Teil 10

Ein Schritt zurück

Johannes erstarrte, vergaß vor lauter Schmerz, sie festzuhalten. Er deutete die Worte des anderen so, wie sie gemeint gewesen waren.
Sie hatte ihn wiedergesehen, sie hatten es miteinander getrieben.
Sie hatte ihn belogen!

Der andere war ein Prolo der schlimmsten Sorte.
Als sie das gemerkt hatte, war er, Johannes, recht gewesen.
Aber erst dann!

Er war ihre zweite Wahl!
Ihre erste war der Typ, der sie da vor allen anmachte.
Wortlos drehte er sich um und raste davon.
Er hörte ihre Rufe, er hörte ihre Schritte, die ihm eine Zeitlang folgten.
Aber er blieb nicht stehen.

Atemlos kam er bei seinem Wagen auf ihrem Parkplatz an, atemlos startete er, atemlos brauste er los.

Fuck! Fuck! Fuck!
Wenn der andere gepasst hätte, hätte sie sich nie mit ihm abgegeben!
Zweite Wahl!
Zweite Wahl!
Zweite Wahl!
Ein anderer Gedanke hatte nicht Platz in seinem Gehirn.
Notnagel!
Notnagel!
Notnagel!
Lüge!
Lüge!
Lüge!

Er wusste nicht, wie er nach Hause gekommen war.
Er wusste nicht, dass da noch eine Wodkaflasche in seinem Schrank gewesen war.
Er wusste nicht, wie und wann er die leer gemacht hatte.

Er wusste nur, dass er irgendwann eingeschlafen war, dass er rasende Kopfschmerzen hatte, dass aber das Herz noch tausend Mal mehr schmerzte.

*****

Anna stand einen Wimpernschlag lang fassungslos mitten auf der Tanzfläche, würdigte Hans keines Blickes.
Johannes war weggelaufen!
Wegen der idiotischen Worten eines Idioten!
Sie musste ihm nachlaufen!
Sie musste es ihm erklären!
Was?

Dass sie von einem Mann geträumt hatte, der zum schlimmsten Albtraum ihres Lebens geworden war?
Aber das war doch vor ihm gewesen!
Wie hatte er das denn jetzt so missverstehen können?
Was hatte er denn in die Worte des Neandertalers hineininterpretiert?
Dass sie zweigleisig fuhr?
Mit so einem Typen?

Warum blieb er denn nicht stehen?
Noch immer rannte sie hinter ihm her.
Rief nach ihm. „Bleib doch stehen! Jo – han - nes! Lass mich doch erklären!"

Sie war so fixiert darauf, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, dass sie in zwei Typen hineinlief.
„Hoppala!" rief der eine und hielt sie an den Schultern fest, damit sie nicht hinfiel.
„Lass mich los!" fauchte sie und wollte sich freimachen.
„Langsam, kleine Lady! Den erwischt du eh nicht mehr!" versuchte der andere sie zu beruhigen.
Sie gab auf. „Ist wohl besser für ihn!" schimpfte sie.

Der Dunkelhaarige lachte. „Oh! Eine sehr gefährliche Süße! Warum rennt denn Jo – han – nes vor dir weg?"
Anna musste lachen. Sie hatte wahrscheinlich ein tolles Bild abgegeben, als sie ihm laut brüllend nachgelaufen war. Eine Sekunde lang vergaß sie sogar ihren Weltschmerz und ihre Wut auf Männer.

„Ist eine lange Geschichte!" sagte sie. „Und eine verdammt blöde!"
„Wir haben Zeit!" erklärte der Blonde und nahm den Dunkelhaarigen in den Arm. „Ich bin übrigens Be – ne – dikt und das ist mein Mann O – li – ver, auch bekannt als Ben und Oli!"
„Anna!" stellte sie sich vor.

„Also, schöne Anna, wir setzen uns jetzt da vorne an einen Tisch, trinken was zur Beruhigung, und du erzählst uns die lange, verdammt blöde Geschichte!"
Sie lächelte die beiden an. Schwule Männer waren immer die nettesten Exemplare ihrer ansonsten unverständlichen Gattung.

Als sie zusammen eine Flasche Wein bestellt hatten, fing sie an zu erzählen.
Ben und Oli hörten aufmerksam zu, stellten Zwischenfragen, lachten manchmal.
„Und war da etwas zwischen dir und dem ersten Hans, dem Proleten?" wollte Ben sicherheitshalber noch wissen.
„War da was? War da was? Ein bisschen Gefummel, ja!" gab sie zu. „Aber ich habe ihn nur einmal zufällig getroffen, wollte es halt wissen an diesem blöden Abend. Das war ja kein Date!"

