Kapitel 76
Florian
Ein paar Details hatte Florian von dem traurigen Schicksal Mias schon gehört, aber die Verflechtungen der Maybachs und Reisers kannte er noch nicht.
Da er auch dramatische Geschichten liebte, hörte er ihr gebannt zu.
Ihre Stimme klang außerdem wunderbar, ihre dunkelblauen Augen leuchteten im Schein der Kerzen. Als sie ihn nach ihrem Bericht anlächelte, wurde er mutiger als je in seinem Leben.
„Dürfte ich vielleicht tanzen mit dir?" fragte er leise.
Ihr Lächeln vertiefte sich noch.
So hatte sie auch noch niemand aufgefordert.
Ihr gefielen seine lächelnden Lippen, seine knallgrünen Augen, sein schmales Gesicht, seine halblangen, dichten blonden Haare, seine Stimme, seine Ernsthaftigkeit.
Gut, er war gerade so groß wie sie mit den Absätzen, aber er hatte eine durchtrainierte Figur. Natürlich wollte sie mit ihm tanzen.
„Natürlich!" sagte sie leise.
Von da an versank die Welt um Florian.
Er hielt tatsächlich dieses Wunderwesen in den Armen, diese Schönheit, die ganz anders war, als er sie eingeschätzt hatte.
Er hoffte, dass die Musik nie enden würde, hoffte, dass von der Stunde, um die sie Jonas gebeten hatte, noch 300 Minuten übrig waren.
Da sie gleich groß waren, lag seine Wange bald an ihrer, seine Hände streichelten mutig ganz leicht ihren Nacken.
Es war ihm ein wenig peinlich, dass sie sicher seine Erregung spüren würde, aber sie war ja keine Fünfzehn mehr.
Er überlegte, ob er seinen Kopf leicht drehen könnte, um sie ein wenig zu küssen, wagte es beim dritten Song schließlich.
Sie wehrte ihn nicht ab, ließ zu, dass seine Lippen leicht und vorsichtig über die ihren strichen.
Ihre Blicke trafen sich, er sah keine Missbilligung in ihren Veilchenaugen.
Das passiert doch nicht wirklich mir, dass dieses umschwärmte Mädchen sich von mir küssen ließ? dachte er noch.
Da öffnete sie ihre Lippen, lud seine Zunge ein, mit ihrer zu spielen.
Ihre Hände fuhren an seiner Wirbelsäule entlang, er stöhnte in den Kuss.
Er streichelte ihre Schultern, ihren Nacken unter dem wunderschönen Haar, sie stöhnte an seinem Mund, presste sich an ihn.
In diesem Moment schaltete Jonas die Musikanlage ab.
„Taxis warten!" rief er.
Er wollte die betrunkenen Bande jetzt lieber loswerden, bevor noch irgendwelche Schäden am Haus zu beklagen wären.
Doch er hatte nicht mitbekommen, dass Leonie und Florian sich so angenähert hatten.
Er war damit beschäftigt gewesen, ein bisschen mit dem einigermaßen nüchternen Mädchen rumzumachen.
Doch dessen zugedröhnter Freund hatte dem heißen Spiel leider ein schnelles Ende bereitet.
Da lief jetzt auch noch diese Inga rum, suchte kreischend nach Florian!
Der tauchte mit Leonie aus einem Rausch der anderen Art auf.
Sie zog ihn hinter eine Abtrennung, um ihn vor Inga in Sicherheit zu bringen, was er lächelnd bemerkte.
Leonie wusste nicht so recht, was sie da getan hatte, aber sie wollte noch ein wenig weiter schmusen.
Florian hatte nichts dagegen einzuwenden, wirklich nicht.
Als der letzte Gast in einen Wagen verfrachtet war, einschließlich Inga, und nur noch die Familienmitglieder auf der Terrasse versammelt waren, rief Jonas nach dem Geburtstagskind.
„Ihr könnt wieder rauskommen!" Die anderen sahen ihn fragend an.
