Teil 1
Annas Träume
Anna klappte das Laptop zu.
„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie sich noch heute!" sagte sie laut in das leere Wohnzimmer hinein.
Sie stand auf, streckte sich, bewegte ihren steifen Hals.
So, das war nun die letzte Variante der Geschichte, ihrer Geschichte.
Seit Monaten saß sie auf diesem Stuhl, tippte in die Tasten, ließ ihrer Fantasie freien Lauf.
Es war Frühling geworden, dann Sommer, sie hatte es nicht einmal bemerkt.
Sie hatte ihren Job gemacht, war nach Hause gefahren, hatte geschrieben, als hinge ihr Leben davon ab.
Warum sie das getan hatte, hätte sie niemandem erklären können.
Ihr Leben aufarbeiten?
Sich in ihren Wünschen an das Leben verlieren?
Vieles von dem, was sie erzählt hatte, war wahr.
Ihre gescheiterte Ehe nach insgesamt 13 Jahren Zusammensein.
Ihre vergeudete Jugend an einen Mann, der sie dann plötzlich nicht mehr wollte.
Ihre ungewollte Kinderlosigkeit.
Ihre Unerfahrenheit mit Männern.
Aber auch die Träume, die sie hatte, die davon handelten, die Welt ein wenig besser zu machen.
Wirklich passiert war auch der Anfang all ihrer Geschichten: Sie war mit ihrer Schwester und ihrem Schwager auf diesem Faschingsball gewesen, Freunde hatten einen jungen Mann mitgebracht, Mister X, der sie unbedingt kennenlernen wollte, der sie aber vom ersten Augenblick an nicht interessierte.
Warum, hätte sie nicht erklären können. Wahrscheinlich wegen dem, was er ihr erzählt hatte. Er sah ganz gut aus, war wohl auch nett, wenn sie Gerd glauben konnte, aber Tennis und Skifahren – das ging gar nicht!
Richtig war auch, dass ein anderer Typ sie geküsst hatte.
Nur, dass die Küsse nicht federleicht und wunderbar gewesen waren, sondern fürchterlich feucht.
Er hatte sie auch an die Bar entführt, war zärtlich gewesen, wollte, dass sie bei ihm blieb, hatte sich ihre Nummer aufgeschrieben.
Wie er aussah, wusste sie eigentlich nicht, er war als Frau verkleidet gewesen. Sie hatte auch sonst keine Ahnung von ihm, geredet hatten sie nicht viel.
Für Anna eine vollkommen neue Erfahrung – Küsse, Zärtlichkeiten.
Sie war im siebten Himmel gewesen, träumte die halbe Nacht von ihm, wartete zur verabredeten Zeit auf den Anruf, der aber nie kam.
Sie träumte sich eine Geschichte zurecht, die ganz anders weiterging als ihre.
Als sie am Ende des Traumes angelangt war, beschloss sie, alles aufzuschreiben.
Zeit hatte sie ja genug, das Schreiben vertrieb die Einsamkeit.
Sie war die wunderschöne Julia, in die sich Jonas, ein junger Arzt aus reichem Haus verliebt hatte, der sie am nächsten Tag anrief, mit dem sie die Nacht ihres Lebens verbrachte. Sie fand kein Ende, denn sie wollte sich nicht von den beiden trennen.
Dann ersann sie die zweite Variante von Anja und Lukas, einer Lehrerin und einem hübschen jungen Mann, der allerdings sechs Jahre jünger war als sie und auf einen Studienplatz für Medizin wartete.
Obwohl sie beide der Meinung waren, dass der Altersunterschied ihnen im Wege stand, verliebten sie sich und verbrachten eine Nacht zusammen. Eine Beziehung begann. Als er einen Studienplatz in Heidelberg bekam, beendete Anja die Liaison, der sie sowieso nie eine Zukunft eingeräumt hatte. Doch Lukas kam nach dem Studium zurück, und sie fanden sich wieder.
Diese Geschichte rührte sie beim Durchlesen immer wieder zu Tränen, weil Anja Lukas so oft so sehr verletzt hatte.
Aber letztendlich war auch diese Geschichte erzählt, eine neue musste her: Mia, Studienrätin und Hannes, ein erfolgreicher Informatiker.
Mias Schwager hatte am Ende des Balles eine unbedachte Bemerkung gemacht, aus der Hannes schloss, dass Mia verheiratet war und nur gespielt hatte mit ihm. Als er nicht anrief, wollte Mia eine Antwort von ihm, fuhr in die Disco, von der er gesprochen hatte. Sie klärten das Missverständnis auf, wurden ein glückliches Paar, wurden sehr erfolgreich, bauten Wohnhäuser für Menschen mit geringem Einkommen.
Und die letzte, eben beendete Story verfolgte die Möglichkeit, dass Marie mit dem gutaussehenden Niklas mitgegangen war.
Gutaussehend waren alle ihre Helden – und natürlich gute Liebhaber!
Sie war immer eine umwerfende Schönheit, der die Männerwelt zu Füßen lag.
