Teil 61

„Papa hat Häuser bauen lassen. Für uns, für Mario, für die Großeltern Falkenberg und für Max, Maria, Robin und Keira. Neben denen von Lukas und Mona, Oma und Opa Vanmeeren und Thomas mit seiner Familie." erklärte Anna geduldig.

Amelies Mund stand offen. „Da wohnen wir dann alle ganz nah zusammen? So wie hier alle?" stieß sie schließlich hervor. „Und Mario kommt auch mit? Obwohl er so komische Eltern erwischt hat? Wohnen die dann auch bei uns?" Auf komische Eltern war sie nicht scharf.

Johannes lachte. „Nein, Süße! Wir lassen nur nicht komische Menschen bei uns wohnen!" versicherte er, und die Tochter atmete erleichtert auf.
„Und die Freunde bleiben alle hier!" stellte sie etwas traurig fest. „Aber man muss sich eben entscheiden - alles geht nicht!"

Anna drückte die Hand ihres Mannes, ihre Augen waren etwas feucht. „Die haben wir ganz gut hingekriegt, oder?" flüsterte sie ihm zu.
Er drückte die Liebe seines Lebens an sich, räusperte den Frosch aus seinem Hals. „Ja! Ziemlich gut!"

Am Abend im Bett kuschelte sich Amelie an ihren Bruder und versuchte dem Kleinen zu erklären, welche Veränderungen es in ihrer beider Leben bald schon geben würde. Joshua sah sie vertrauensvoll an. „Wenn du da hingehst und Papa und Mama und Mario, ist das schon in Ordnung!" erklärte er ernst, drehte sich um und schlief ein.

Die Schlosserei stand, sie hatten für ein Jahr einen Leiter aus Deutschland anwerben können. Die neuen Lehrkräfte, alles ehemalige Schüler aus dem Dorf, hatten ihren Job angetreten, Marios Nachfolger wohnte schon ein paar Wochen bei ihm. Rainers Schwester und ihr Mann würden in ein paar Tagen eintreffen, zusammen mit zwei Ingenieuren, die die technischen Anlagen betreuen würden.

Die Nachfolge war in allen Bereichen geregelt. Die Bewohner hatten sogar einen Bürgermeister gewählt, der die eintreffenden Spendengelder verwalten würde. „Ein wenig deutsche Bürokratie müssen wir schon hier lassen!" hatte Anna gespöttelt.

Die Häuser in Deutschland waren fertig gebaut und eingerichtet, Annas Familienmitglieder waren schon eingezogen.
In ihrer Wohnung in der Stadt wohnten Bob und Oli, sie zahlten eine symbolische Miete, legten aber jeden Monat eine dem Mietspiegel entsprechende Summe in einem Depot an. Ihr einstiges Startup hatte sich zu einem ziemlich großen, mittelständischen Unternehmen gemausert, sie konnten es sich durchaus leisten.

Sie arbeiteten nicht mehr rund um die Uhr wie in den Anfangszeiten, genossen ihr Leben und ihre Liebe. Sie waren auch die gewesen, die sie am häufigsten in Afrika besucht hatten.
Sie hatten Laptops gestiftet, Lernprogramme geschrieben. Annas Schüler waren besser ausgestattet und fitter im Umgang mit der modernsten Elektronik als viele Kinder zu Hause. Auch Amelie war schon äußerst geschickt im Umgang mit all der Technik.

Dann war der Tag des Abschiedes unausweichlich gekommen. Es gab wahre Tränenfluten auf beiden Seiten. Die Frauen überreichten ihren Wohltätern eine Patchwork-Decke in bunten Farben. Auf jedes einzelnen Quadrat waren die Worte: „Möge Gottes Liebe euch vergelten, was ihr uns Gutes getan habt!" abwechselnd in Deutsch, Englisch, Afrikaans und dem Stammesdialekt gestickt.

