Teil 77

Mario

Mario litt.
Er konnte die Nacht mit der Unbekannten nicht vergessen.
Konnte die Gefühle seines Körpers nicht vergessen.
Er betete stundenlang, damit Gott ihn von der Todsünde der Wollust befreite, aber er bekam keine Gnade.

Er wälzte sich schlaflos Nacht für Nacht im Bett, immer wieder verschaffte er sich geplagt von schlechtem Gewissen selbst Erleichterung.
Er kannte sich nicht wieder, verlor Gewicht, tiefe Falten gruben sich um seinen Mund und seine Augen ein.

Als er es nicht mehr aushielt, lieh er sich das Auto von Mona und fuhr in die Stadt. Der Club zog ihn magisch an. Er verbrachte auch diese Nacht in den Armen einer Frau, fühlte wieder diese Lebendigkeit, die die Lust ihm brachte.

Zwei Tage hielt er durch, bevor er wieder loszog. Es fiel ihm leicht, Eroberungen zu machen, die Frauen schienen auf ihn zu fliegen, wie die Motten aufs Licht.
Zwei Wochen lang ging das so. Er haderte mit sich, betete, flehte und wurde doch wieder schwach.

Er wollte nichts von den Frauen wissen, wollte sie nicht kennenlernen oder wiedersehen.
Er wollte nur ihre Körper, ihre Hingabe.

Dann kam die Nacht, als er Angie traf. Ihre Augen waren traurig wie seine.
Sie war laut, lachte zu viel, tanzte alle Männer im Club an, warf sich ihnen an den Hals.
Eigentlich hätte sie ihn abschrecken sollen, doch er konnte den Blick nicht von ihr wenden. Ihre Lebenslust war nur gespielt, so wie seine.
Ihre Fröhlichkeit war aufgesetzt wie seine.
Im Grunde war sie verloren wie er.
Heimatlos wie er.
Zerrissen wie er.

Er tanzte sie an, ließ sie nicht mehr aus seinen Armen.
Sie war hübsch, aber keine Schönheit.
Sie war etwas betrunken, lachte zu laut, zu falsch.
Und doch war sie die erste Frau, die er nach ihrem Namen fragte, die er mit zu sich nach Hause nahm.

Er dachte keine Sekunde daran, was die anderen der Gemeinschaft, die sie mittlerweile geworden waren, davon halten würden.
Sie schliefen nicht miteinander in der ersten Nacht, sie hielten sich nur aneinander fest.
Am nächsten Tag erzählte er ihr sein Leben, und sie erzählte ihm ihres.

Ihr Vater hatte sie missbraucht, seit sie zwölf war. Die Mutter hatte davon gewusst, aber ihr nicht beigestanden, war froh, dass sie ihre Ruhe vor dem stets betrunkenen Ehemann hatte. Mit sechzehn hatte sie rebelliert, was brutale Schläge zur Folge gehabt hatte. Ein halbes Jahr später hatte sie ihn mit einer Bierflasche niedergeschlagen , er war unglücklich auf die Bettkante gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen.

Im Prozess hatte ihre Mutter Stein und Bein geschworen, dass der Vater die Tochter nie angerührt hatte, dass alles nur in ihrer wilden Fantasie stattgefunden hatte, dass sie ein böses Kind gewesen war.

Sie war zu vier Jahren Jugendarrest verurteilt worden, war im Knast mit Drogen konfrontiert worden, als schwer Abhängige entlassen worden. Sie hatte sich prostituiert, bis ein Sozialarbeiter sie zu sich genommen hatte. Ohne sexuelle Absichten – er war eindeutig homosexuell.

Er hatte sie zu einem Entzug überredet, den sie unter Aufbietung all ihrer Entschlossenheit durchzog.
Danach hatte sie sich ins Leben gestürzt – sie hatte so viel nachzuholen gehabt.
Doch sie hatte nie wieder Rauschgift konsumiert und nie mit einem Mann geschlafen.

Eine Woche lang lebte sie bei Mario. Sie sprachen viel, lachten, bauten sich auf. Er und sie spürten, dass die anderen nicht sehr begeistert von seiner Eroberung waren. Sie war jung, lief leichtbekleidet herum, dachte sich auch nichts dabei, wenn sie laut lachte, wenn sie die halbe Nacht lang Musik hörte, im Innenhof dazu tanzte. Nach der ersten Woche schliefen sie miteinander, es war ein Geben und Nehmen. Zwei Seelen hatten sich gefunden, zwei Körper auch.

Sie tranken beide das Leben, das sie so lange vermisst hatten. Doch die Mitbewohner stießen sich an dem Glück, verstanden Mario nicht, wollten das junge Ding weghaben, das so gar nicht zu ihnen passte. Sie ließen die Kinder nicht mehr zu ihm, sprachen mit beiden nur das Nötigste.
Mario nahm das traurig zur Kenntnis, aber Angie war ihm zu wichtig geworden, als dass er sich gegen sie stellte.

Dann müssten sie eben ausziehen, wenn das Zusammenleben nicht mehr klappte. Es würde einen Weg geben.
Er würde einen Job finden, Angie auch. Aber bevor er eine Entscheidung traf, wollte er auf die Rückkehr der Vanmeerens warten. Die Reaktion von Johannes und Anna war die einzige, die wirklich für ihn zählte.

Je näher die Ankunft der Freunde rückte, desto nervöser wurde er.
Würde Thomas während der Autofahrt gegen ihn und Angie hetzen?
Würden sie schon voreingenommen sein, wenn sie hier ankamen?
Er hätte die Familie gerne selbst abgeholt, aber er hatte kein Auto.
Außerdem hätte da jemand mit ihm reden müssen, damit er das vorschlagen hätte können. Die Einzigen, die ihn nicht komplett ignorierten, waren Mona und Lukas, doch die beiden waren lange mit Jo's Wohnmobil auf Tour gewesen, waren erst vorgestern zurück gekommen.

Mario verstand die Welt nicht mehr so recht.
Oder hatte er sie noch nie verstanden?
So wie die Welt wirklich war?
Wie die Menschen wirklich waren?
Oder hatte er in der Blase in Afrika alles vergessen?

Dann endlich fuhr das Auto von Thomas vor, er raste zur Türe. Amelie und Joshua flogen in seine Arme, Anna und Johannes drückten ihn fest. Anna sah ihn aufmerksam an. Er sah schlecht aus, hatte abgenommen, hatte dunkle Augenringe.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top