Teil 29

Johannes - Teneriffa

Am nächsten Tag wachte Johannes relativ ausgeschlafen auf. Er hatte zum ersten Mal seit langer Zeit keinen Brummschädel, dafür einen Höllenhunger. Er aß sich einmal quer durch seine Vorräte, entlockte der verkalkten Kaffeemaschine eine braune Brühe, die wenigstens Koffein enthielt.

Dann fuhr er zu einem Vietnamesen-Markt, an den er sich erinnerte.
Sie hatten dort zwei Kaffeetassen gekauft, die sie in ihrer Wohnung beim Frühstück benutzten. Sie waren so herrlich geschmacklos, mit einer Landkarte der Insel, dass sie immer lachen mussten. Aber der Kaffee schmeckte aus ihnen wie Ambrosia.

„Nächstes Mal nehmen wir zwei für dein Haus mit!" hatte sie erklärt, und er hatte sich wie verrückt darauf gefreut. Ohne zu wissen warum, schnappte er sich zwei Exemplare und kaufte dann noch ein Handy.

Er wählte die Nummer seines Bruders, der zum Glück nicht abnahm. So konnte er texten, dass es ihm gut ging. Sagen hätte er das nicht können, der Tränenstrom hätte seine Stimme abgewürgt.
Danach ging er an den Strand, natürlich an den, an dem er mit ihr immer entlang gegangen war.
Da waren die Dünen, hinter denen sie sich geliebt hatten, da war die kleine Strandbar, in der sie Knoblauchkrabben gegessen hatten.

Da war die Promenade, über die sie gebummelt waren.
Die kleinen Läden, in denen sie sich unnütze Geschenke gekauft hatten.
Da war auch der Juwelier, in dessen Schaufenster er den perfekten Verlobungsring gesehen hatte.
Er lag noch immer im Schaufenster.

Wieder drückte der Schmerz ihm das Herz fast ab.
Wieder hatte er Probleme zu atmen.
Fuck! schrie es in ihm. Fuck! Tut das weh!

Er setzte sich in den Sand, sah dem Spiel der Wellen zu.
Da fiel ihm Julia ein, die schon als Kind Gedichte geschrieben hatte.
Jonas hatte eines davon am besten gefallen, das von der Welle.
Wie viel von Julia steckte in Anna?

Wie war sie als Kind gewesen?
Wie viel von den vier Frauen steckte in ihr?
Hatte sie ihre Vergangenheit aufgearbeitet in diesen Büchern?
Vor allem die Vergangenheit mit ihrem Ex-Mann?

Der tauchte ja immer wieder in verschiedenen Rollen auf.
War es um Christian gegangen?
Um die verlorene Jugend an seiner Seite?
War es gar nicht um ihn selbst und die Traummänner gegangen?

War es immer nur um Anna gegangen?
Um Annas Träume, Wünsche und Hoffnungen?
Hatte sie gar nicht ihn verletzen wollen?
Hatte sie sich selbst finden wollen?
Hatte sie nach 13 Jahren ihres Lebens gesucht?

Hatte er alles missverstanden?
Und plötzlich tauchte ein Bild vor seinen Augen auf.
Der letzte Band.
Marie und Niklas.
Das Buch, das ihn am meisten getroffen hatte.
Da war noch etwas gestanden!
Er versuchte sich zu erinnern.
Irgendetwas mit „Bonus"!
Mit „die Wahrheit"!

Aber er schüttelte all die Gedanken, die zu ihrer Verteidigung auftauchten, weg.
Nein! Das waren falsche Hoffnungen! Denn da standen diese anderen Sätze schwarz auf weiß! Die, mit denen sie sich lustig über ihn gemacht hatte.

Er ließ sich zurückfallen, sah in den Himmel.
Da merkte er, dass er nicht mehr alleine war.
Ein angenehmes Parfüm stieg ihm in die Nase.
Er sah zur Seite, eine leichtbekleidete Frau hatte sich ziemlich nah bei ihm niedergelassen.
„Hallo, mein Hübscher!" flötete sie auf Deutsch. „So alleine?"

Das wär's! dachte er. Ich vögle, was mir in die Quere kommt! Dann vergesse ich sie wenigstens!

Er schenkte ihr einen verführerischen Blick. „So alleine wie du?" fragte er und hätte beinahe gekotzt. Aber da musste er jetzt durch! Sie war wohl ein paar Jahre älter als er, wahrscheinlich auch ein paar Jahre älter, als sie aussah.
Aber sie war willig.

