Teil 49
Johannes
Seit er wieder in seinem Appartement wohnte, musste Johannes fast pausenlos an Anna denken. Er erinnerte sich an nahezu jeden einzelnen Tag, den er mit ihr hatte verbringen dürfen. Er gab diese Liebe noch nicht auf. Sie war nicht sie selbst gewesen, als sie ihn immer und immer wieder weggeschickt hatte.
Es würde einen Weg geben, wieder zueinander zu finden.
Daran klammerte er sich jeden freien Tag und jede freie Stunde.
Er sah die Fotos von ihr auf seinem Handy immer wieder an, schickte ihr in Gedanken seine Liebe.
Sie machte eine Therapie, hatte Lukas gesagt. Das war ein gutes Zeichen.
Ein Zeichen, dass sie bereit war, weiter zu leben.
Und wenn sie wieder heil war, würde sie sich auch wieder an die Liebe zwischen ihnen erinnern. Sie konnte nicht das, was sie gehabt hatten, einfach vergessen.
Er würde sie zurückbekommen. Doch Woche um Woche verging, Lukas rückte nicht mit der Sprache heraus. Das Semester begann, aber der Job hatte seinen Glanz verloren. Er rutschte wieder in die Depression ab. Lukas erkannte die Zeichen schnell, wusste, dass er jetzt handeln musste.
Eigentlich hatte er erst selbst zu Anna fliegen wollen, um sicher zu sein, dass sie Johannes nicht noch einmal so verletzen würde. Doch die Nachrichten, die Mario übermittelte, klangen vielversprechend. Sie sprach über Johannes, erzählte von ihrem gemeinsamen Leben, erinnerte sich an die Liebe, die sie geteilt hatten.
Mario war ziemlich sicher, dass sie es wagen konnten.
Als Johannes eines Abends bei ihnen zum Essen war, er hatte sogar wieder gekocht, sagte Lukas wie beiläufig. „Anna ist in Afrika, bei Mario. Sie unterrichtet ein Schuljahr lang dort."
Johannes fiel das Besteck aus der Hand. In Afrika? Darauf wäre er in hundert Jahren nicht gekommen.
Er hatte gedacht, sie wäre in einer Klinik in den Bergen oder an der See.
Aber, wiederum - genau das passte zu ihr. Zu dem Mädchen, das die Welt ein wenig besser machen wollte.
Ihren Romanheldinnen hatte Deutschland genügt, oder zumindest Europa. Er lachte leise vor sich hin. „Da hätte ich eigentlich drauf kommen können."
Lukas war froh, dass der Kumpel das so locker nahm. „Und? Brauchen die einen Elektronik-Fachmann?" fragte Johannes, als würde er sich nach den Wetteraussichten für den nächsten Tag erkundigen.
„Dringend!" antwortete Lukas genauso wortkarg. Seine Stimme war etwas brüchig.
Er zog ein Blatt aus der Jackentasche. „Der Flugplan! Flüge bekommst du immer leicht!"
Mona legte die Wohnungsschlüssel vor ihm auf den Tisch. „Wenn du noch was aus der Wohnung brauchst!.Schmeiß sie einfach bei Silke in den Briefkasten!"
Die drei umarmten sich herzlich. „Danke für alles!" stieß Johannes hervor. „Ihr habt was gut bei mir."
Lukas lachte heiser auf. „Langsam habe ich wohl meine Schulden bei dir abgearbeitet."
Johannes beantragte ein Urlaubsemester, das auch genehmigt wurde. Die Uni war stolz darauf, einen der ihren nach Afrika entsenden zu können, unterstützte ihn auf ganzer Linie. Zehn Tage nach dem Gespräch mit Lukas und Mona saß er im Flugzeug. Mario würde ihn vom Flughafen abholen, Anna wusste nicht, dass er kam.
Anna
Anna lebte sich gut ein. Sie unterrichtete die Kleinen, eine pensionierte Gymnasiallehrerin die Großen. Sie merkte zunehmend, wie sich ihr Herz für die kleinen, dunkelhäutigen Wonneproppen öffnete. Sie hatte alle schon gezeichnet, wenn sie anfangs auch gedacht hatte, sie sähen alle gleich aus.
Eines Tages hatte Mario ihr ein Foto von Susanne und Joshua vorbeigebracht, hatte sie gebeten, eine Zeichnung davon anzufertigen.
Bei dieser Arbeit war immer wieder ein Bild vor ihren Augen aufgetaucht. Ein großer, gutaussehender Mann mit einem winzig kleinen Baby auf dem Arm.
Als Marios Auftrag erledigt war, musste dieses Bild unbedingt aufs Papier gebracht werden. Sie saß in Gedanken versunken vor ihrem Häuschen, war schon fast fertig. Sie wunderte sich ein wenig, dass die Tränen ausblieben, wusste in diesem Augenblick, dass sie aus Trauer viel genug geweint hatte.
Mario war weggefahren, hatte ein großes Geheimnis daraus gemacht. Sonst erzählten sie sich jedes noch so kleine Detail, waren wie Bruder und Schwester.
Sie hörte sein Auto brummen, wartete darauf, dass er zu ihr kam, damit sie ihm ihre Zeichnung zeigen konnte. Sie blinzelte in die tiefstehende Sonne, sah einen Mann, der auf sie zukam, langsam und vorsichtig.
Mario war das nicht!
Lukas? Nein, der war blond!
Täuschte das Sonnenlicht?
Thomas? Das kam eher hin.
Doch als er noch einen Schritt machte und aus dem grellen Licht in den Schatten trat, wusste sie Bescheid.
Der Block und die Stifte fielen zu Boden, als sie aufsprang und ihm entgegenrannte.
Johannes!
Johannes war um den halben Globus zu ihr gekommen!
Er fing sie auf, drehte sich mit ihr im Kreis. Sein Mädchen! Er hatte sein Mädchen wieder!
Er hatte seine Anna wieder!
Mario beobachtete die beiden, drehte sich beruhigt um. Sie hatten es richtig gemacht.
Er ging in die kleine Kirche, zündete eine Kerze an, sprach ein Dankgebet.
Johannes hob den Block auf, den sein Wirbelwind fallen gelassen hatte. Als er das Bild sah, erstarrte er kurz. Doch dann begriff er, dass ihre Seele geheilt war, dass sie ihm verziehen hatte, was sie geglaubt hatte, verzeihen zu müssen.
Sonst hätte sie nie zeichnen können, was sich in seinem Gedächtnis eingebrannt hatte: Den kleinen Leon, den er auf dem Arm hielt. Seltsamer Weise waren seine Augen nicht so traurig wie damals. Sie leuchteten sogar.
„Leb wohl, kleiner Engel!" flüsterte er.
„Wir werden dich nie vergessen! Aber wir geben dich frei!" sagte sie.
Danach hielten sie sich stumm im Arm und wussten, dass sie es schaffen würden. Das Schicksal hatte ihnen noch eine Chance gegeben.
Und ihre Freunde hatten dem Schicksal gehörig in den Hintern getreten.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top