Teil 25
Johannes
So kam es, wie es kommen musste. Er stand auf dem Parkplatz der Schule und winkte einem Bus hinterher, der seine Süße entführte.
Für! Neun! Tage!
Es war auch noch ihr gemeinsamer freier Montag!
Was sollte er nun machen?
Langsam trottete er zu seinem Auto.
Zuerst wollte er in die Wohnung zurück und das Frühstücksgeschirr wegräumen.
Dann würde er die Küche putzen, das Bett überziehen, die Wäsche waschen. Sie hatte kein Problem damit, wenn er das bei ihr machte. Sie waren an beiden Wohnorten zu Hause, genossen das hin und her, das Spontane. Immer wieder fragten Freunde oder Verwandte nach, wann sie denn zusammenziehen würden.
Anna sagte dann immer ganz erstaunt: „Mehr als wir zusammen wohnen, geht ja gar nicht."
Manchmal erwartete sie ihn, wenn er von der Arbeit kam, bei ihm, obwohl sie ausgemacht hatten, dass er zu ihr kam. Glücklicher als in diesen Momenten hätte er nicht sein können.
Manchmal rief er an, dass er gerne ins Kino gehen wollte, fuhr dann eben zu ihr.
Sie hatten nie Stress miteinander, das Leben war harmonisch, liebevoll, respektvoll, perfekt.
Er schloss die Wohnungstür auf, ließ sich in einen Sessel fallen. Noch konnte er sich nicht aufraffen, etwas zu tun.
Noch musste er sie vor allem vermissen!
Da klingelte es, der Postbote drückte ihm ein Päckchen in die Hand.
Es kam von einem Verlag. Ah! Das werden die Bücher sein, die sie bestellt hatte. Dann konnte er in den Copy-Shop um die Ecke gehen und ihr die Seiten gleich faxen.
Er konnte auch ein wenig durch die Stadt laufen und ein paar Geschenke für sie kaufen.
Am Wochenende hatte er in einem Schaufenster ein süßes Kleid gesehen, aber sie hatte sich wieder einmal nicht überreden lassen, es anzuprobieren.
Jetzt musste sie es eben nehmen, ob es passte oder nicht.
Er öffnete den Karton. Mannomann! War das verpackt!
Endlich lagen die Bücher vor ihm. Das waren aber keine Schulbücher, das waren Romane, Hardcover. Was ihn verwunderte, weil sie sonst immer nur auf ihrem E-Book-Reader las oder höchstens Taschenbücher, weil die nicht so schwer waren.
Seine Süße sollte diese Wälzer bestellt haben?
„Thema mit Variationen Band 1: Julia und Jonas" von Anne Berg.
„Thema mit Variationen Band 2: Anja und Lukas"
„Thema mit Variationen Band 3: Mia und Hannes"
„Thema mit Variationen Band 4: Marie und Niklas (und die Wahrheit)"
Er sah sicherheitshalber auf den Paketaufkleber. Doch! Name und Adresse stimmten.
Er nahm den Lieferschein heraus, doch es war ein persönliches Anschreiben.
„Sehr geehrte Frau Falkenberg,
wir freuen uns, Ihnen die ersten Belegexemplare Ihrer Bücher übersenden zu können. Die Buchläden haben ziemlich gut geordert.
Mit der Hoffnung auf weitere gute Zusammenarbeit
Mathias Hofmann, Cheflektor"
Johannes verstand gar nichts mehr. Anna? Anna hatte vier Romane geschrieben?
Unter Pseudonym?
Und hatte ihm kein Wort davon gesagt?
Wahrscheinlich wollte sie ihn überraschen!
Er machte es sich bequem, schlug den ersten Band auf.
Für dich, J.! Für wen denn sonst? las er
Hatte sie das Buch ihm gewidmet?
Als er die ersten Sätze las, begriff er schnell, dass es ihre Geschichte war.
Der Ball, er selbst, Willy, Christas Bruder und der Typ, mit dem sie rumgemacht hatte. Das alles war wirklich geschehen.
Warum hatte sie darüber geschrieben?
Er kam nicht gut weg!
Hatte das sein müssen?
Was hatte sie damit bezweckt?
