Teil 59

Johannes schmuste inzwischen sein cooles Mädchen ab. „Bei dir muss man ja auf der Hut sein!" sagte er zwischen zwei Küssen. „Du hast es ja faustdick hinter den Ohren."
Anna hatte immer noch Bauchschmerzen vor Lachen. Als sie an das Gesicht von Roman dachte, als sie ihm ihre Vorschläge unterbreitet hatte, prustete sie wieder los.

Johannes drehte sich mit ihr glücklich im Kreis. „Jetzt krieg dich wieder mal ein! Sonst wird das heute nichts mehr mit den Küssen."
Sie schnappte japsend nach Luft. „Ich habe doch mit dem Sex-Getöns gar nichts mehr am Hut!"

Jetzt schüttelte es ihn vor Lachen. „Der Satz war der beste! Und so überzeugend hast du ihn rübergebracht."
„Aber du hast es nicht geglaubt?" zog sie ihn auf.
„Nein!" krächzte er. „Ich glaub dir so ziemlich alles, aber das nicht."
„Gut!" erklärte sie und ließ zu, dass er ein paar Beweise einforderte, die öffentlichkeitstauglich waren.

Als Amelie vier Jahre alt war, begann sie Fragen zu stellen.
Sie begann meist sehr harmlos, aber bald hatte sie die Eltern in der Endlosspirale gefangen.

A: „Warum leben meine Omas und Opas nicht bei uns?
J: „Sie sind in Deutschland geblieben, als wir hier hergezogen sind."
A: „Was ist das: Deutschland?"
J: „Ein Land am anderen Ende der Erde, wo Mama und ich geboren sind."
Anna holte einen Atlas. „Schau: Das ist die Erde. Hier ist Afrika, das ist ein Teil der Erde, also ein Erdteil.
Hier ist Europa, das ist ein anderer Erdteil."
A: „Europa ist ja winzig!"
J: „Ja, aber da gibt es viele Länder. Hier ist Deutschland, und hier, ganz weit unten ist Südafrika, wo wir jetzt leben."
A: „Seid ihr weggegangen, weil da kein Platz mehr war in dem kleinen Deutschland?"

Jetzt wurde es schon schwieriger.
J: „Nein, wir sind weggegangen, weil wir traurig waren, dass Leon gestorben ist."
A: „Und hier ward ihr weniger traurig?"
J: „Nicht gleich, aber mit der Zeit ist es besser geworden."
A: „Und dann habt ihr mich gemacht, und dann Joshua?"
Johannes wurde es etwas heiß. Er ahnte, dass die Frage nach den Großeltern nur der Anfang gewesen war. „Ja genau! Dann haben wir euch beide bekommen."
A: „Kemal sagt, ihr bekommt noch viele Kinder, weil ihr immer so zusammenpappt."

Anna versuchte den Lachanfall in Griff zu bekommen, stand schnell auf, gab vor, etwas aus der Küche holen zu müssen.
„Verräterin!" flüsterte Johannes ihr zu.

Amelie sah ihren Vater ernst an. Da hatte sie ein interessantes Thema gefunden.
„Kemal sagt, seine Eltern machen andauernd Kinder. Dabei sind sie schon sieben! Wollt ihr auch sieben Kinder? Kemal sagt, sie haben zu wenig Platz für so viele. Wir haben ja ein größeres Haus, aber mit sieben Kindern wäre es schon ein wenig eng, oder?"

Johannes schluckte nun auch das Kichern hinunter, das in seiner Kehle hochstieg. „Nein, wir wollen nicht mehr Kinder als euch beide."

A: „Aber wenn sie kommen? Kemal sagt, seine Mama will auch nicht noch mehr Kinder, aber es kommt schon wieder eines."
Anna hatte tiefstes Mitleid mit ihrem Mann, stellte ein Glas Wasser vor ihre Tochter. „Trink mal was, Liebling."

Amelie sah ihren Vater verschwörerisch an. „Sie lenkt ab! Merkst du das?"
Er konnte sich kaum noch halten. Das hatte sie von ihm aufgeschnappt.
„Also - Eltern können schon aufpassen, dass sie nicht mehr Kinder bekommen als sie wollen." Huch! Der Schweiß brach ihm aus.