Was ihre Hände auch gleich bewiesen, die sich auf die Reise über seinen Körper machten.
Er hasste diese Berührungen vom ersten Augenblick an.
Sie waren falsch!

Aber er biss die Zähne zusammen. Er war ein Mann! Und ein Mann konnte immer!
Er zwang seine Hände, sie anzufassen. Ihre Beine entlang zu streifen, ihre Brüste zu berühren.
Und er zwang seine Lippen, sie zu küssen, auch wenn sein Magen sich verkrampfte.
„Ich wohne gleich da drüben im Hotel!" flüsterte sie ihm zu.
Schnell sprang er auf, bevor er es sich anders überlegte.
„Das ist gut!" hauchte er in ihr Ohr und ließ seine Zunge mit ihrer Muschel spielen.

Anna war dabei immer ausgeflippt, hatte sich an ihn gepresst, hatte laut gestöhnt.
Die fremde Frau machte das auch, aber es kam ihm so falsch vor!
Doch es musste sein!
Er musste Anna aus seinem Kopf bekommen!
Durfte sich nicht mehr an ihren süßen Duft, an ihre weiche Haut, an ihre wunderbaren Lippen erinnern!

Er musste diese Frau ficken!
In ihrem Hotelzimmer!
Er nahm sie an der Hand. „Lass uns keine Zeit verlieren! Das Leben ist so kurz!" stieß er hervor und lief los, zog sie hinter sich her.
In seiner Hose rührte sich zwar nichts, aber das würde schon werden.
Ihr Lachen war schön, aber nicht so süß wie Annas.
Ihre Stimme klang gut, aber ganz anders als Annas.

Gut! dachte er. So soll es ja auch sein! Sie soll ja anders sein als die Bitch, die ihn so schlecht behandelt hatte.

In ihrem Hotelzimmer zog sie sich aus. Sie hatte einen schönen Körper, aber er war nicht wie der von Anna. Er fasste ihre Brüste an, wartete auf eine Reaktion bei sich.
Er streichelte sie, wie er Anna gestreichelt hatte, und fühlte, wie Galle in ihm hochstieg.

Sie fasste ihn am Schritt an, er zuckte zusammen.
Ihr Griff war falsch, viel zu fest!
Sie öffnete den Reißverschluss seiner Hose, nahm den schlaffen Kerl dahinter in den Mund.

Ihre Lippen auf seinem besten Freund waren falsch.
Er wollte diese Lippen nicht!
Fragend sah sie ihn an. „Stehst du nicht auf Frauen?"

Ein Lachen stieg in ihm hoch, kitzelte seine Kehle, brach schließlich durch.
„Doch!" japste er. „Ich stehe durchaus auf Frauen!" Er lachte, bis die Tränen kamen, und dann merkte er, dass es keine Lachtränen waren.

Sie nahm ihn in die Arme, und er heulte wieder einmal seinen ganzen Schmerz heraus.
Sie wiegte ihn in ihren Armen wie ein Kind.
„Erzähl!" sagte sie

Und er redete ohne Punkt und Komma, sprach von Anna, von ihrer Liebe, ihrem Leben, den Büchern, seinen Verletzungen, seinem Schmerz, seiner Angst, seiner Sehnsucht.
„Hast du den letzten Band zu Ende gelesen?" fragte sie dann.
„Nein! Ich hatte keine Kraft mehr dazu!" gestand er.

„Du bist ein Dummkopf!" warf sie ihm vor. „Sie hätte das nie herausgebracht, wenn es nicht eine Geschichte gäbe, die sie wirklich erlebt hat."

Wieder schoss ihm das Bild dieses Covers des letzten Bandes ins Gedächtnis. „Die Wahrheit", hatte sie angekündigt.
„Besorg dir das letzte Buch! Lies es zu Ende, und du wirst verstehen!" wies sie ihn an.

Irgendwann war er wieder zu Hause, also da, wo zur Zeit sein Zuhause war.
Er schenkte sich ein Glas Wein ein, setzte sich vor das Häuschen.
Anna! dachte er. Habe ich wirklich alles falsch verstanden?

Er nahm sein Handy, wollte sie anrufen, wollte Fragen stellen, wollte Antworten bekommen, wollte verstehen, wollte glauben, wollte hoffen.
Doch er hatte nicht den Mut dazu!
Was, wenn sie ihn auslachte?