Er las schnell weiter, las quer, hoffte, dass alles sich aufklärte, dass dieser toll aussehende, schwerreiche, super nette Arzt nur Fiktion war, aber er wurde enttäuscht.
So hatte sie sich ihr Leben nach dem Ball also erträumt!
Einen solchen Mann kennenzulernen!
Oder hatte sie ihn wirklich kennengelernt?
War diese Liebesgeschichte eine Zeit lang wirklich so abgelaufen?
Hatte sie ihn angelogen, ihm etwas vorgemacht mit diesem Hans da im Club?
Sein Herz raste, sein Mund war trocken, sein Magen verknotet.
Er nahm sich den zweiten Band vor.
Wieder dir gleiche Widmung. Wer war J.?
Jonas?
Die Geschichte begann ähnlich.
Der Ball, Willy, aber dieses Mal wurde er gar nicht erwähnt. Der Typ, der sie angebaggert hatte, hieß nun Lukas, sie war Anja. Er war kommender Medizinstudent, sie schien ein Faible für Mediziner zu haben. Auch dieses Buch las er quer. Es gab eine Trennung, dann das große Liebesglück, kein Wort von ihm.
Er ahnte schon, wie der dritte Band beginnen würde. Dieses Mal hatte der Typ sich also nicht gemeldet, sie war ihm nachgelaufen! Weder ihn noch Willy gab es in dieser Version. Aber wieder ein wahnsinnig toll aussehender Mann, diese Mal mit Bernsteinaugen!
Hatte sie nicht seine Augen auch mal so genannt?
Irgendwie kam er sich vor wie in einem schlechten Traum!
Die Frau, die er über alles liebte, von der er sicher gewesen war, dass sie ihn auch liebte und glücklich mit ihm war, hatte hunderte von Seiten mit Träumen von einem Mann gefüllt, den sie angeblich oder in Wirklichkeit nicht wiedergesehen hatte!
Der sich als absoluter Prolo herausgestellt hatte.
Wann hatte sie das alles geschrieben?
Vor der Zeit mit ihm?
Als sie schon zusammen waren?
Wenn er ihr Freiraum für sich selbst gegeben hatte, hatte sie da all das zusammengeträumt?
Hatte sich gesehnt nach einem dieser Männer?
Das Buch flog in die Ecke, zerlegte sich in Einzelteile.
Sollte er sich den vierten Band auch noch antun?
Aber erst brauchte er etwas für seine Nerven.
Irgendwo hatten sie doch eine Flasche Obstler. Er hatte sie einmal mitgebracht, damit sie nach einem etwas schwereren Essen ein Gläschen trinken konnten.
Wahrscheinlich im Kühlschrank, obwohl er ihr gesagt hatte, dass guter Schnaps nicht eiskalt getrunken werden sollte.
Warum dachte er jetzt gerade daran?
Um ein wenig von ihrer gemeinsamen Wirklichkeit in diese Fantasiewelt zu bringen?
Er goss sich ein halbes Wasserglas voll, kippte es auf Ex. Der Alkohol brannte durch seine Speiseröhre bis in seinen Magen.
Aber er wirkte fast sofort.
Also, Junge! Zieh's gar durch! forderte er sich auf.
Und dieses Buch schien ihm den Todesstoß geben zu wollen.
Bei dem Satz „Der Kuppel-Mann erwies sich schon beim ersten Blick als Reinfall.", hörte er auf zu atmen, die Tränen liefen, ohne, dass er es wahr nahm.
Er holte sich noch ein Glas Schnaps, kippte es, spürte das Brennen nicht mehr, auch nicht beim nächsten.
Er bekam so sehr sein Fett weg, dass er nur noch aus Schmerz zu bestehen schien. Trotzdem konnte er nicht aufhören, zu lesen.
Aha! Wenigstens wurde ihm dann die Rolle des besten Freundes zugeteilt, der die Liebenden schließlich wieder zusammen führte.
Dafür war er gut genug!
Da reichte es ihm! Mehr an Qualen konnte er nicht aushalten.
Das war er also gewesen für sie.
Der Hofnarr!
Der dumme August, über den man sich mit dem jeweiligen Traummann lustig machen konnte!
Würde es noch einen Band fünf geben?
In dem sie seine derzeitigen Liebesbemühungen mit irgendeinem Arschloch breittrat?