Ein Aufklärungsgespräch mit einer Vierjährigen? Er wusste nicht, ob er dem gewachsen war.
Amelie sah ihn mit großen Augen an. „Echt? Das musst du Kemals Eltern sagen, wie das geht."
Johannes atmete auf. Gott sei Dank, sie fragte nicht nach Details.
Dafür nahm sie ihn an der Hand, wollte ihn aus dem Haus ziehen. „Komm! Jetzt gleich! Bevor sie noch mehr Kinder machen."

Anna hielt den kleinen Wirbelwind fest. „Amelie! Das wissen die Eltern von Kemal schon. Wir haben es ihnen schon ein paar Mal erklärt. Aber sie möchten eben viele Kinder, und das müssen wir respektieren. Es ist ihr Leben, das geht uns nichts an."

Amelie dachte kurz nach. Ja! Das hatte sie verstanden.
Da fiel ihr ihre erste Frage wieder ein. „Aber warum sind denn jetzt die Omas und Opas nicht mit nach Afrika gezogen? Hier ist es doch schön!"
„Weil sie ihr Leben in Deutschland haben!" antwortete Johannes.
„Und das müssen wir respektieren?" fragte die Kleine nach.

„Ja! Das müssen wir respektieren, so wie sie es respektiert haben, als wir gegangen sind!" erklärte ihr Vater.
Amelie sah zum Fenster hinaus. „Aber alle Kinder hier haben die Omas und Opas, die Tanten und Onkel, die Cousinen und Cousins, sogar die Freunde in Afrika. Blöd, dass bei uns alle in Deutschland sind." Damit schlenderte sie hinaus. So ganz verstand sie das Ganze ja noch nicht.

Johannes und Anna blieben nachdenklich zurück.
„Meinst du, wir machen einen Fehler?" fragte er nach einer ganzen Weile.
Anna zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht!" gab sie offen zu.
„Vielleicht wäre es für die Kinder gut, wenn sie auch ihren Kulturkreis kennenlernen würden?" Zum ersten Mal, seit sie hier waren, hatte Johannes diese Gedanken. Es war in Ordnung, dass sie Afrika zu ihrer neuen Heimat erklärt hatten.

Aber hatten sie das Recht, für ihre Kinder zu entscheiden?
„Vielleicht sollten wir mal hinfliegen, ihnen alles zeigen, wo wir herkommen, wie wir gelebt haben? Vielleicht sehen wir dann klarer?" gab er zu bedenken.

Anna lächelte ihn an. „Vielleicht finden sie Deutschland ganz fürchterlich?" Beinahe hoffte sie das. Noch wollte sie sich noch nicht von ihrem Leben hier verabschieden.
„Es kann aber auch sein, dass es nur unbedachte Worte einer Vierjährigen waren. Dass sie das Ganze morgen schon wieder vergessen hat!" wandte er ein, und auch er hoffte, dass es so sein würde. Noch war nicht die ganze Arbeit getan, die er geplant hatte.

Als Amelie zurückkam, um ihren Bruder aufzuwecken und zu einem Ballspiel abzuholen, schien sie die Deutschland-Geschichte wirklich vergessen zu haben.
Sie wirkte glücklich und zufrieden, schenkte ihrem Vater einen Kuss, ihrer Mutter ein Lächeln.
Gemeinsam mit Joshua lief sie aufgedreht zu den Freunden zurück.

Ein paar Tage später saßen sie abends mit Mario auf der Terrasse ihres Hauses. Er hatte wie immer den kleinen Joshua auf dem Schoß. Er genoss wie immer die kostbaren Stunden, in denen er einen kleinen Jungen vorbehaltlos lieben durfte.

Er konnte sich dann an seinen Sohn erinnern, mit dem er viel zu wenig Zeit hatte verbringen dürfen. Er bereute noch immer jede Stunde, die er außer Hauses verbracht hatte, anstatt bei seiner Familie zu bleiben. Aber er hatte doch gedacht, ihnen blieben noch unzählige gemeinsame Jahre!

