Teil 64

Am nächsten Tag weckten eine aufgedrehte Amelie und ein lachender Joshua die Eltern aus einem komatösen Schlaf.
„He! Ihr Schlafmützen! Es ist schon elf! Wir waren jetzt wirklich lange brav und ruhig!" maulte die Tochter.
Johannes schrak hoch. Elf Uhr? Sie waren Rabeneltern! Sie ließen ihre Kinder verhungern und verdursten.

Er sprang aus dem Bett. „Lassen wir die Mami noch ein bisschen schlafen!" flüsterte er. „Wir machen zusammen Frühstück."
„Au ja!" freute sich Joshua. Johannes sah den Sohn aufmerksam an. Der Kleine war ziemlich verändert, seit sie in Deutschland waren. Wacher, lebhafter, fröhlicher!
Er musste mal mit Anna darüber reden.
Hatte sich Joshua nicht wohl gefühlt in Afrika?
Er strich ihm über den Kopf. „Dir gefällt es hier, oder?" fragte er vorsichtig.
„Bombe!" antwortete der Kleine strahlend.

Johannes untersuchte den Kühlschrankinhalt. Wer auch immer für sie eingekauft hatte, kannte sie gut.
„Pfannkuchen oder Omelett?" fragte er rein rhetorisch, denn die Antwort kannte er genau.
„Pfannkuchen!" riefen die beiden dann auch wie erwartet.
Der glückliche Vater verdrehte ein wenig die Augen. Dann musste er eben beides machen. Seine süße Frau war nicht der größte Fan von Süßem am Morgen.

Anna schlug die Augen auf. Herrliche Düfte drangen in ihre Nase. Sie sah auf die Uhr und erschrak. Schon fast zwölf!
Aber dann ließ sie sich beruhigt wieder ins Kissen fallen. Ihr unvergleichlicher Ehemann kümmerte sich um die Kinder.

Sie hatte keinerlei schlechtes Gewissen. Er hatte ihr immer wieder versichert, dass er nicht so viel Schlaf brauchte wie sie, dass er die Zeit am Morgen mit Tochter und Sohn genoss.
„Ich bin ein durchaus privilegierter Vater!" hatte er einmal lachend erklärt. „Ich muss nicht pünktlich bei einem Job aufkreuzen wie andere Männer, die ihre Kinder nur kurz am Tag zu Gesicht bekommen."

Sie erinnerte sich lächelnd und glücklich an die Zeit nach Amelies Geburt, als er das Vatersein mit jeder Zelle seiner Seele genossen hatte.
Da öffnete sich die Türe, und ein aufgedrehter Joshua ließ sich neben ihr ins Bett fallen. „Papa hat Frühstück gemacht! Leckere Pfannkuchen und für dich ein Omelett. Weil er ein so lieber Papa ist. Amelie und ich haben den Tisch gedeckt. Wir haben das gut gemacht, hat Papa gesagt. Komm jetzt, du Schlafmütze!"

Anna sah ihren Sohn fassungslos an. So viele Worte brachte er sonst im Laufe eines Tages heraus. „Geht es dir gut, Süßer?" fragte sie vorsichtig.
Joshua grinste verschmitzt. Es ging ihm sehr, sehr gut! Er war bei Papa, Mama und Amelie, und Raoul war weit weg! Der war in Afrika geblieben.

Er wollte nicht petzen, Raoul hatte gesagt, er findet ihn überall. Aber dann sprudelten die Worte aus ihm heraus: „Ja, mir geht es gut! Raoul kann Amelie nichts mehr tun. Er ist weit weg."

Anna wurde kreidebleich. „Raoul? Emmas Sohn? Hat er dir was getan? Warum hast du nie etwas erzählt?" Sie sah an seinem Gesichtsausdruck, dass sie etwas zu scharf gesprochen hatte und nahm ihn in die Arme. „Du musst uns immer alles erzählen, Joshua! Was war los mit Raoul?"