„Keine Lust!" rief Leonie, was Florian mit einem leisen, glücklichen Lachen quittierte.
Schon! dachte er. Schon Lust! Ganz viel sogar!
Seine Hände waren ganz vorsichtig unterwegs, was Leonie unheimlich gefiel.
Er kniff weder an ihren Brüsten herum, was sie hasste, noch griff er zwischen ihre Beine, was sie noch mehr hasste.
Sanft strich er über ihren Nacken, ihren Rücken, ihre Oberarme.
Seine Finger liebkosten ihr Gesicht, strichen über ihr Haar.
Seine Lippen waren zärtlich, nicht fordernd, waren streichelnd, lösten sich, liebkosten ihre Schultern, er knabberte an ihrem Hals, an ihren Ohren, sein Mund kam zu ihrem zurück, begann das sinnliche Spiel wieder von vorne.
Er saugte leicht an ihrer Unterlippe, berührte zärtlich ihre Mundwinkel.
Mein Gott! Der Typ kann vielleicht küssen! dachte sie benebelt. Und damit sollte sie jetzt aufhören? Nie im Leben!
Sie genoss diese Zärtlichkeiten, gab sie ihm zurück, blieb aber ebenso zurückhaltend wie er.
Sie fühlte seine Härte, sonst rieb sie sich dann schon an dem Mann, damit er verstand, dass sie verstand.
Aber bei ihm fühlte sie eine Grenze, die er einhalten wollte.
Eine Grenze, die ihr auch guttat!
Nach gefühlten Stunden merkte Florian, dass es an die Substanz seiner Beherrschung gehen würde, wenn er weiter machte und löste sich von ihr.
Leonie fühlte ebenso, war ihm dankbar.
Sie hatte nicht gewusst, wie lange sie es noch aushalten würde, ihn nicht anzugrapschen.
Irgendwie sind bei ihm und mir die Rollen vertauscht, dachte sie, und auch das gefiel ihr sonderbarer Weise.
Sie legte den Arm um seine Taille und führte ihn zu den jungen Leuten ihrer Großfamilie.
Sie zog ihn auf die Bank neben sich, er glaubte immer noch zu träumen.
Sie verabschiedete ihn nicht, sondern ließ ihn im Kreis ihrer Familie neben sich sitzen, zeigte jedem durch ihre Berührungen, dass da etwas lief zwischen ihnen.
Etwas lief? dachte er. Träum weiter! Die Prinzessin hat sich zum Geburtstag ein Spielzeug geholt.
„Darf ich vorstellen: Florian Berg, Sozialpädagoge in unserer Stiftung!"
Die anderen waren hochinteressiert, ließen ihn noch einmal von seiner Arbeit erzählen, stellten immer weitere Fragen, stimmten seinen Ansichten zu.
Er hatte noch nie eine Gruppe von so sozial eingestellten jungen Leuten getroffen, nicht einmal unter seinen Kommilitonen.
Sie diskutierten mit ihm über weitere notwendige Maßnahmen, fragten nach, ob er mehr Geld für seine Arbeit brauchte, mehr Freizeitangebote, mehr Unterstützung, mehr Mitarbeiter.
Anna machte sich Notizen, als zukünftige Justitiarin wollte sie über alle Aktivitäten der Stiftung genau Bescheid wissen.
Und seltsamerweise fühlte Florian sich wohl in dieser Gruppe von reichen Söhnen und Töchtern und noch außergewöhnlicher war es für ihn, dass er sich so angenommen fühlte.
In Jonas keimte eine Idee, wie er das Geld seiner Mutter einsetzen wollte.
„Ich werde einen Fond Sozialarbeit anlegen!" erklärte er. „Du verwaltest ihn, machst mit dem Geld, was du für richtig hältst. Stellst Leute ein, organisierst Projekte, machst alles, was sinnvoll ist. Und denk dran, jedes Leben, das wir retten, das wir in den Griff kriegen, ist alles Geld wert."
