Teil 27

Johannes

Johannes wachte gegen Morgen auf, sah sich um, nahm das Chaos um sich herum wahr und erinnerte sich.
An ihre verletzenden Worte!
An diese Scheißbücher, die sie wann auch immer hatte schreiben müssen!
Warum auch immer!

Er musste weg von hier!
Sie würde seine Familie losschicken, wenn ihn niemand erreichen konnte!
Er würde sich nicht zum Gespött machen lassen.
Er tapste ins Schlafzimmer, sah das von ihrer letzten heißen Liebesnacht zerwühlte Bett, lachte bitter auf.
Mit wem sie es wohl da getrieben hatte?
Mit Jonas?
Mit Lukas?
Mit Hannes?
Mit Niklas?

Oder mit dem Deppen der Nation?
Er räumte seine Sachen in die Reisetasche, ein edles Stück, das er ihr mal geschenkt hatte.
Die Klamotten, die er immer wieder für sie angeschleppt hatte, riss er aus dem Schrank, trampelte darauf herum.
Dann ging er ins Bad, packte seine Kosmetiksachen ein.

Und jetzt?
Wohin?
Egal!
Nur fort!
Fort von den Erinnerungen!
Fort von der falschen Liebe!

Fort von Anne Berg und ihren Liebhabern!
Er fuhr auf die Autobahn in Richtung München. Unterwegs merkte er, dass ihm schwarz vor Augen wurde.

Er hatte 24 Stunden lang nicht gegessen, nur gesoffen!
An einer Raststätte holte er sich ein Sandwich und eine Tafel Schokolade. Die anderen Kunden wichen vor ihm zurück.

Wahrscheinlich stinke ich wie ein Iltis! dachte er und grinste vor sich hin.
Er schob alles, was er besorgt hatte, gleichzeitig in sich hinein. Er schmeckte sowieso nur seine Tränen!
Aber er würde aufhören zu weinen!
Verdammt noch mal!
Worum heulte er denn überhaupt?

Um eine verdammte Bitch?
Eine von vielen!
Er fand sich am Flughafen wieder.
Gut! Irgendein Flugzeug wird mich schon wegbringen aus diesem verdammten Land!
Zum Glück hatte er seine Kreditkarte im Geldbeutel.

Er parkte direkt vor der Abflughalle im Halteverbot. Es war ihm egal, wenn sie die Scheißkarre abschleppten.
Er brauchte sie sowieso nicht mehr.
Innen studierte er die Last-Minute-Angebote. Der nächste Flug ging nach Teneriffa. Wieder lachte er bitter auf.

Na! Das passte ja zu der ganzen Geschichte!
Am Schalter beäugte ihn die junge Frau misstrauisch. Er sah sicher nicht sehr vertrauenserweckend aus. In den Klamotten hatte er 24 Stunden oder länger verbracht, seine Augen waren sicher blutunterlaufen vom Alkohol und der Heulerei.

Seine Karte schien das Mädchen etwas zu beruhigen, sie druckte ihm sein Ticket schnell aus.
Er checkte ein, ging durch die Sicherheitskontrolle, wurde aufmerksamer durchsucht als sonst.
Im Wartebereich suchte er einen Waschraum, wusch sich notdürftig, zog frische Sachen an. Sein Sitznachbar im Flieger sollte nicht unter ihm leiden.

Während des Fluges versuchte er zu schlafen. Er ignorierte die Fragen der Stewardess und den Versuch, ein Gespräch zu beginnen, seiner Sitznachbarin.
Er versuchte, nicht zu heulen, doch er musste immer wieder schniefen.

Teneriffa! Was hatte er sich denn gedacht, ausgerechnet dahin zu fliegen, wo sie so glücklich gewesen waren.
Wo er glücklich gewesen war! berichtigte er sich. Oder, besser, wo er geglaubt hatte, glücklich zu sein.
Er, die Marionette an den Schnüren, die sie zog.

