Teil 47

Anna

Anna hatte aufgehört zu leben. Sie war ein Körper, der sich bewegte, der aß und trank, aber sie war mit ihrem Sohn gestorben.

Jeden Tag läutete Johannes gegen sechs an der Türe, flehte, dass sie ihn hineinließ oder ihm wenigstens sagte, dass es ihr einigermaßen gut ging. Sie drehte dann immer die Musik laut, damit sie seine Stimme nicht hören musste. Hardrock und Rap, etwas, das sie nie hatte leiden können.

Aber sie musste um jeden Preis verhindern, dass ein Liebeslied aus den Lautsprechern kam, dass sie sich erinnern musste.
Sie wies auch alle anderen Besucher ab, die sich nach ihr erkundigen wollten, die sie trösten wollten.

Wer sollte sie denn wie trösten?
Konnte einer von ihnen ihr Kind zurückbringen?
Sie zeichnete viel, aber es waren immer nur Teufelsfratzen. Sie zerknüllte die Blätter, bald war der Boden übersät davon.

Manchmal, wenn sie den Müll runterbrachte – das einzige, das sie schaffte – fand sie Lebensmittel vor der Türe. Von wem sie kamen, wusste sie nicht, es interessierte sie auch nicht. Das Handy hatte schon seit Tagen keinen Saft mehr, wozu sollte sie es aufladen?
Den Stecker vom Festnetzanschluss hatte sie gezogen, es sollte auf keinen Fall läuten.
Die Post stapelte sich auf dem Küchentresen, sie hatte nicht einen einzigen Blick darauf geworfen.

Hin und wieder in einem lichten Moment dachte sie an die Schule.
Aber sollte sie da wieder hingehen, die Kinder anderer Eltern erziehen oder sogar lieben?
Das war unvorstellbar für sie.

Sie wusste nie, ob Tag oder Nacht war, die Rollos blieben geschlossen. Die Scherben der Vase lagen auf dem Boden, zwischen den verdorrten Rosen. Manchmal trat sie vollbewusst hinein, genoss den Schmerz an ihren Füßen, der für eine Sekunde am Tag den Schmerz in ihrer Seele übertönte.

Eine Sekunde, das war viel.
Eine Sekunde lang vergessen zu können, war ein Gottesgeschenk.
Gottesgeschenk! dachte sie bitter. Ich danke dir von Herzen für deine Geschenke, Gott!

Ihre Eltern und ihre Schwester waren oft nahe dran, die Türe aufzubrechen, schreckten aber letztendlich vor diesem Schritt zurück.
Mona kampierte eine ganze Nacht vor ihrer Wohnung – vergebens.
Ben und Oli trommelten stundenlang gegen die Tür, hörten die aggressiven Musik-Töne nach draußen, wussten dann wenigstens, dass sie noch lebte.

Johannes

Johannes schaffte den Alltag irgendwie, aber alle, die ihn kannten, wussten, dass er nur noch ein Schatten seiner selbst war. Er funktionierte an der Uni, mietete sich ein kleines Appartement.

Täglich fuhr er zu Anna, täglich hoffte er, sie würde ihm öffnen. Drei Monate waren nun schon vergangen, nichts hatte sich geändert. Auf sein Rufen antworteten nur dröhnende Bässe. Er stellte ihr immer wieder Lebensmittel vor die Türe, wenigstens die schien sie zu bemerken und anzunehmen.

Sie wusste wohl nicht, dass sie von ihm kamen, sonst hätte sie sie wahrscheinlich verderben lassen.
Immer wieder grübelte er, warum sie so unversöhnlich reagierte, was sie ihm vorwarf, warum sie nicht ein einziges Mal mit ihm sprach. Er hatte doch auch ein Kind verloren!
Manchmal war er verdammt wütend auf sie, manchmal vermisste er sie einfach nur.

