieder der Wohngemeinschaft nannten. Johannes und Anna musste viel Überredungsarbeit aufwenden, um die stolzen Onkel, Tanten und Großeltern davon abzuhalten, mit in die Schule zu kommen.
Judith, die als erstes Enkelkind der Vanmeerens ziemlich verwöhnt worden war, die auf dem Weg gewesen war, zu einer kleinen Prinzessin zu werden, hatte sich seit Amelies Ankunft um 180 Grad gedreht – sehr zur Freude ihrer Eltern.
Sie hatte nicht locker gelassen, bis die Eltern beinahe ihre ganzen Spielsachen einem Kinderheim gespendet hatten.
Nun war sie außer sich vor Freude und Stolz, dass ihre Cousine in ihre Schule kam. Sie erzählte allen ihren Freundinnen und Freunden von Amelie und Afrika, und manches Elternpaar wunderte sich über ihre Kinder, die plötzlich keine Geschenke mehr wollten, weil sie ja schon alles hätten.
Deshalb war Amelie von Anfang an ein kleiner Star.
Während der drei ersten Schulstunden warteten alle Eltern der ABC-Schützen in der Aula. Der Elternbeirat hatte ein tolles Büffet aufgebaut, schenkte Kaffee und Wasser aus. Natürlich standen Johannes und Anna ganz schnell im Mittelpunkt, die meisten kannten ihn von Kindheit an, hatten auch schon das eine oder andere aus dem Leben des gutaussehenden Ehepaares mitbekommen.
„Und? Was hast du jetzt vor?" fragte einer der Freunde aus der Schulzeit.
Johannes nahm seine Frau in den Arm. „Leben!" antwortete er.
Viel Beifall signalisierendes Gemurmel war zu hören, aber auch einige neidische Blicke waren zu sehen.
„Klar! Der kann es sich leisten! Sein Bruder verdient die Kohle, und er macht sich einen faulen Lenz!" dachten manche.
Als Johannes allerdings andeutete, wie viele Entwicklungen er in Afrika geschaffen hatte, die eine deutsche Firma vermarktete, wandelte sich der Neid in Bewunderung. Viele hatten ihn wohl unterschätzt.
Ulla kam zu den Eltern, umarmte Anna herzlich. Bei ihrem Mann zögerte sie etwas, doch der kam ihr strahlend entgegen. „Schön, dass Anna dich zurückbekommt!" flüsterte er. Laut sagte er: „Braucht die Schule irgendetwas? Etwas, das man mit einer Spende umsetzen könnte?"
Die Rektorin lachte. „Schulen brauchen immer irgendetwas! Im Augenblick würden wir uns über eine stabile Internetverbindung in den Klassenzimmern freuen und vielleicht ein paar Laptops. Aber der Bürgermeister schickt noch berittene Boten mit Nachrichten in Keilschrift los. Alles andere ist für ihn Teufelszeug."
Johannes schmunzelte, zog sein Handy aus der Hosentasche, wählte die Nummer von Ben. „Ich habe einen Job für euch!" erklärte er, als der Freund der ersten Tage der Anna-Zeit sich meldete.
„Wo? In Timbuktu?" zog Ben ihn auf.
„Nein! In der Schule von Regenstauf!" kam als Antwort.
„O Gott! Das ist ja beinahe noch schlimmer!" meinte er ITler. „Was brauchen die? Trommeln? Signalhörner? Leuchtraketen?"
„Depp!" regte sich Johannes auf. „Steht einfach Morgen um acht auf der Matte!" Damit legte er auf.
„Morgen nehmen wir das in Angriff!" erklärte er Ulla, die kaum den Mund zubekam.
Da kam auch schon Amelie in die Arme des geliebten Papas geflogen. „Das ist toll da in der Schule! Wir haben gesungen, und die Lehrerin hat sich nicht die Ohren zugehalten. Wir haben aus unserem Leben erzählt, die anderen haben nicht geglaubt, dass ich in Afrika geboren bin, weil ich ja hell bin und nicht dunkel. Aber ich habe ihnen erklärt, dass helle Eltern helle Kinder bekommen. Dann haben wir das A gelernt. Das gibt es in ganz vielen Wörtern. In Amelie, in Anna, da gibt es sogar zwei!"