Florian glaubte, nun endgültig in einem Traum gelandet zu sein.
Von dieser Welt waren diese jungen Leute nicht.
Vor allem eine nicht, eine wunderschöne junge Frau, deren Augen ihn anblitzten, die ihre Hände kaum von ihm lassen konnte, die seine kleinen Zärtlichkeiten lächelnd geschehen ließ.
„Und von welcher Summe sprechen wir?" fragte er nach Jonas' Vorschlag.
„12,8 Millionen!" antwortete Jonas. „Das ist das Erbe meiner Mutter."
Florian verschluckte sich an dem Wasser, von dem er gerade getrunken hatte.
Er lachte, konnte gar nicht mehr aufhören. „Sorry, ihr seid an solche Zahlen vielleicht gewöhnt, aber für mich sind das Utopien!" entschuldigte er sich.
„Ab heute nicht mehr!" stellte Jonas fest. Er wusste nicht, warum er so großes Vertrauen zu diesem jungen Mann gefasst hatte.
Aber die Unterhaltung mit ihm hatte ihm imponiert, seine Ansichten waren selten bei Leuten in seinem Alter, seine Ernsthaftigkeit noch mehr.
Leonie zog Florians Kopf ein wenig zu sich, wollte ihn endlich wieder einmal küssen.
Er küsste so verdammt gut.
Sie wusste nicht recht, wie ihr heute geschehen war.
Er war eigentlich so gar nicht ihr Typ, sie war geprägt auf lange Kerle, auf laute, selbstbewusste Männer, die Räume füllten, wenn sie irgendwo auftauchten.
Aber doch nicht auf einen so sanften Jungen, ein wenig größer als sie selbst, wenn sie flache Schuhe anhatte.
Und doch hatte sie heute gefühlt, dass sie die anderen satt hatte: die Grapscher, die Selbstdarsteller, die Selbstverliebten, die Unsozialen, die Sportwagenfahrer, die Modefreaks, die Aufreißer, die Abschlepper, aus denen ihr Freundeskreis zum größten Teil bestand.
Sie hatte einige von ihnen ausprobiert, nichts war von den Abenteuern übrig geblieben als ein schaler Geschmack in ihrem Mund, den sie heute ganz deutlich wahrnahm.
Aber er war so schüchtern, sah sie so vorsichtig an, als könnte er nicht so recht glauben, wie ihm geschah.
Sie würde ihm Zeit lassen müssen.
Still lächelte sie vor sich hin.
Jetzt war es aber eindeutig, dass die Rollen vertauscht waren.
Das waren ja nun wirklich Gedanken eines Mannes, die ihr durch den Kopf schwirrten.
Die anderen verabschiedeten sich allmählich, einer nach dem anderen.
Anna war die letzte. „Mach mal einen Finanzplan, einen kurz- und einen langfristigen!" schlug sie vor, bevor auch sie ging.
Okay, das konnte er gerne machen, das hatte er während des Studiums gelernt, er hatte nur nicht gedacht, dass er dieses Wissen je würde anwenden können.
So blieben nur noch er und Leonie, die schöne Tochter aus reichem Hause, übrig.
„Ich werde dann auch mal fahren!" Er war etwas verlegen.
„Bist du mit dem Auto da?" fragte sie leise.
„Ja!" Er überlegte, lachte. „Nein! Ich bin ja mit Inga gekommen!"
„Ist sie deine Freundin?"
Klang sie etwa eifersüchtig?
Darauf konnte er ja wohl kaum hoffen. „Nein! Sie ist eine Kollegin. Sie ist Sekretärin bei euch."
„Aber sie wäre gerne deine Freundin?"
Warum stellte sie diese Fragen? „Ich weiß es nicht. Vielleicht! Ja, könnte schon sein."
„Und du?"
„Was ich?"
„Möchtest du sie zur Freundin?" Sie wusste nicht, was sie ritt, ihn all das zu fragen.