Wenn sie seine schlimmsten Befürchtungen bestätigte?
Er war so zerrissen!
Der eine Teil von ihm wollte hoffen, an sie glauben, an ihre Liebe glauben, an eine gemeinsame Zukunft glauben.
Der andere Teil war noch immer zutiefst verletzt, war hoffnungslos enttäuscht, gekränkt.
Und wieder einmal fürchtete er dieses: „Nein, eigentlich nicht!", wenn er sie fragte, ob sie ihn noch wollte.

Er war noch nicht so weit! Er brauchte noch Zeit, um seine Gedanken zu ordnen.
Als er sie zum ersten Mal auf diesem vermaledeiten Ball getroffen hatte, war er hin und weg von ihr gewesen. Da hatte er keine Zeit gebraucht, um zu erkennen, dass er sich verknallt hatte.
Doch er war abgeblitzt, wie ein Mann nur abblitzen kann.

Den Großteil daran hatte er natürlich sich selbst zuzuschreiben.
Dann hatte er sie wiedergesehen, da war er schon vorsichtiger gewesen.
Die Geschichte mit diesem Gorilla im Club hatte ihn vollkommen überreagieren lassen.
Doch sie hatte ihm verziehen.
Danach war das Leben einfach wunderbar gewesen, das Glück unbeschreiblich. Jeder Tag schöner als der davor.

Seine Gedanken sprangen hin und her, er merkte es selbst.
Sein Kopf sagte: Vergiss sie!
Sein Herz sagte: Sprich mit ihr!
Einmal brüllte sein Kopf lauter, einmal schrie ihn sein Herz nieder.

Dann fiel ihm die Geschichte von Marie und Niklas ein. Gut, er wusste, dass es eine Geschichte war, aber er konnte Maries Verzweiflung so gut nachvollziehen, weil sie nicht wusste, warum Niklas gegangen war.
Wer von ihnen hatte eigentlich wen verlassen?
Er war gegangen!
Wie Niklas!

Als hätte Anna mit ihrer Geschichte in die Zukunft sehen können!
Ob sie wusste, warum?
Ob sie sein Verschwinden mit ihren Büchern in Verbindung brachte?
Doch! Sicher!
Sie war ein intelligentes Mädchen.

Es gab Momente, da fühlte sich seine Liebe zu ihr an wie die Erinnerung an eine wunderschöne Zeit, wie an ein Buch, das er mal gelesen, einen Film, den er mal gesehen hatte.
Ein warmes Gefühl, das ihn glauben ließ, über sie wegzukommen.
Doch gleich darauf überschwemmte ihn die Panik vor einem Leben ohne sie.
Nichts! Nichts würde mehr sein wie es gewesen war, wie er es gemocht hatte, geliebt hatte.

Er würde alleine bei den Freunden sitzen, sie würden ihn nach Anna fragen.
Wenn er für seine Familie kochte, würde Annas Platz leer bleiben.
Wenn er aufwachte, würde er ihren warmen Atem nicht fühlen, ihren Duft nicht einatmen können.
Wenn er einschlief, würde er ihren weichen, perfekten Körper nicht nah bei sich fühlen.

Gedankenverloren strich er über seinen rechten Unterarm. Die blauen Flecke, Spuren ihrer leidenschaftlichen, kleinen Bisse waren verblasst.
Er hatte diese Male immer wie Trophäen betrachtet. Sie war mit der Zunge von seiner Armbeuge in Richtung Handgelenk gestrichen, etwas was ihn total verrückt gemacht hatte.
Und manchmal hatte sie leicht zugebissen. Wie oft war er durch diese Zärtlichkeiten fast gekommen!

„Gib Ruhe!" ermahnte er den pochenden Kerl hinter den Hosenknöpfen. „Wir zwei sind alleine! In Zukunft musst du mit mir vorlieb nehmen."
Da zog der Kerl sich zurück. Darauf schien er keine Lust zu haben.

Er lief stundenlang am Strand entlang, aß manchmal etwas in einer Bodega, trank manchmal ein Glas Wein in einer Strandbar. Avancen von alleinstehenden Damen lehnte er lächelnd ab. Er wusste, er würde ihnen nicht geben können, worauf sie aus waren.
Denn sie alle waren nicht Anna.

Eines Abends traf er Mona wieder, die sich schon einmal vergeblich um ihn bemüht hatte. Ungefragt setzte sie sich zu ihm.
„Und?" fragte sie. „Hast du das Buch zu Ende gelesen?"
„Noch nicht!" antwortete er einsilbig und wollte gehen.
Doch sie hielt ihn fest. „Bleib sitzen, Sturbock!" fuhr sie ihn an.