Joshua zog ein wenig den Kopf ein. „Ich habe ihm Zigaretten und Schnaps bringen müssen. Ich habe das geklaut von euch, weil er gesagt hat, wenn ich das nicht tue, schickt er Amelie dahin, wo Leon ist!" Erste Tränen begannen zu laufen. „Aber ich habe doch nichts Schlimmes gemacht, Mama? Oder?"

Johannes, der nach den beiden sehen wollte, hörte die letzten Worte seines Sohnes.
„Was ist passiert?" fragte er mit klopfendem Herzen.
Anna strich Joshua über den Kopf. „Nein, Süßer! Da hast gar nichts Schlimmes gemacht! Du hast nur auf Amelie aufgepasst Aber er hätte ihr nichts tun können, weil ja Papa da war. Aber Raoul ist ein ganz böser Junge. Wenn irgendjemand mal wieder so etwas sagt, kommst du gleich zu Papa oder mir, ja? Versprochen?"

Johannes stand noch immer mit verständnislosem Blick neben dem Bett. „Lauf zu Amelie, ich muss mit Papa sprechen!" forderte sie ihren Sohn mit einem liebevollen Klaps auf.
Joshua sah seinen Vater vorsichtig an. „Papa schimpft auch nicht?" fragte er sicherheitshalber.

„Nein! Natürlich nicht!" versprach Johannes. „Wenn Mama nicht schimpft, gibt es für mich ja auch keinen Grund." Er küsste den Kleinen auf die Wange. Links, rechts, links, rechts, bis sein Sohn kicherte und zu seiner Schwester lief. Seine Welt war in Ordnung, seit er in Deutschland war, seit er in Sicherheit war – und seine Schwester auch.
Anna fiel in sich zusammen. Mein Gott! Der Junge war knapp vier! Und sie hatten nichts bemerkt!

Hatten es für normal angesehen, dass er lieber malte, als mit den anderen draußen herumzutoben.
Aber, wie hätten sie denn auf eine solche Idee kommen sollen, dass sich in ihrer Blase so etwas ereignen konnte.

Stockend erzählte sie Johannes, was sie gerade erfahren hatte müssen. Kraftlos ließ er sich aufs Bett sinken, wischte sich übers Gesicht. „Raoul? Ich fasse es nicht! Und ich hatte Emma in Verdacht, weil die Vorräte immer so schnell weg waren. Ich habe gedacht, dass sie beim Saubermachen immer etwas gezwitschert hat!" Er tigerte im Schlafzimmer auf und ab. „Das müssen wir mit Mario besprechen! Weiß Gott, was dem Kerl noch einfällt!"

„Klar! Nach dem Frühstück!" stimmte Anna zu.
Das leckere Essen war kalt geworden, aber es schmeckte trotz allem fantastisch. Joshua war nun sicher, dass auch der Papa nicht mit ihm schimpfen würde und plapperte wieder befreit drauflos.

Amelie lachte sich kringelig über den aufgedrehten Kerl. „Wo hast du denn auf einmal die ganzen Wörter her?" fragte sie.
Er zeigte auf seinen Mund. „Da, wo du sie auch her hast!" konterte er, und Johannes prustete los.
Jetzt hatte er drei von diesen wortgewandten Wesen zu Hause.
Konnte das Leben schöner sein?

Nach dem Frühstück ging er zu Mario, erzählte ihm die Geschichte von Raoul, der zwar immer höflich und wohlerzogen war, aber Johannes hatte manchmal den Eindruck, dass er nicht ganz aufrichtig war. Er hatte es auf die Pubertät geschoben, und darauf, dass er als einziges Kind von Emma ziemlich verwöhnt war.