„Nein, seit heute nicht mehr!" antwortete er und hielt ihrem Blick stand.
Wollte sie noch ein bisschen spielen mit ihm?
Wollte sie hören, wie gut sie ihm gefiel, damit sie einen Grund hatte, ihn auszulachen?
„Und warum nicht mehr?"
„Weil ich seit heute nur noch eine Frau möchte, die aber unerreichbar ist für mich."
Gut, jetzt hatte er es ihr gesagt, jetzt war es aber auch gut, mehr zu quälen brauchte sie ihn dann nicht mehr.
„Ich glaube, dass du dich da sehr täuschst in dieser Frau!" sagte sie leise. „Ich glaube, dass diese Frau dich auch sehr gerne möchte. Dass sie dich sehr gerne kennenlernen möchte, Florian Berg!"
Und dann war es um ihn geschehen.
Es war möglich, dass das alles nur ein Traum war, aber wenn, dann wollte er ihn so lange träumen wie möglich.
Er griff in ihre blonde Mähne, zog sie an sich und küsste sie.
Zärtlich am Anfang, aber auch zunehmend leidenschaftlich.
Er litt Höllenqualen vor Begehren, wusste, er musste aufhören, schaffte es nicht, schaffte es nicht, schaffte es schließlich doch, sprang auf.
„Könntest du, könntest du mir bitte ein Taxi rufen?" bat er atemlos.
„Möchtest du nicht bleiben?" fragte sie leise.
Er zog sie hoch, nahm sie in die Arme. „Doch, Leonie! Ich möchte bleiben. Natürlich möchte ich bleiben. Aber ich werde es nicht tun."
„Und warum nicht?" Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
Er versuchte es ihr offen zu erklären. „Leonie, ich begehre dich wahnsinnig. Und ich habe auch normalerweise nichts gegen Sex am ersten Abend. Aber nicht mit dir. Du bist etwas Besonderes, ich möchte nicht morgens um vier nach einer Feier mit dir in die Falle hüpfen. Ich möchte dich lieben, wenn du darüber geschlafen hast, wenn du dir sicher bist, dass du mich willst."
Leonie lächelte ihn an. Mein Gott, was für eine süße Abfuhr sie da bekommen hatte.
Der Junge war schon einmalig.
Sie kannte keinen Mann, der ihr eindeutiges Angebot so charmant abgelehnt hätte.
„Also, dann rufe ich dir ein Taxi. Geht übrigens auf Monatsrechnung meines Dads. Das ist so ein Tick von ihm. Überall hat er Monatskonten."
„Na ja! Ich glaube nicht, dass diese Taxifahrt ihn in den Ruin treibt!" ging er auf ihren lockeren Ton ein.
Sie wartete vor der Türe mit ihm auf den Mietwagen.
„Du hast schon verstanden, was ich dir sagen wollte?" fragte Florian zur Sicherheit noch, während er sie im Arm hielt.
„Ja, und es war sehr schön, was ich verstanden habe!" antwortete sie.
Ein letzter Kuss, dann war das Auto auch schon da.
„Ich rufe dich morgen an, ja?" rief er ihr zu.
Sie nickte, schluckte die Tränen, die in ihr hochstiegen.
Und wenn nicht, rufe ich dich an, Florian Berg, Sozialpädagoge bei unserer Stiftung! dachte sie.
Florian ließ sich auf sein Bett fallen, wartete, dass er aus diesem Traum aufwachte.
Als das nicht geschah, musste er sich wohl oder übel damit abfinden, dass er doch nicht geträumt hatte.
Musste er sich eingestehen, dass das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte, ihn als Freund wollte.
Dass er das Angebot erhalten hatte, einen 12,8 Millionen Fonds für seine Arbeit zu verwalten.
Dass Leonie Reiser ihn geküsst hatte, sich von ihm hatte küssen lassen.
Dass... dass..... dass.....Mit diesen wunderbaren Gedanken schlief er irgendwann im Morgengrauen doch noch ein.
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