Auf der Insel konnte er das Gebäude schnell verlassen, er hatte nur Handgepäck. Er suchte eine Mietauto-Firma, nahm sich irgendeine alte Kiste und fuhr los.
Er versuchte alle Erinnerungen an das letzte Mal zu verdrängen, als sie lachend vor Glück in dem Allradwagen gesessen hatten und strahlend zum ersten Mal am Meer angehalten hatten.
Als er sie leidenschaftlich geküss hatte!

Nein! Er war noch nie hier gewesen! Er sah heute alles zum ersten Mal. In der Stadt fand er schnell eine Agentur, die Ferienhäuser im Angebot hatte. Auch die Villa, die sie bewohnt hatten.
Aber nein!
Er kannte dieses Haus nicht!
Woher auch?
Er suchte sich eine kleine Klitsche aus, die relativ einsam lag, bezahlte für vier Wochen im Voraus.

Dann würde er weiter sehen. Er verlor keinen einzigen Gedanken an seinen Job oder seine Familie.
Der Schmerz hatte alles andere ausradiert.
Er wusste nur, dass die Wunde heilen musste, bevor er zurückkommen konnte.
In dem Häuschen warf er sich auf das windschiefe Bett mit den schmutzigen Bezügen.

Schnaps!
Er hätte sich Schnaps besorgen sollen!
Er musste die Bilder in seinem Kopf von einer wunderschönen Frau am Strand aus seinem Kopf bekommen.
Also rappelte er sich noch einmal hoch, suchte einen Supermarkt. Ein kleines bisschen Vernunft in seinem gequälten Gehirn ließ ihn auch ein paar Lebensmittel kaufen.

Nachdem er alle Fensterläden geschlossen hatte, legte er sich wieder hin. Er wollte die Sonne nicht sehen, das Meer so wenig wie die wunderbare Landschaft um ihn herum.
Die Flasche hatte er in Reichweite auf dem wurmstichigen Nachttisch deponiert.
Er war todmüde, ausgelaugt, durch den Fleischwolf gedreht. Vielleicht konnte er ohne Dröhnung schlafen.

Schlafen! Lange schlafen! Und wenn er aufwachte, war die Erinnerung an sie gestorben.
An ihr schönes Gesicht!
Ihre heiße Figur!
Ihre blonde Mähne!
Ihr aufgedrehtes Lachen!
Ihre strahlenden Augen!
Ihren Humor!
Ihre Wortgewandtheit!
Ihren Charme!
Ihre Liebenswürdigkeit!

Alles würde er vergessen!
Irgendwann!
Okay!
Aber nicht hier und jetzt!
Er lechzte nach dem ersten Glas, schüttete sicherheitshalber das zweite gleich hinterher.

Der Magen brannte, das Herz etwas weniger.
Das dritte Glas trank er auf sie. „Auf dich, schöne Anna! Wer fickt dich heute?" Er lachte laut und böse. „Hast du dir schon einen neuen Hampelmann gesucht? Lass ihn ein wenig tanzen! Dann hast du Stoff für dein nächstes Buch! Prost!"

Das vierte Glas knockte ihn dann endlich aus. Er konnte vergessen!
So verging eine Woche. Hin und wieder aß er ein paar Chips oder eine Tafel Schokolade. Dann schnappte er sich die nächste Flasche.
Er verließ das Haus nicht, duschte nicht, zog sich nicht um. Sein Bart wuchs, sein Haar war fettig, seine Klamotten stanken.

Dann konnte er nicht mehr. Er brachte keinen Schluck Alkohol mehr hinunter.
Wenn er so weitermachte, konnte er sich genauso gut von der nächsten Klippe stürzen.
Aber seltsamerweise hing er noch immer am Leben.
Er öffnete die Fensterläden und die Fenster, duschte, wusch sich die Haare, rasierte sich, zog frische Sachen an.

Dann trat er zum ersten Mal vor die Türe, sah das Meer.
Sofort flossen die Tränen wieder.
Sie hatten beide den Blick auf den Hafen von dem tollen Haus aus an Weihnachten so sehr geliebt.
Konnte das alles gespielt gewesen sein?