Mario war genauso fassungslos wie die Vanmeerens. „Ich rufe gleich Rainer an! Er muss sich um den Jungen kümmern!" Was die Männer am meisten schmerzte, war die Tatsache, dass in der heilen Welt, die sie geglaubt hatten, geschaffen zu haben, so etwas vorkommen hatte können. Und vor allem unbemerkt von ihnen.

Am Nachmittag mussten sie alle vier in die Stadt. Sie brauchten Klamotten. Beim Spaziergang durch die Gassen der Altstadt bekam Amelie den Mund gar nicht mehr zu. „Das ist ganz schön alt, das Deutschland!" stieß sie schließlich hervor.
Anna verbiss sich ein Lachen. „Ja, stimmt! Über 2000 Jahre!"

Zwei-tau-send Jahre?" Amelie schloss kurz die Augen. „Das ist mehr als 333mal so alt wie ich!"
Jetzt blieb Johannes die Luft weg. Hatten sie ein Genie bekommen? Er rechnete kurz nach, sie hatte recht, die Kleine. Er schüttelte den Kopf.

„Das hat sie aber von dir, mir waren Zahlen immer eher suspekt!" erklärte Anna lachend.
Joshuas Zeichentalent hatte mit Sicherheit sie beigesteuert, aber Johannes war schon ein Mathe-Freak. Wenn er seine Berechnungen zu seinen Neuentwicklungen anstellte, schlackert sie nur noch mit den Ohren! Mathe und Physik waren noch nie ihre Themen gewesen.

In den Bekleidungsgeschäften machten sie einige Verkäuferinnen glücklich.
Schwerbepackt kamen sie an der Eisdiele an, die sie zu Beginn ihrer Beziehung so oft besucht hatten.
Der Besitzer stutzte kurz, fiel ihnen dann lachend um den Hals. „Anna und Johannes! Ich fasse es nicht! Wir haben euch so sehr vermisst. Und das sind die kleinen Vanmeerens? Die könnt ihr aber nicht verleugnen!"

„Wollen wir ja gar nicht!" stellte Johannes trocken fest und schlug sich mit Fred ab.
Die Tische waren alle voll besetzt, aber Fred holte einen Not-Tisch aus dem Lager, die Bedienung brachte vier Stühle. Auch sie konnte sich noch an das Paar erinnern, dessen Glück jeden Arbeitstag versüßt hatte, an dem sie gekommen waren.

„Und das sind eure süßen Kinder? Wo ward ihr denn so lange?" fragte das redselige Mädchen.
Amelie sah ihre Chance, endlich mal jemandem ihre Geschichte zu erzählen. „Wir waren in Afrika, in einem kleinen Dorf. Da war alles neu, nicht so alt wie Deutschland. Mein Papa hat Strom verlegt, und eine Schreinerei gebaut, und eine Metzgerei haben wir auch gehabt."

„Und Mama war in der Schule und hat den dunklen Kindern Lesen und Schreiben beigebracht. Und Zeichnen! Das kann sie nämlich sehr gut! Ich kann das auch sehr gut, aber ich bin erst drei, fast vier! Amelie ist schon fast sechs, sie kann toll rechnen, weil der Papa das auch so gut kann!" berichtete Joshua weiter.

„Aber das Gequassel haben sie eindeutig beide von der Mama!" hörten sie eine Stimme hinter ihnen. Die Köpfe flogen herum. „Ben! Oli!" riefen die Kinder begeistert und hingen auch schon an den beiden Freunden der ersten gemeinsamen Stunden.

Jeder der Männer nahm eines der Kinder auf den Arm, begrüßte Johannes und Anna herzlich.
„Sorry, dass wir nicht zu eurer Welcome-Party gestern kommen konnten!" entschuldigte sich Ben schließlich. „Big Business!" Er verdrehte die Augen. Die Kunden aus Amerika hatten sie beim besten Willen nicht abwimmeln können.