Bevor sie losfuhren, hielt Anna eine kleine Rede, die sie oft unterbrechen musste, weil die Tränen ihre Stimme zum Versagen brachten.
„Als wir hier ankamen, waren unsere Seelen wund vor Schmerzen, und wir dachten, dass sie nie wieder heilen würden. Doch jeder einzelne Tag in eurer Mitte hat uns gelehrt, dass das durchaus möglich sein kann.

Unsere Seelen tragen Narben – wie die vieler anderer Menschen auch. Doch wir haben gelernt, damit umzugehen, das, was das Leben uns an Wunderschönem noch zu bieten hat, anzunehmen. Und das ist eine ganze Menge. Wir haben zwei unvergleichliche Kinder bekommen, für die wir den Rest unseres Lebens demütig dankbar sein werden.
Wir danken euch!

Für die vielen unvergesslichen, schönen Jahre.
Dafür, dass ihr angenommen habt, was wir geben wollten, denn das war nur Geld.
Dafür, dass wir im Gegenzug Liebe, Vertrauen, Mithilfe, Engagement in vielen Bereichen bekommen haben.

Dafür, dass ihr mir, meinem wunderbaren Mann und unseren Kindern Freunde gewesen seid.
Ich hoffe, ihr bleibt es.
Ihr erbittet Gottes Liebe für uns. Aber, wenn er einmal mit etwas Wichtigerem beschäftigt ist, sind wir auch mit eurer Liebe mehr als zufrieden. Ihr werdet immer in unserem Herzen sein. Und glaubt uns: Wir kommen wieder Wir sehen uns alle wieder."

Danach lief sie schnell zum Fahrzeug, mit dem Duncan sie zum Flughafen bringen wollte. Das Gepäck hatte der junge Afrikaner schon am Vortag eingecheckt. Viel hatten sie nicht. Die meisten Klamotten hatten sie verschenkt, nur die persönlichen Dinge und Erinnerungen hatten sie eingepackt.

Johannes folgte ihr mit den Kindern an der Hand. Joshua war etwas verunsichert, weil die Mama weinte.
„Das sind nur Glückstränen!" erklärte Amelie. „Und die vom Papa auch!. So genau weiß ich nicht, warum sie heulen, aber es hat wohl auch mit uns unvergleichlichen Kindern zu tun. Was heißt unvergleichlich, Papa?"

Johannes musste über seine Tochter lachen. Wie Anna vertrieb sie die Traurigkeit in seinem Herzen mit ein paar lockeren Worten. „Das heißt, dass ihr so wunderbar seid, wie keine anderen Kinder auf der ganzen Welt. Deshalb kann man euch auch mit keinen andern Kindern vergleichen!" versuchte er zu erklären.

Amelie legte den Kopf schief wie seine Frau immer. Vererbte sich so etwas? dachte er ungläubig.
„Hast du das verstanden, Joshua?" fragte sie.
„Hm!" meinte der Kleine nur. Er war eher mundfaul, wie auch Johannes in dem Alter gewesen war.

Trotzdem sah der Vater ihn etwas prüfend an. In letzter Zeit schien er noch weniger zu sprechen als gewöhnlich.
Irgendetwas schien ihn zu bedrücken.
Ob er nicht weg wollte von hier?
Ob er Angst hatte vor all dem Neuen, Unbekannten?
Er nahm sich vor, so schnell wie möglich ein Gespräch mit seinem Söhnchen zu führen.

Mario segnete seine Gemeinde, während ihm Tränen über die Wangen liefen. Viele Jahre lang hatte er hier Heimat gefunden, Heimat und eine große Familie.
Auch er trug Narben auf seiner Seele, wie die unvergleichliche Anna es genannt hatte.
Aber auch seine waren erträglich geworden.

Gemeinsam sangen sie ein Loblied auf Gott, dann schüttelte er all die Hände, die ihn so lange aufgefangen hatten.
Er wusste tief in sich, dass der Weg, den er gehen würde, richtig war – so richtig, wie es damals gewesen war, hierher zu kommen.