„Und liegt dir was an Johannes?" fragte Oli.
Sie sah auf die Uhr. „Bis vor eineinhalb Stunden lag mir wahrscheinlich was an ihm, ja. Aber jetzt kann er sonst wo bleiben."
„Aber er wird nachdenken, einsehen, dass er überreagiert hat, sich entschuldigen. Obwohl es natürlich schon ganz schön daneben ist, ein Mädchen allein durch die Stadt laufen zu lassen." merkte Ben an. „Meinst du, du könntest ihm eine zweite Chance geben?"

Anna hörte in sich hinein. Im Moment war alles tot in ihr. Kein Gefühl, nichts!
„Ich glaube, ich lass mal lieber die Finger von Männern. Bringen nur Ärger!" sagte sie schließlich. Sie erzählte den beiden Fremden die Geschichte ihrer Ehe.
„Du scheinst ein glückliches Händchen bei Beziehungen zu haben!" zog Oli sie auf. „Ich glaube, wir schaun uns mal bei unseren Hetero-Freunden um, suchen einen Mann für dich." 

"Danke! Von Kuppelversuchen habe ich erst mal auch genug!" antwortete sie.
Sie schäkerten noch ein wenig zusammen, Ben erzählte von ihrer Beziehung, die anfangs auch nicht einfach gewesen war.

„Er war überzeugt, hundertprozentig auf Frauen zu stehen, als wir in der WG zusammen gewohnt haben. Ich habe mich von Tag zu Tag mehr verliebt, und er ist mir nur noch aus dem Weg gegangen. Hat mit Unmengen an Frauen rumgemacht, als müsste er sich selbst etwas beweisen."

Oli streichelte beruhigend seine Hand. „Du weißt, warum ich das gemacht habe!" sagte er leise. „Ich habe ihn in jeder Sekunde vermisst, in der ich nicht bei ihm war. An Sex habe ich dabei nicht einmal gedacht, das war für mich vollkommen unvorstellbar, aber er als Mensch hat mir unheimlich gefallen. Dann waren wir etwas beschwipst, haben rumgeblödelt, miteinander getanzt, und plötzlich hat er mich geküsst. Ich wollte ihn zuerst umbringen deswegen. Aber dann habe ich gemerkt, dass es mich schon erregt hatte. Und so hatten wir unsere erste Nacht, und ich bin als Schwuler aufgewacht, als sehr glücklicher Schwuler!" gestand er grinsend.

„Und seitdem seid ihr zusammen?" fragte Anna, die Geschichten von Menschen über alles liebte.
„Ja! Zuerst heimlich, ich habe noch eine Weile gebraucht, um mich zu outen, ein halbes Jahr oder so, aber dann hat er mir die Pistole auf die Brust gesetzt, hat eine Entscheidung gefordert." berichtete Oli weiter.
„Das war eine harte Zeit. Auf allen Partys hat er mit Frauen geflirtet und so getan, als würde er mich nicht kennen. Aber wenigstens hat er keine mehr abgeschleppt." Ben hatte direkt feuchte Augen.

„Und wie war das Outing dann?" fragte Anna nach.
„Eigentlich ganz locker!" erklärte Oli lachend. „In der WG haben sie nur gesagt, dass sie das schon lange vermutet hatten, und meine Familie ist eh sehr tolerant. Sie waren froh, dass meine ständige Niedergeschlagenheit nichts mit gesundheitlichen Problemen zu tun hatte."
„Und was macht ihr beruflich?" wollte Anna wissen.

„Wir sind Friseure!" antwortete Ben und grinste sie an.
Sie runzelte die Stirne. Alles glaubte sie auch nicht!
Oli lachte laut. „Nein! Alle Klischees erfüllen wir nicht. Wir sind IT-ler, haben ein kleines Startup für Apps und so gegründet. Läuft ganz gut."

Die beiden brachten Anna zu ihrer Wohnung. Alle drei hatten das Gefühl, in dieser seltsamen Nacht sehr schnell Freunde geworden zu sein.
Sie tauschten Nummern aus, würden sicher in Kontakt bleiben.
Sie setzte sich noch in ihren Mini-Garten, rauchte eine von Silkes Zigaretten. Das Gespräch mit den beiden Jungs hatte ihr gut getan, hatte sie abgelenkt. Sie grübelte noch eine Weile über deren Geschichte nach.

Andere hatten also auch Liebeskummer, mussten einiges aushalten.
Es ging nicht ihr alleine so.
Nur – wenn man so lange in einer festen Beziehung steckte wie sie, bekam man davon nicht allzu viel mit.
Auch das musste sie wohl erst noch lernen: Damit umzugehen.
Sie sah auf ihr Handy, ob Johannes sich vielleicht eingekriegt hatte.
Aber natürlich war da nichts, kein Text, keine Nachricht auf der Mailbox.
Auch recht! dachte sie und ging ins Bett.


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