Die anderen Gäste konnten die Augen nicht von den gutaussehenden, anscheinend überglücklichen Erwachsenen und den reizenden Kindern nehmen. Einige erinnerten sich vage an ein junges, frischverliebtes Paar, das hier immer für gute Stimmung gesorgt hatte.
Sie hatten oft Lokalrunden geschmissen, zum Beispiel zu ihrer Hochzeit. Dann waren sie allerdings von einem zum anderen Tag verschwunden. Wahrscheinlich umgezogen! dachten sie damals.
Aber die Kinder hatten irgendetwas von Afrika erzählt.
Was sie da wohl gemacht hatten?

Danach gingen alle zusammen an die Donau. Sie hatten da manchen Abend zusammen verbracht. Ben, der sehr musikalisch war, hatte Gitarre gespielt und herzerweichende Love-Songs gesungen. Oli war verliebt an seinen Lippen gehangen, hatte sich an die Zeit erinnert, als er sich gegen diese Liebe gewehrt hatte. Anna und Johannes hatten getanzt zu den leisen Tönen, versunken in der Liebe zueinander.

„Boa! So viel Wasser!" stieß Amelie hervor.
„Kann man das trinken?" fragte Joshua, und den Erwachsenen wurde klar, dass es wohl eine Zeit dauern würde, bis die Kids in Deutschland ganz und gar ankommen würden.
„Nein!" erklärte Oli. „Das sollte man nicht tun."
„Dann gibt es Brunnen, aus denen sauberes Wasser kommt?" wollte der Junge wissen.

„Ja, das auch, und große Werke, die aus nicht ganz sauberem Wasser sauberes machen." Oli brach ein wenig der Schweiß aus. So ganz firm war er auf diesem Gebiet nicht gerade.
„Die hat bestimmt der Papa gebaut!" war Joshua sicher. „Früher!"

Johannes zog den Kleinen auf seinen Schoß. „Das haben andere Leute gemacht! Bevor ich geboren wurde, gab es auch schon Menschen, die das gekonnt haben."
„Echt jetzt?" Amelie war nicht ganz überzeugt, dass jemand außer dem tollen Papa so etwas zustande brachte.
„Echt!" bestätigte Anna.

Nach der kurzen Pause am Fluss gingen sie in einen Biergarten – den bewussten Biergarten, in dem sie sich wieder getroffen hatten, vor unendlichen Zeiten.
„Warum grinst ihr euch so an?" fragte Amelie.
„Hier hat sich die Mama endlich in mich verliebt!" erzählte Johannes lächelnd.
„Warum: Endlich?" wollte Joshua wissen.
„Weil ich mich schon ein halbes Jahr vorher in die Mama verliebt habe, aber sie sich nicht für mich interessiert hat."

Anna knuffte ihn für diese Aussage. „Aber nur, weil der Papa erzählt hat, dass er gerne Ski fährt und Tennis spielt. Und ich habe beides nicht besonders gern gemocht."
Amelie sah sie mit großen Augen an. „Und deshalb hat dir der Papa nicht gefallen? Weil du Skifahren und Tennisspielen nicht magst?"

Anna sah ihren Mann intensiv an, er lächelte sie an. Komm da selber wieder raus! hieß das. Er lehnte sich entspannt zurück.
„Ich war ziemlich doof damals!" erklärte sie schließlich.
„Stimmt!" erklärte Joshua, und alle lachten los.

Johannes bestellte sich einen Schweinebraten mit Knödeln, etwas, das er viele Jahre vermisst hatte.
Amelie lachte, als sein Essen kam. „Was ist das denn? Isst du Bälle?"
Als sie probierte, musste sie zugeben, dass die Kugeln sehr gut schmeckten. Joshua wollte auch versuchen, was dazu führte, dass der arme Vater zwei Portionen Bratwürste vertilgen musste, weil seine Kinder sein Essen in sich hinein mampften.
Aber was tat man nicht alles, um seinen Nachwuchs glücklich zu machen!


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top