An einem Tag, an dem er besonders verzweifelt war, schob ihm Britta eine kleine Pille zu. „Da! Das hilft!" sagte sie und blinzelte ihm zu. Er hätte sie am liebsten erschlagen, so wütend machte ihn dieser anzügliche Blick.

Am Abend fand er die Tablette in seiner Hosentasche, wohin er sie gesteckt hatte, damit niemand auf dumme Gedanken kam.
Lange sah er das kleine weiße Kügelchen an. Schaden kann das auch nicht! dachte er und schluckte es hinunter. Eine halbe Stunde später merkte er, dass etwas in seinem Blut rauschte.

Er sah Farben leuchten, der Nebel um seine Seele löste sich auf. Und verdammt! Das Zeug machte geil! Zum ersten Mal seit Wochen rührte sich sein Schwanz wieder.
„Hallo, mein Freund!" lallte er kichernd. Er fasste sich an und fühlte die Erregung übermächtig werden. Er besorgte es sich unter der Dusche, musste sich mit einer Hand festhalten, weil er so taumelig war.

Viel zu schnell war das Hochgefühl auch wieder verflogen. Die Leere kam unvermittelt zurück. Und sie war schlimmer als je zuvor, weil auch noch eine tiefe Scham dazu kam. Doch wider Erwarten schlief er zum ersten Mal seit langem eine Nacht tief und traumlos durch.

„Na? Hat es geholfen?" fragte Britta am nächsten Tag und schob ihm wieder eine Pille hin. Er wollte sie zurückweisen, dachte aber an die Wirkung des Teufelszeugs. Einmal wollte er das noch erleben.

Schon bald merkte er, dass ihm die eine Tablette am Tag nicht reichte. Er wollte mehr!
„Kannst du mir was von dem Zeug besorgen?" flüsterte er der Studentin am nächsten Tag zu und bemerkte nicht das teuflische Grinsen auf ihrem Gesicht. „Ich bezahle natürlich!"
Oh ja! Das wirst du! dachte Britta. „Komm heute Abend zu mir!" Sie tippte ihre Adresse ungefragt in sein Handy. „Um acht!"

Sie erwartete ihn in einem dünnen Morgenmantel, er sah, dass sie nichts darunter anhatte. Sie zog ihn in die Wohnung, presste sich an ihn, schob ihm eine Pille zwischen die Lippen und fing an, an ihm rumzumachen. Als das Gift durch seinen Körper schoss, warf er sie aufs Bett und drang in sie ein. Er berührte sie kaum, hatte nicht das geringste Bedürfnis dazu, wollte nur Befriedigung seiner Geilheit.

Danach gab sie ihm drei Pillen. „Bis Morgen!" rief sie ihm nach, als er schnell durch die Türe verschwand. Zu Hause kam dann der Katzenjammer. Aber er hatte ja drei Glücksbringer! Schnell schluckte er einen.
War er heute eigentlich schon bei Anna gewesen?

Er konnte sich nicht erinnern.
Aber es war ja egal.
Sie konnte ihm den Buckel runterrutschen.
Er brauchte sie nicht mehr.
Und in diesem Moment glaubte er seinen berauschten Gedanken sogar.

So ging es einige Zeit weiter. Er fickte Britta, bekam seine Pillen.
Eines Abends hatte er sogar Lust, mal wieder Lukas zu besuchen. Er schluckte schnell noch eine Tablette und fuhr los. Vollkommen aufgekratzt läutete er an der Türe seines ehemaligen Häuschens.

Lukas genügte ein Blick in das dümmlich grinsende Gesicht des Freundes, in die erweiterten Pupillen.
„Was schluckst du?" fragte er als erstes, als sie im Arbeitszimmer saßen.
Johannes lachte unecht. „Ich habe schon ewig nichts getrunken!" witzelte er.
Doch Lukas blieb ernst. „Was wirfst du ein? Du weißt genau, was ich meine!"
Johannes fuhr hoch. „Was soll das heißen? Darf ich nicht wieder einmal glücklich sein?"
„Du bist nicht glücklich, du bist high, angeturnt, auf Droge!" antwortete Lukas.

