Kapitel 84
Die Bewohner des Hauses am Rande der Stadt waren vollkommen geschockt über die Diagnose, die die drei Ärzte in ihrem Kreis überbrachten. Doch die Nachricht, dass Simon Mona nicht alleine lassen würde, beruhigte sie alle etwas.
Aber das hatten sie ja auch nie in Betracht gezogen, dass er sich von der Liebe seines Lebens auch nur einen Tag lang trennen würde.
Ronja und Marlon saßen auf der Terrasse der Eltern. Eine Flasche Wein hatten sie schon geleert, wussten aber, dass eine zweite folgen würde.
Wussten auch, dass die Schachtel Zigaretten, die auf dem Tischchen vor ihnen lag, am Morgen leer sein würde.
Philipp und Sabine ließen die beiden alleine, ahnten ihre Sorgen.
Doch nach zwei Stunden brachte Ronjas Mann seiner geliebten Frau und ihrem Zwillingsbruder einen Imbiss, den er mit all seiner Liebe zubereitet hatte.
Dankbar lächelte sie ihn an. Er strich über ihre wunderschönen Haare, das Erbe ihrer Mutter, die einen sehr schweren Kampf vor sich hatte. Ein Kuss sollte ihr Kraft geben – und sie verstand, während sie sich an ihn klammerte.
Ronja und Marlon schwiegen eine Weile, aßen, was Philipp ihnen hingestellt hatte.
„Sie wird nicht sterben, oder?" fragte er, sah seine um drei Minuten ältere Schwester flehend an.
Sie sah in den sternenklaren Himmel. „Nein! Sie darf nicht sterben. Aber mir macht das Angst, was ihr bevorsteht. Das hat sie einfach nicht verdient."
„Aber wir wissen ja, was für eine Hure das Schicksal ist. Die besten Menschen werden krank und leiden, während die Arschlöcher hundert Jahre alt werden!" Er trank das nächste Glas leer.
Sie antwortete nicht, konnte seinen derben Worten nichts hinzufügen.
„Aber Dad passt auf sie auf!" flüsterte sie schließlich.
Er nickte. „Es ist gut, dass eine solche Liebe zwischen ihnen ist – noch immer!"
Ronja grinste. „Oft war es uns peinlich, weißt du noch? Wenn sie dauernd zusammengeklebt sind? Auf alle Elternabende kamen sie händchenhaltend, engumschlungen saßen sie in unseren Klassenzimmern, auf den Gängen haben sie sich geküsste!"
Marlon lachte. „Ich wäre oft am liebsten im Boden versunken. Die Eltern unserer Klassenkameraden haben sich nie so benommen."
Sie trank einen Schluck Wein. „Aber dann haben wir schon bald verstanden, dass wir eben besondere Eltern haben, oder? Und auch ein besonderes Leben."
Er zündete sich noch eine Zigarette an. „Ein wunderschönes Leben! Ein perfektes Leben!"
Sie lächelte dem Vertrauten ihres ganzen Lebens zu. „Und das Beste ist, dass wir auch so wunderbare Lieben gefunden haben."
Er grinste seine Schwester an. „Wir waren eben geprägt. Wir wollten nie weniger, als sie gehabt haben." Er schenkte nochmal nach. „Aber leicht haben es uns unsere besseren Hälften auch nicht gerade gemacht, oder?"
Sie seufzte. „Nein! Ganz sicher nicht! Aber wir haben eben auch die Sturheit unserer Eltern geerbt. Haben kein Nein akzeptiert."
Er schüttelte den Kopf. „Mein Gott! War ich oft fertig, wenn Sabine wieder und wieder zu ihrem Mann zurückgegangen ist. Klar! Eine Ehe wirft man nicht leichtfertig weg. Aber ich wusste doch genau, dass sie mich liebte. Dass da mehr war als Sex zwischen uns. Mum hat mir dann knallhart erklärt, dass ich eine Entscheidung einfordern musste, wenn ich nicht vor die Hunde gehen wollte. Sie hatte wohl Ähnliches mit Fabian erlebt"
Ronja nahm ihn in den Arm. Noch immer quälten ihren sensiblen Bruder die Erinnerungen an die Zeit, als er wegen Sabine so gelitten hatte.
Er grinste sie an. „Aber du hast es bei Philipp auch nicht gerade leicht gehabt."
Sie schüttelte den Kopf. „Mein Gott! War der stur! Aber ich habe ihn nicht mehr von der Angel gelassen."
Plötzlich merkten sie, dass sie ihren Schmerz über die Krankheit der geliebten Mama weggequatscht hatte. Die Erinnerung an die schöne Vergangenheit und die perfekte Gegenwart hatte geholfen.
Etwas wackelig gingen sie in ihre Wohnungen, die Partner halfen ihnen lächelnd beim Ausziehen.
Britta und Hannes waren nach Simons Anruf eine Weile wie gelähmt.
Er hatte geahnt, dass etwas mit Mona nicht stimmte.
Aber musste es gleich ein inoperabler Gehirntumor sein?
Wie in Trance packten sie die Dinge, um die Simon sie gebeten hatte, in eine Reisetasche.
Britta nahm ihn in die Arme. „Sie wird wieder gesund!" flüsterte sie ihm zu. „Sie ist stark! Die Liebe der beiden ist stark genug!"
Hannes lachte bitter auf.
Die Liebe zwischen ihm und Mia war nicht stark genug gewesen, um sie zu retten.
Wenn es danach ginge, dürften nur ungeliebte Menschen sterben.