Er würde es nicht ertragen, noch eine Familie zu verlieren. Und Anna und Johannes mit ihren beiden wunderbaren Kindern waren seine neue Familie. Nächtelang war er in seinem Zimmer auf und ab gegangen, Stunden hatte er auf Knien in der Kirche verbracht, um Gott davon zu überzeugen, dass er seine Schuld abgetragen hatte.

Bis er schließlich davon überzeugt war, dass Jesus Christus ihn verstanden hatte.
Ab diesem Moment war ihm sehr leicht ums Herz, das von einer unfassbar großen Freude erfüllt war.

Im Flugzeug – Johannes hatte für alle Business-Class spendiert – grübelte er über seine Zukunft nach.
Er würde aus dem Orden austreten müssen, es war nicht geduldet, außerhalb des Klosters zu wohnen - außer natürlich bei einem Auslandsaufenthalt.

Und auf einen Männerkonvent hatte er nicht die geringste Lust.
Er fühlte einen unheimlichen Lebenswillen in sich, wollte sich nicht mehr verkriechen.
Er wusste, dass seine Frau und sein Sohn das verstanden. Oft und oft hatte er Zwiesprachen mit ihnen gehalten, oft und oft hatten sie mit ihm geschimpft, weil er sich dem Leben so verwehrt hatte.

Doch er hatte ihnen auch erklärt, dass seine Arbeit in Afrika ihn glücklich machte, oder zumindest zufrieden.
Noch mehr, seit erst Anna und dann endlich auch Johannes angekommen waren.
Da war er immer öfter so etwas wie glücklich gewesen – ein Gefühl, das er sich lange verboten hatte.

Und Susanne und Joshua waren immer öfter zufrieden mit ihm gewesen.
Hin und wieder hatte er es sich sogar erlaubt, an eine eigene Familie zu denken.
Gut – er war Priester, hatte ein Gelübde angelegt, aber auch hier hatte er das Gefühl, Gott würde ihn verstehen.

Die Blicke, die Anna Johannes zuwarf, ließen sein Herz oft vor Sehnsucht rasen. Nicht wegen ihr, sondern wegen dem, was diese Blicke dem Freund sagten: „Ich liebe dich für immer!"
Danach sehnte er sich immer mehr. Nach einer Frau, die ihn bedingungslos liebte, wie Susanne es getan hatte.

Er schloss die Augen. Bilder aus der Vergangenheit liefen an seinem inneren Auge vorbei. Susanne, die ihn lächelnd an der Türe ihres gemeinsamen Hauses begrüßte, Joshua, der angesaust kam und in seine Arme sprang.

Doch diese wunderschönen Bilder schmerzten nicht mehr wie früher. Sie erfüllten ihn mit Dankbarkeit, dass er diese Erinnerungen haben durfte.
Er dämmerte in einen Halbschlaf hinüber, die Bilder begleiteten ihn.

Johannes hielt sein wunderschönes Mädchen im Arm, das leise vor sich hin schnarchte. Sein Blick lag voll Liebe auf ihr, wanderte dann zu seinen Kindern. Joshua hatte seinen Kopf auf Amelies Schoß gebettet, ihre Hand hielt ihn fest. Beide schliefen tief.

Würde diese innige Verbindung zwischen den beiden in Deutschland bestehen bleiben?
Wenn sie neue Freunde fand, würde sie den Bruder noch immer so sehr lieben?

Wenn er den Luxus und Konsum in der alten Heimat kennenlernte, würde er der etwas verträumte Junge bleiben, der zufrieden mit ein paar Buntstiften und einem Zeichenblock war?
Würde es für die beiden ein Kulturschock werden, in den Überfluss geworfen zu werden?
Hatten sie einen Fehler gemacht?
War es zu früh?

Er rief sich Marios Worte ins Gedächtnis: „Ihre Perspektiven hier sind doch sehr beschränkt!"
Der Freund hatte recht. Seine Kinder sollten alle Chancen bekommen, sie durften ihnen das nicht vorenthalten.
Er hoffte einfach darauf, dass ihre Erziehung dafür sorgen würde, dass sie zum größten Teil blieben, was sie waren: Empathisch, hilfsbereit, zufrieden, glücklich!


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