Aber sie war gut!
Als Schriftstellerin, aber auch als Schauspielerin!
Sie könnte eine großartige Karriere machen!
Ihre eigenen Drehbücher schreiben und die Hauptrolle spielen!
Er lachte sich halbtot bei dieser Vorstellung.
Das nächste Buch flog, die ersten beiden folgten, alle bildeten einen Haufen an Umschlägen und losen Blättern. Er hatte ordentlich Kraft.
Urplötzlich begannen die Tränen wieder zu fließen. Er heulte um eine verlorene Liebe, die nie eine gewesen war. Er trank die Flasche leer, wusste, dass es nicht helfen würde, konnte aber auch nicht aufhören.
Er dachte an den Schmerz ganz am Anfang, den er auch tot saufen hatte wollen. Und dieser Schmerz war ein Bruchteil dessen gewesen, was er heute fühlte.
Denn heute war er aus einer vollkommenen Liebe ins Nichts katapultiert worden.
Damals hatte er erst ein paar Stunden mit ihr verbracht gehabt.
Heute hatte er das Gefühl, es wäre sein ganzes Leben gewesen.
Sein Handy läutete mit ihrem Klingelton: „The power of love".
Er knallte es an die Wand, die Einzelteile vermischten sich mit den Buchseiten. „Fick dich, Anne Berg! Ruf einen deiner Wundermänner an! Der Hofnarr ist nicht mehr erreichbar!" brüllte er.
Dann fegte er das Frühstücksgeschirr vom Tisch, knallte die Stühle in alle Richtungen des Zimmers. Zwei zerbrachen.
Wie mein Herz! dachte er und kicherte betrunken.
Der Raum begann sich um ihn zu drehen, er raste ins Bad, kotzte sich die Seele aus dem Leib.
Vielleicht die Liebe gleich mit! dachte er.
Der Festnetz-Apparat meldete sich, er riss das Kabel aus der Wand.
Er saß wieder fix und alle auf dem Sessel, sah die Verwüstung, die er angerichtet hatte.
Aber er fand, dass es noch nicht genug war. Er warf die CDs, die sie zusammen gehört hatten, quer durchs Zimmer, die DVDs mit Filmen, die sie zusammen angesehen hatten, folgten.
Die Blumen, um die er sich hätte kümmern sollen, räumte er vom Fensterbrett. Sie würden sowieso verdursten, weil er abhauen und nie mehr hierher zurückkommen würde.
Doch heute nicht mehr.
Er war zu betrunken.
Aber er war noch nicht betrunken genug.
Die offene Wunde in ihm blutete und schmerzte. Noch nie in seinem Leben hatte er einen solchen Schmerz gefühlt.
Warum?
Warum hatte sie ihn so benutzt?
Ging es um Sex?
Wieder lachte er wie verrückt.
Na! Wenigstens da hatte er wohl ihre Erwartungen erfüllt!
Sie hatte ja in ihren Geschichten ziemlich offen ihre hohen Ansprüche beschrieben.
Jonas, Lukas, Hannes und Niklas waren allesamt die perfekten Liebhaber gewesen.
Ob sie ihm im nächsten Band auch so viel Ehre zuteil werden ließ?
Ob sie über die Nächte schrieb, die sie wirklich erlebt hatte?
Oder wollte sie nur die Perfektion der Fantasie aufs Papier bringen?
Hatte sie nach heißen Nächten mit ihm alles einem Hannes oder einem Jonas angedichtet?
Niklas! Niklas war sein größter Feind!
Er war der bisher letzte, und sie schien in diese Story sehr viel von sich hineingepackt zu haben.
Sie hatte ehrlicher über sich selbst geschrieben.
War es wirklich ihr sehnlichster Wunsch, eine solche Schule zu gründen?
Er hätte sie rückhaltlos unterstützt bei der Verwirklichung, wenn sie nur einen Ton davon erzählt hätte.
Wenn sie ihn zum Protagonisten einer wahren Geschichte gemacht hätte, nicht zum Hanskasper.
„Hanskasper!" sagte er laut. „Das Wortspiel ist gut! Das würde ihr gefallen!"
Irgendwann in dieser Nacht, in der sein Leben zu Ende gegangen war, schlief er ein.
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