Aber das war leider ganz und gar nicht so.
Er schämte sich dafür, dass er Brittas Trostversuch so weggewischt hatte.
Das hatte sie nicht verdient.
„Verzeih mir bitte!" bat er geknickt.
„Natürlich!" sagte sie und strich ihm liebevoll die Haare aus der Stirne.
Wie immer! dachte sie.
In all den Jahren war Mia an seiner Seite gewesen.
Er hatte sie, Britta, immer geliebt, wie er sie auch heute noch liebte.
Da war sie absolut sicher.
Aber ein Teil von ihm hatte immer Mia gehört.
In den ersten Jahren hatte sie viele Tränen vergossen, wenn er in Gedanken versunken in den Himmel gestarrt hatte.
Wenn er regungslos vor ihrem Bild gestanden war.
Wenn er immer wieder ihre Gedichte las.
Wenn er mitten in der Nacht aufgestanden war und sich die Videos der verschiedenen Talkshows angesehen hatte.
Danach hatte er die Filme wohl auf CDs gebrannt, hatte sie auf seinem Computer laufen lassen.
Sie hatte immer wieder Mias Stimme gehört, wie sie schlagfertig auf die Fragen der Interviewerin geantwortet hatte.
Im Lauf der Jahre hatte sie sich daran gewöhnt.
Seine gedanklichen Ausflüge in die Vergangenheit waren auch seltener geworden.
Sie war nicht eigentlich eifersüchtig gewesen, doch der Schmerz, den er immer noch ertragen musste, hatte ihr wehgetan.
Wie oft hatte sie flehende Worte nach oben geschickt: „Gib ihn doch endlich frei!"
Hannes drückte Britta fest an sich. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte er: „Du hast mir viel verziehen in den ganzen Jahren, ich weiß das schon. Aber glaube mir: Du musstest mich nie teilen. Sie hat immer einen eigenen Platz in meinem Herzen gehabt, abgetrennt von dem, in den du eingezogen bist an diesem ersten Elternabend."
Britta schämte sich ein wenig für ihre Gedanken. Sie hatte es doch gewusst, dass er sie geliebt hatte, mehr als ein anderer Mann das hätte tun können.
Er war ihrer Tochter ein wundervoller Vater gewesen.
Sie hatte ein traumhaftes Leben an der Seite dieses gutaussehenden Mannes gehabt.
Warum musste sie gerade heute, als er diese schlimme Nachricht erhalten hatte, so idiotisch reagieren?
„Nein!" wehrte sie ab. „Verzeihen musste ich dir nichts. Aber dein Schmerz hat mir immer weder weh getan." Sie strich über sein noch immer männlich schönes Gesicht. „Aber dafür sind Liebende ja da. Um Freude und Leid zu teilen, nicht wahr?"
Und Hannes wusste, dass er richtig gewählt hatte.
Dass sein Herz richtig entschieden hatte, damals, am ersten Schultag seines Sohnes am Gymnasium.
Dass Mia zufrieden mit ihm wäre.
Da fiel ihm etwas ein. Etwas, dass vielleicht etwas makaber war, das Mona hoffentlich nicht in den falschen Hals bekommen würde.
Oder Simon.
Oder Britta.
Er holte aus seiner Nachttischschublade ein kleines Kästchen aus blauem Samt.
Markus hatte es ihm nach seinem Einzug hier in die Hand gedrückt. Mit tränenerstickter Stimme hatte er ihm die Erklärung gegeben: „Ich habe aus Mias Asche einen Diamanten pressen lassen. Irgendwann einmal wollte ich ihn Jonas geben." Die Zwillingsbrüder waren sich heulend in den Armen gelegen, hatten wieder einmal um die Frau geweint, die sie so geliebt hatten.
Der eine als Ehemann, der andere als Bruder der kleinen Studienrätin, die die Welt noch so sehr gebraucht hätte.
Er öffnete die Schatulle, küsste wie so oft den kunstvollen Anhänger, den sicher Oliver entworfen hatte: Ein Unendlichkeitszeichen mit dem Stein in einem Teil der liegenden Acht.
„Du wirst auf Mona aufpassen, nicht wahr?" flüsterte er. „Sie war unserem Sohn eine zweite Mutter und mir eine Freundin, als wir beide sie so dringend gebraucht haben. Und das trotz ihres eigenen Schmerzes."
Dann dachte er an Brittas Worte. Er sollte mit ihr darüber sprechen.
Vielleicht hätte er das in der Vergangenheit öfter tun sollen.
Wenn ihn der Verlust Mias immer wieder atemlos gemacht hatte.
Wenn er sich aus dem Bett in sein Arbeitszimmer geschlichen hatte, wenn er vor Mias Bild Raum und Zeit vergessen hatte.
Wenn er zu den Sternen gestarrt hatte, verloren für seine Umwelt.
Meistens war das in den Tagen um Jonas' Geburtstag, der Mias Sterbetag war, passiert.
Er hatte immer wieder gehofft, Britta würde nichts davon mitbekommen, aber er hatte sich getäuscht.
Das war ihm heute klar geworden.
Er nahm die Schatulle, zog Britta auf seinen Schoß, erzählte ihr zum ersten Mal den Hintergrund des Schmuckstückes und seinen Plan.
Sie verstand, was er ihr sagen wollte mit seiner Offenheit.
„Eine gute Idee!" sagte sie, bevor sie ihn küsste.
Nein! Teilen hatte sie ihn nie gemusst. Heute endlich konnte sie ganz sicher sein.
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