Anna musste leise vor sich hin lachen. Sie hatte sich ein wenig Sorgen gemacht, dass ihre Tochter sich langweilen würde, weil sie ja schon fließend lesen konnte, auch ziemlich gut schrieb und perfekt rechnete. Aber diese Kirsten schaffte es wohl echt gut, das Mädchen zu motivieren.
Sie holten Joshua vom Kindergarten ab, der ähnlich schwärmte wie seine große Schwester von der Schule.
„Die Mädchen haben mich dauernd gefragt, ob ich was von ihrer Brotzeit will, oder ob sie mir Tee bringen sollen!" erzählte er lachend.
Amelie zog ihn auf: „Die sind alle verknallt in dich!"
Der Junge zuckte nur mit den Schultern. „Ist ja auch verständlich!"
Anna hielt sich den Bauch vor Lachen.
Johannes erdolchte sie mit Blicken. „Erzähl jetzt nichts von Genen! Der Knirps ist vier! Das Wort verknallt habe ich zum ersten Mal mit 14 ausgesprochen, wenn nicht noch später."
Zu Hause erwarteten sie schon alle aufgeregt, löcherten die Kinder mit Fragen. Der eine oder die andere hatte sich ein wenig Sorgen gemacht, ob sich Amelie und Joshua in Deutschland zurecht finden würden, aber die Kinder waren offen für alles und geistig sehr flexibel – wie die Eltern auch.
Johannes hielt Anna im Arm. „Wir haben richtig entschieden!" flüsterte er ihr zu, schnupperte an ihrem Ohr. „Eindeutig Versace!" murmelte er.
„Ja!" seufzte sie. Der Schuft kam ihr schon wieder viel zu nahe für ihr Seelenheil! „Mit den Kindern und mit uns!"
Am nächsten Tag installierten Oli und Ben etliche Verstärker für W-Lan in der Schule. Lachend begutachteten sie die Computer in der Verwaltung. „Wir planen ein IT-Museum! Stiftet ihr uns die Geräte?" fragte der flapsige Oli.
Er machte sich ein paar Notizen. „Diese Woche schaffen wir es nicht mehr, aber nächste bringen wir Computer aus diesem Jahrtausend vorbei. Reichen 30 Laptops für die Klassen erstmal?"
Ulla wusste nicht, wie ihr geschah. „Ja! Danke!" brachte sie nur heraus.
„Uns brauchst du nicht zu danken! Die Rechnung bekommt der verrückte afrikanische Strom-Mann!" erklärte er.
Er bekam auch die eindeutig interessierten Blicke der Rektorin mit, küsste deshalb Ben demonstrativ auf die Wange, schenkte ihm einen verliebten Blick.
War ja klar! dachte Ulla etwas enttäuscht. Die hübschesten und nettesten Kerle waren meistens schwul.
Danny anrufen! notierte Oli in seinem Kopf. Sein Zwillingsbruder war eindeutig hetero und noch immer auf der Suche nach Madame Right. Die hübsche junge Schulleiterin wäre schon etwas für den kopfgesteuerten Daniel.
Als Ulla ein paar Tage später ihr Büro betrat, war der hübsche Freund von Anna schon beim Abbauen ihrer Computeranlage.
Eine Zeit lang war es ihr vergönnt, den wohlgeformten Hintern des Mannes zu bewundern. Wieder bedauerte sie es, dass er einen Ehemann hatte.
Eine Ehefrau hätte ja einen Hauch von Hoffnung gelassen.
Ulla! schalt sie sich.
Innerlich zuckte sie mit den Schultern.
Man darf doch ein paar Fantasien haben?
Männer haben sie ja auch.
Sie war nicht direkt auf der Suche, also nicht mehr.
Sie hatte sich in ihrem Leben eingerichtet.
Mit 38 war sie Rektorin einer großen Grundschule, weil sie gut und ehrgeizig war.
Sie war hübsch, an Angeboten hatte es ihr nie gefehlt. Wenn sie mit eindeutigen Absichten eine Bar aufgesucht hatte, war sie nie alleine nach Hause gegangen.
Aber sie stellte hohe Ansprüche, die mit der Anzahl der Lebensjahre stiegen.