Da fiel Johannes in sich zusammen. Der Freund hatte recht. Er war alles andere als glücklich! Er fickte ein schreckliches Weib, um an dieses Zeug zu kommen. Er prostituierte sich für etwas, von dem er nicht einmal wusste, was es war.

Aber hier, vor seinem besten Freund, in seinem alten Arbeitszimmer, wurde ihm klar, dass er dabei war, abhängig zu werden, wenn er es nicht schon war.
Etwas, das er immer zutiefst verurteilt hatte, war eingetroffen: Er war ein Junkie!

Und er begann dem Vertrauten vieler Jahre zu erzählen: Von seinem Schmerz, der nicht weniger wurde, von der ersten Tablette und ihrer Wirkung, von Britta. Er war gnadenlos ehrlich. Zuerst sehr beherrscht, dann, als die Wirkung der Droge nachließ, heulend. Lukas hielt ihn im Arm, ließ ihn reden, ließ ihn sich selbst zerfleischen.

„Du musst mit dem Mist aufhören! Es wird nicht leicht werden, der Dreck macht ziemlich schnell abhängig, auch körperlich!" Er atmete tief ein. Was er hier tat, war gegen die Vorschriften. Er hätte den Missbrauch melden müssen und diese Britta vorladen. „Ich helfe dir. Du bleibst erst einmal hier."

Johannes war mittlerweile klar genug, um einzusehen, dass Lukas recht hatte. Zum Glück waren ab dem nächsten Tag Semesterferien. Wahrscheinlich hatte sein Unterbewusstsein ihn gerade heute hierhergeführt, weil es ahnte, dass er Hilfe brauchte.

Es wird nicht leicht werden! hatte Lukas gesagt, und das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Johannes litt Höllenqualen, körperlich, seelisch, geistig. Er hatte Schmerzen im ganzen Körper, Albträume, auch wenn er gar nicht schlief, Angstzustände, Panikattacken, Schweißausbrüche.

Er kotzte sich tagelang die Seele aus dem Körper, hatte Durchfall, Hungerattacken, Appetitlosigkeit. Er fror und schwitzte gleichzeitig, Schüttelfrost beutelte ihn so lange, bis seine ganzen Gliedmaßen verkrampften.
Mona und Lukas hielten abwechselnd Wache bei ihm, seine Verwandten bekamen zum Glück nichts mit. Nach vier Wochen schien das Schlimmste überstanden zu sein.

„Eine einzige Tablette, und alles fängt von vorne an!" warnte Lukas ihn. Zum Glück hatte der Kumpel keinen direkten Kontakt zur Szene, würde also nicht so leicht wieder an Stoff kommen. Dieses Weibsstück war wie erwartet durch die Prüfung gefallen, hatte die Stadt verlassen. Lukas hatte so seine Quellen.

„Wie geht es Anna?" fragte Johannes eines Morgens zum ersten Mal nach unendlicher Zeit wieder einmal.
„Sie macht eine Therapie, seit zwei Wochen. Ich glaube, es geht ein wenig aufwärts!" antwortete Lukas.
„Meinst du, wir können es noch schaffen, also miteinander?" wagte Johannes zu fragen.
„Das müsst ihr!" antwortete der Freund. „Ihr gehört zusammen!"

Nach weiteren zwei Wochen konnte Johannes wieder in sein Appartement entlassen werden. Er war sich mehr als sicher, dass er dieses Dreckszeug nicht mehr anfassen würde. Es drängte ihn, zu Anna zu fahren, aber Lukas hatte ihm gesagt, dass sie während dieser Therapie für niemanden zu sprechen wäre. Aber er hatte versprochen, ihn auf dem Laufenden zu halten.


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