Er musste lächeln. „Sturbock!" hatte Anna ihn auch immer genannt, wenn er nicht nachgegeben hatte und ihr unbedingt etwas hatte kaufen wollen.
„Was willst du denn erreichen?" fuhr er Mona an. „Damit muss ich selbst klarkommen."

„Ich will gar nichts erreichen. Aber du kommst eben alleine nicht klar damit! Ich habe über euch beide nachgedacht, ich hab ja viel Zeit dazu!" erklärte sie anzüglich. „Du hast gesagt, dass du sie ein halbes Jahr nicht gesehen hattest, ein halbes Jahr in dem sie alleine war, oder?"

„Ja! Hat sie zumindest behauptet!" antwortete er unwillig. Wie kam die fremde Frau dazu, seine und Annas Geschichte zu analysieren.
„Warum hätte sie zu diesem Zeitpunkt lügen sollen?" fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern. „Was weiß denn ich, wie sie tickt?"
Mona legte ihre Hand auf seine. Er ließ es zu. Da steckte keine Anmache dahinter, die Geste war rein freundschaftlich.

„Also! Sie hat auf einem Ball einen Typen kennengelernt, der ihr etwas vorgeschwindelt hat, und noch dazu genau das falsche, ja?" Sie hielt seinen Blick fest.
„Ja!" stimmte er zu.

„Und genau das hat sie geschrieben, oder? Dass ein Wildfremder bei ihr landen wollte, der sie aber nicht interessierte, weil er zu sehr wie ihr Ehemann zu sein schien?" Wieder sah sie ihn fragend an, er nickte nur. „Sie hat nicht geschrieben, dass du potthässlich bist, oder doof. Sondern, dass du eben die falschen Worte gesagt hast! Und diese ganzen Traumgeschichten kann sie gar nicht während der Zeit mit dir verfasst haben! Ihr seid noch kein Jahr zusammen, es sind vier Bücher! Wann hätte sie denn das alles schreiben sollen? Dann noch einen Verlag suchen, die Lektoratsgespräche, gedruckt werden mussten die Bücher auch noch! Wie soll das alles gegangen sein?" rechnete sie ihm vor.

Johannes verstand, was sie ihm sagen wollte. Und sie musste recht haben.
„Aber warum hat sie nichts davon erzählt?" wollte er wissen.
„Sie wollte dich überraschen! Es sind ihre Babys, sie war stolz darauf! Sie wollte, dass du auch stolz auf sie warst! Ich meine, das war ja ein blöder Zufall, dass du gerade in ihrer Wohnung warst, dass sie auf eine Büchersendung gewartet hat. Sonst hättest du doch das Paket nie geöffnet!"

Er musste ihr auch dabei recht geben.
„Mann! Du bringst mich ganz durcheinander!" maulte er sie an. „Ich bin hierhergekommen, um sie zu vergessen, und jetzt bin ich an ihre größte Verteidigerin geraten."
Mona lachte. „Also: Erstens bin ich eine Frau, falls du dich erinnerst. Und zweitens: Du willst sie doch gar nicht vergessen. Du willst dein Leben zurück, nicht mehr und nicht weniger."
Er grinste sie schief an. „Gibst du mir deine Nummer? Damit ich dich informieren kann, wie es weitergeht?"

„Aber natürlich! Ist lange her, dass ein hübscher Junge meine Nummer wollte!" scherzte sie.
Er schmunzelte. Sollte er ihr auch einen Rat geben? Warum eigentlich nicht!
„Vielleicht solltest du in dich in deiner Altersklasse umsehen?"

Sie schluckte einen Augenblick, lachte dann los. „Frech ist der Kleine! Aber recht hat er wohl auch!"
Als Johannes ging, hatte er das Gefühl, eine Freundin gefunden zu haben.
Und er spürte Hoffnung!
Hatte er jetzt zum zweiten Mal überreagiert?
Würde sie ihn noch einmal zurücknehmen?

War er eine Mimose?
Ein empfindliches Pflänzchen?
In einem der Bücher hatte er gelesen: „Jeder verdient eine zweite Chance! Aber nicht mehr!" oder so ähnlich.

Wie viele Chancen hatte sie ihm schon gegeben?
Das wäre wohl die dritte.
Er hoffte, dass Anna nicht so streng war wie ihre Romanfiguren.
Als er an seiner Hütte ankam, erwartete ihn eine Überraschung. Auf der schiefen Bank vor dem Haus saßen Thomas und Lukas.


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