Ihr Traummann sollte gut aussehen, gut im Bett sein und etwas in der Birne haben. Punkt eins und zwei auf ihrer Liste erfüllten die Typen, die sie abschleppte, meistens, nur bei Punkt drei haperte es immer – mal mehr, mal weniger.
Außerdem hatte sie sich nicht mehr verlieben können, seit ihr Dominik das Herz gebrochen hatte.
Sie waren zwei Jahre lang ein festes Paar gewesen, bis sie dahinter kam, dass er sie mit nahezu jedem weiblichen Wesen an ihrer Schule betrogen hatte.
„Hey Mädel! Ich bin 19! Hast du wirklich geglaubt, da kann ein Kerl monogam sein?" hatte er ihr hingeknallt und seine Sachen vom Rasen aufgehoben, die sie ihm nachgeworfen hatte.
Sie wischte diese dummen Erinnerungen weg.
Wie war sie jetzt auf den alten Mist gekommen?
A ja! Der Hübsche, der ihr noch immer den Rücken zuwandte.
Sie seufzte lauter auf, als sie vorgehabt hatte.
Der gutaussehende Kerl drehte sich um, strahlte sie an, blinzelte sie an.
Blinzelte sie an?
Er gab ihr die Hand. „Hallo!"
Lag in diesem einzigen Wort so etwas wie Bewunderung? „Ich bin Daniel, Olivers Zwillingsbruder. Er hat mich gebeten, ihm zu helfen, weil Ben einen wichtigen Auftrag fertig machen muss."
Und weil Oli mir versprochen hatte, dass die Schulleiterin ein Sahnestückchen mit Grips ist! fügte er im Geist hinzu. Nicht zu viel versprochen übrigens.
Ulla ergriff perplex seine Hand. „Ulla!" brachte sie gerade noch hervor. Sie scannte seine Rechte, die ihre festhielt, dann seine Linke. Kein Ring!
Von da an ging es ziemlich schnell. Am Abend hatten sie ein Date zum Essen, am nächsten Tag gingen sie ins Kino, am dritten ins Bett.
Sie machte auch hinter Punkt drei auf ihrer Liste ein dickes Plus.
Daniel war seinem Bruder mehr als dankbar.
Aber der hatte wohl durch die Verbundenheit von eineiigen Zwillingen gespürt, dass Ulla die Richtige war.
Nach vier Wochen bezogen die beiden ein Häuschen ganz in der Nähe des „Clans". Danny arbeitet als unabhängiger Sachverständiger für Versicherungen, richtete sich in Regenstauf ein Büro ein. Zwei Töpfe hatten einen sehr passenden Deckel gefunden.
"Die Mia gefällt mir am besten!" verkündete Joshua nach ein paar Wochen, während denen er die Bewunderung der Damenwelt unter sechs genossen hatte. „Die fährt Ski und spielt Tennis. Ich will auch Tennis spielen."
Anna und Johannes verschluckten sich gleichzeitig an einem Löffel Suppe.
„Manchmal scheint die Wahrheit eine Generation zu überspringen!" japste er.
Verständnislos sah der Sohn die seltsamen Eltern an. „Was ist denn? Darf ich oder nicht?"
Der Vater strich dem Jungen entschuldigend über den Kopf. „Wenn du unbedingt willst, darfst du natürlich. Aber hast du den Schläger oder die Skier von Mia gesehen?" Wieder grinste er seine Frau an. „Manchmal behaupten nämlich Menschen irgend einen Blödsinn, weil sie glauben, dass die anderen das hören wollen."
„Echt? Das machen Leute?" wunderte sich Joshua.
Anna nickte. „Echt! Aber ich glaube, das machen eher Männer."
„Ich mach das nicht, wenn ich ein Mann bin!" erklärte Joshua sehr überzeugend.
Sie schauten einige Tage später beim örtlichen Tennisclub vorbei, der Junge machte ein paar Probeschläge, versuchte sie zumindest, fand das Ganze ziemlich öde.
„Nö! Das gefällt mir nicht!" gab er offen zu. „Vielleicht ist die Antonia auch hübscher. Die malt echt gut!"
Gute Entscheidung ! dachte Anna und drückte zufrieden Johannes' Hand.