Er begann ein wenig zu zweifeln. Hatte er etwas missverstanden? Hatte er überreagiert?
Aber gewisse Sätze würde er nie wieder vergessen können.
„Der Kuppel-Mann erwies sich schon beim ersten Blick als Reinfall!" zum Beispiel.
Nein! Das würde er nie wieder aus seinem Kopf bekommen. Er würde ihr nie wieder vertrauen können.
Er würde eine andere Frau finden, eine die von allem weniger war: weniger schön, weniger süß, weniger humorvoll, weniger intelligent, aber auch weniger überheblich und gemein.

Es wurde ihm etwas leichter ums Herz. Ja! Er würde sie aus seinem Herzen reißen, weil sie den Platz dort nicht verdient hatte.
Sie hatte ihn getäuscht, hatte ihm die perfekte Frau nur vorgespielt. Sie war so wenig echt wie ihre Gefühle.
Im Grunde gab es die Frau gar nicht, die er geliebt hatte.
Im Grunde war sie auch nur eine Romanfigur. Eine, die sie selbst entworfen hatte.

Er sollte seine Eltern anrufen oder Thomas, Bescheid geben, dass er lebte und auch vorhatte, es noch eine Weile dabei zu belassen.
Also musste er sich ein Telefon besorgen. Ein Prepaid-Handy, das sie nicht nachverfolgen konnten. Obwohl er ja ein erwachsener Mann war und hingehen konnte, wo immer er wollte.

Sein Job fiel ihm ein, aber darüber nachzudenken, war im Moment zu viel. Er wusste, dass er vollkommen verantwortungslos handelte, aber es war ihm seltsamerweise egal.
Zeit seines Lebens war er zielstrebig und zuverlässig gewesen, und was hatte es ihm eingebracht?
Er war zum Spielzeug einer Frau geworden.

Nein! Er würde nicht an sie denken! Er würde sich jetzt ein paar Eier in die Pfanne schlagen, würde wieder einmal etwas ordentliches essen.

Doch schon der Duft erinnerte ihn an das letzte Frühstück, bevor er sie zur Schule gefahren hatte.
„Das werde ich fast so sehr vermissen wie dich!" hatte sie ihn aufgezogen. Dann hatte er sie geküsst.
„Und? Wirst du meine Küsse auch vermissen?" hatte er gefragt.

„O ja! Gib mir noch ein paar mit auf den Weg!" hatte sie geantwortet. So waren sie noch einmal im Bett gelandet, danach war die Zeit wirklich, wirklich knapp geworden. Er merkte, dass er vollkommen in Gedanken versunken in den Eiern rührte, die schon leicht dunkel wurden.

Er schob die Pfanne vom Herd, der Appetit war ihm vergangen.
Draußen versank die Sonne gerade im Meer, ein so verdammt kitschiger Anblick, der so wunderschön gewesen war, als sie neben ihm war.

Wieder wurden seine Augen feucht. Schnell sprang er auf, würgte die lauwarmen Eier hinunter, schaffte sogar eine Scheibe trockenes Brot dazu.
Dann schenkte er sich ein Glas Rotwein ein.

Rotwein ist kein Alkohol! hatte Anna einmal lachend gesagt. Er hatte immer ein paar Flaschen eines sündteuren Tropfens besorgt. Mehr als ein, zwei Gläser hatten sie nie getrunken.
Weil wir da schon wieder im Bett gelandet waren! erinnerte er sich schmunzelnd. Zwischen seinen Beinen regte sich etwas sehnsuchtsvoll. „Vergiss es, Junge! Vergiss sie! Ganz schnell!" sagte er laut.

Aber ihre Leidenschaft war echt gewesen! Die hatte sie ihm nicht vorgespielt! Das hätte er gemerkt! So unerfahren war er dann auch wieder nicht gewesen.
Ihr Körper hatte so sehr die Wahrheit gesagt, wie ihr Herz gelogen hatte.
Er fühlte, dass er in dieser Nacht würde schlafen können, ohne vollkommen zugedröhnt zu sein.


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