Seine Frau und sein Kind hatten für diesen Irrglauben mit dem Leben bezahlen müssen, doch sie hatten ihm Anna und Johannes, Amelie und vor allem Joshua geschickt.
Mitten in das einvernehmliche Schweigen hinein fragte Amelie: „Hast du auch eine Mama und einen Papa in Deutschland?"

Mario tauchte aus seinen Gedanken auf. „Ja, habe ich!"
„Und haben die das auch respektiert, dass du nach Afrika gegangen bist?" bohrte das Mädchen weiter.
„Ja! Natürlich!" antwortete Mario, und bat den Herrn, dass er ihm diese Lüge verzeihen möge. Seine Eltern waren mehr als ungehalten gewesen, als er sie verlassen hatte, hatten ihm schwere Vorwürfe gemacht. Er hörte noch immer die keifende Stimme seiner Mutter: „Erst nimmst du uns Susanne und Joshua, weil dir diese Junkies wichtiger waren, und nun lässt du uns alleine zurück. Dafür habe ich dich nicht unter Schmerzen zur Welt gebracht."

Tränenblind hatte er damals das Elternhaus verlassen und war nie wieder zurückgekehrt. Ein Jahr später hatte er versucht, Kontakt mit ihnen aufzunehmen, aber sie hatten weder seine Telefonate angenommen, noch auf seine Briefe geantwortet.
Gut, er hatte nie einen besonderen Draht zu ihnen gehabt, seine Tante und sein Onkel, Monas Eltern, waren ihm seltsamerweise immer näher gestanden. Er war eigentlich bei ihnen aufgewachsen, mit Mona als Schwester.

„Und warum besuchen sie dich nie?" Amelie wollte noch viel mehr wissen.
„Sie sind schon alt!" Die nächste Lüge. Wie er von Mona erfahren hatte, reisten sie sehr agil durch die ganze Welt.
„Meine Omas und Opas sind auch alt, aber sie kommen trotzdem." Die Kleine war wieder einmal sehr beharrlich.

Das brachte Mario zum Lächeln. Die Wortgewandtheit hatte sie wohl von ihrer Mutter geerbt, die auch jeden Wortwechsel für sich entschied.
„Alle Menschen sind nicht gleich, Amelie!" erklärte er. „Es gibt Eltern und Großeltern, für die sind die Kinder und Enkelkinder das Wichtigste auf der Welt, so wie bei euch. Und dann gibt es eben auch andere, denen ein Sohn oder auch eine Tochter nicht so wichtig ist."

„Echt jetzt?" Die Kleine war von den Socken. Das sollte stimmen? Aber Mario war ein Priester! Der durfte sie doch gar nicht anlügen.
„Und solche Eltern hast du erwischt?"
Die Ausdrucksweise des Mädchens brachte alle zum Lachen.
„Ja, Süße! Solche habe ich erwischt!" gestand Mario mit Lachtränen in den Augen ein.

„Sollen wir dir ein paar von den unseren leihen?" Amelie fand diese Idee grandios.
„Nein, danke!" Er hielt sich den Bauch vor Lachen. „Ich habe mir die von Mona mit ihr geteilt."
„Ach! Die nette Franziska und der dicke Otto? Da hast du ja dann nochmal Glück gehabt!"
Johannes hörte seiner Tochter fasziniert zu. Die konnte Anna ja mal gar nicht verleugnen! Er hörte seine Süße eins zu eins.

Der trockene Humor!
Die glasklaren Formulierungen! Und die Kleine war vier!
So war mit Sicherheit Anna als Kind gewesen.

Später dann hatte sich ein idiotischer Freund und späterer Ehemann daran gestört, ihr mit Worten nicht gewachsen zu sein. Da hatte sie mit dem Reden aufgehört.
So wie die Frauen in ihren Büchern. Er hatte erst richtig nach einem langen Gespräch mit Fritz und Friederike, seinen Schwiegereltern, verstanden, wie viel über sich selbst sie in jedem Band preisgegeben hatte.


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