Anna wurde Klassenelternsprecherin, Johannes Gruppenelternsprecher im Kindergarten. Sie brachten sich sehr engagiert in den Alltag ihrer Kinder ein. Sie finanzierten die Busse bei Ausflügen, kamen auch als Begleitpersonen mit.
Die Kita bekam neue Außenspielgeräte, Johannes übernahm die Kosten für das Mittagessen der Ganztagesgruppe, unter der Voraussetzung, den Caterer auswählen zu dürfen.
Tagelang beschäftigte er sich mit Probeessen, bis er endlich überzeugt war, den Betrieb gefunden zu haben, der am besten und gesündesten kochte.
„Ich sehe nicht ein, dass die Kinder, die sowieso schon den ganzen Tag von zu Hause weg sein müssen, mit dem billigsten Zeug abgefüttert werden sollen!" erklärte er Anna, die wieder ein Stückchen mehr verstand, warum sie ihn so liebte.
Apropos Liebe!
Sie genossen es sehr, seit Jahren wieder Tagessex zu haben.
Dadurch kamen sie auch mal zu genügend Schlaf in der Nacht.
Nicht immer, aber oft - oder zumindest öfter als früher.
Die Gemeinschaft, die sie sich seit Afrika so sehr gewünscht hatten, funktionierte immer besser.
Ulla und Daniel gehörten ziemlich schnell irgendwie dazu. Beide fühlten sich unbeschreiblich wohl im Clan. Intelligente Gespräche, aber auch unendlich viel Spaß und Lachen bereicherten das Leben jedes einzelnen Paares.
Wieder etwas richtig gemacht! freute sich Johannes.
Als er in Afrika diese Idee nicht mehr aus dem Kopf bekommen hatte, im Familienbund zusammenzuwohnen, hatte er natürlich auch etwaige Probleme gesehen. Er war ja von dieser Welt.
Die Sache mit Mario und Angie war dann schon ziemlich heftig gewesen. Doch sein Mädchen hatte alles wieder hinbekommen.
Bei einem der zahlreichen Grillabende zog er sie auf seinen Schoß. „Unser Experiment ist, glaube ich, geglückt!" sagte er leise.
„Aber so was von!" antwortete sie und ließ ihre Blicke schweifen. Die Kinder spielten leise miteinander, es gab nie Streit oder Eifersüchteleien zwischen ihnen.
Die Paare unterhielten sich, wechselten immer wieder die Plätze, hatten Gesprächsthemen genug mit jedem einzelnen Mitglied.
Ihr Vater war zum Obergrillmeister ernannt worden, etwas, das er hervorragend meisterte. Ihre Mutter sah ihm stolz dabei zu.
Hatte sie ihn früher auch so verliebt angesehen? dachte Anna.
Daniel verstand sich hervorragend mit Max, sie waren beide Männer der Zahlen.
Ihre Schwester Maria fachsimpelte mit Angie über neue Gemüsesorten.
Anna musste einen Lachanfall unterdrücken.
Inga und Thomas verschwanden wie so oft für eine gewisse Zeit, sorgten angeblich für neue Getränke, die allerdings immer noch reichlich vorhanden waren.
Mario beobachtete stolz sein Mädchen. Sie war ein vollakzeptiertes Mitglied des Clan geworden, seit sie zuließ, dass man sie liebte.
Ihr Praktikum begeisterte sie, sie brannte für das, was sie tat.
Ihr erstes Geld, das sie verdient hatte, hatte sie stolz vor ihm auf den Tisch gelegt.
„Es ist deins!" hatte er verwundert gesagt.
„Es ist unseres!" hatte sie geantwortet.
Dann hatte sie ein altes Sparschwein geholt, das sie wohl als Kind schon gehabt hatte, und hatte die Scheine hineingesteckt – alle, jeden einzeln.
„Willst du dir nicht etwas kaufen von deinem ersten Geld?" hatte er sie gefragt.
„Was denn? Ich habe alles, was ich brauche!" hatte sie geantwortet, und Mario hatte an die Worte Amelies denken müssen: „Ich habe eine Puppe und einen Ball!"
Und wieder wusste er vollkommen sicher, dass Angie die Richtige für den Rest seines Lebens für ihn war.
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