All die heißen Liebesszenen entsprangen ihrer Fantasie, erlebt hatte sie Ähnliches noch nie.
Und nun waren also alle Geschichten erzählt, nun musste sie sich dem Leben ausliefern.
Es waren Ferien, noch vier Wochen lang.
Und nun, Anna? fragte sie sich.
Sie war unheimlich müde!
Müde und leer!
Müde, leer und einsam!
Voll Zorn dachte sie an ihren Noch-Ehemann, der mit seiner Tussi wahrscheinlich in Urlaub war, weil er schon seit einer Weile nichts mehr von sich hatte hören lassen.
Noch-Ehemann - das war das Stichwort.
Sie würde diese Farce jetzt beenden.
Sie würde die Scheidung in die Wege leiten.
Vage erinnerte sie sich, dass der Mann einer Kollegin Anwalt war. Sie suchte im Internet nach einem Thalmann und rief gleich an. Schon für den nächsten Tag bekam sie einen Termin.
Danach wollte sie sich belohnen. Sie kontrollierte ihren Kontostand, der war nicht mal so übel! Sie hatte kaum etwas ausgegeben in den letzten Monaten. Die Miete der Dreizimmerwohnung war im Rahmen, die konnte sie auch alleine stemmen. Irgendwo mussten auch noch die 200 Euro Geburtstagsgeld von ihren Eltern herumliegen.
Sie duschte, wusch sich die dunkelblonden Haare, die unbemerkt ziemlich lang geworden waren, und schminkte sich leicht.
Nachdem sie in eine einigermaßen moderne Jeans und ein ansehnliches T-Shirt geschlüpft war, war sie ganz zufrieden mit ihrem Spiegelbild.
Sie würde mit dem Rad in die Stadt fahren, etwas Bewegung tat ihr sicher gut.
Drei Stunden später radelte sie wieder heim, die Packtaschen waren prall voll mit ihren Einkäufen.
Sie war mutig gewesen. Hatte sich ein paar ausgefallene Teile geleistet. Sie musste ja nur noch sich selbst gefallen, niemand würde die Augenbrauen heben, wenn sie die Sachen vorführte.
Sie war fast so etwas wie glücklich.
Danach radelte sie gleich nochmal los zum Supermarkt. Kühlschrank und Gefriertruhe waren fast leer. Und zum ersten Mal seit Langem hatte sie wieder einmal Appetit. Sie konnte einkaufen, was ihr schmeckte, sie hatte an die zehn Kilo Gewicht verloren.
Wie Marie! dachte sie schmunzelnd.
Am Abend saß sie mit einem Glas Wein auf ihrer kleinen Terrasse, und es fühlte sich an, als könnte sie ihr Leben genießen, könnte es auf die Reihe kriegen.
Wie beinahe täglich tauchte dann auch bald ihre Nachbarin Silke auf, die immer vorbeikam, wenn sie heimlich eine Zigarette rauchen wollte, und die einen Wohnungsschlüssel hatte.
Anna bekam auf einmal Lust, wieder einmal eine zu dampfen. Sogar auf das Rauchen hatte sie in den letzten Monaten vergessen.
Aber das war ein eher positiver Nebeneffekt.
„Wir könnten eigentlich mal in einen Club gehen!" schlug Silke aus heiterem Himmel vor.
„Wir beiden Grufties?" Anna hielt das für einen Witz.
Silke grinste. „Irgendwann muss ich dich ja mal an den Mann kriegen."
Anna ging spaßeshalber darauf ein. „Okay! Am Samstag?"
Silke schlug sie ab. „Klar! Ich hole dich um neun ab."
Die Nachbarin war zwar verheiratet und Mutter zweier Wonne-Proppen-Kinder, aber hin und wieder musste sie es wissen. Sie waren schon ein paar Mal zusammen weggewesen, zum Essen, auf ein Glas Wein, Silke hatte geflirtet auf Teufel komm raus, Anna wäre am liebsten im Boden versunken.
Aber insgeheim bewunderte sie die 35jährige.
Flirten hatte sie selbst nie gelernt. Wie ihre Romanheldinnen.
Am nächsten Tag machte sie beim Anwalt alles mit der Scheidung klar. Etwas überfahren stand sie danach auf der Straße.
Aber gut! Sie hatte das ja so gewollt.
Hatte sie?
Oder hatte sie doch immer noch ein wenig Hoffnung gehabt, dass sie ihr Leben zurückbekommen könnte?
Wieder dachte sie an Marie, und wie da das Ganze mit ihrem Ex ausgegangen war.
Nein! Menschen änderten sich nicht.
Sie hatte lange genug unter der barschen Art ihres Mannes gelitten, hatte das Zusammenleben schon lange satt gehabt, bevor er fremdgegangen war.
Sie wollte einen Neuanfang.
Sie wollte einen neuen Mann, eine neue Liebe.
Und wenn es keinen für sie gab, wollte sie ihr eigenes Leben haben.
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