Kapitel 72

Hannes fuhr nach Hause, brachte das Lächeln nicht aus seinem Gesicht, lächelte, als er ausstieg, als er zu seiner Wohnung ging, lächelte, als er sich ins Bett legte, als er ihren Duft einatmete, als er ihr Kissen in den Arm nahm, als er einschlief.
Zum Frühstück ging er immer noch lächelnd zu Mona und Simon.
Jonas sah ihn verwundert an.

„Na, wie war dein Date?" fragte sein Sohn.
„Gut! Danke der Nachfrage!"
„Habt ihr euch geküsst?"
„Ah! Ja! Haben wir!" gestand der überraschte Vater.

„Und, war es schön?" Jonas wollte heute schon alles genau wissen.
„Ja, schon!"
Mona und Simon zogen sich zurück, unterdrückten einen Lachanfall.

Dieses Vater-Sohn-Gespräch musste Hannes alleine meistern.
Sie fingen Leonie ab, die ins Loft wollte.
„Wie oft hat ihr euch geküsst?" bohrte Jonas weiter.
„So fünf- sechsmal vielleicht?" Ein bisschen sollte ich vielleicht untertreiben, dachte Hannes.
„Und kommt sie wieder?"
„Ja, heute um vier."
„Darf ich dann auch dabei sein?" fragte Jonas.

„Natürlich, Sohnemann. Sie bringt ihre Tochter auch mit." berichtete Hannes.
„Oh! Noch ein Kind!" Jonas grinste seinen Vater an.
Hannes lachte. „Kinder sind doch etwas Wunderbares."

Der Junge sah seinen Vater an, und die Bernsteinaugen des Kleinen blitzten. „Maul schaun, wie Leonie darüber denkt." Dann wollte er wieder zum Ursprungsthema zurück. „Und küsst ihr euch heute wieder?"
„Ich hoffe." Hannes musste seinen Sohn in die Arme nehmen und an sich drücken. Er liebte dieses Kind so sehr.

„Aber komisch ist das schon, dass mein Papa meine Lehrerin küsst."
„Ja, sorry! Das war auch nicht so geplant. Hast du ein Problem damit?" Hannes konnte sich schon vorstellen, dass das für einen Neunjährigen gewöhnungsbedürftig war.
„Ne, nicht direkt. Es muss ja erst einmal niemand davon erfahren, oder?"
„Nein, vielleicht sollte niemand davon erfahren, wenigstens nicht in diesem Jahr, wenn sie deine Klassenlehrerin ist." Hannes hatte Angst, die anderen könnten seinen Sohn hänseln.

Er und Leonie hatte sowieso eine Art Sonderstellung an dieser Schule, er wollte die beiden ungern weiteren Angriffen aussetzen. „Und wenn deine Mitschüler doch davon erfahren und dich deshalb ärgern, sagst du mir das sofort. Versprochen?"

Jonas lächelte. „Du meinst den Karl, den mit den roten Haaren? Der ist schon in Ordnung. Der spielt bloß den großen Macker, aber den knacken wir beide schon."
Hannes hörte aus seinen Worten die Einstellung Mias, die auch alle Kollegen geknackt hatte, die Herausforderungen geliebt hatte, für die leichte Wege keine gewesen waren.
Aber wieder blieb die große, die schmerzende Trauer aus, seine Augen blieben trocken.
Sein Herz war nur erfüllt von Stolz und Liebe.

Hannes rief die anderen zum Frühstück, die Zeit vor Schulbeginn drängte langsam.
Alle halfen zusammen, schnell war der große Tisch gedeckt.
Marlon und Ronja hatten heute den ersten Tag im Kindergarten, Anna besuchte die zweite Klasse.
Als alle Kinder verfrachtet worden waren, trafen sich die Erwachsenen zu noch einer Tasse Kaffee.
Hannes berichtete von Britta, dass sich wohl eine Beziehung entwickeln würde, Markus erzählte schmunzelnd, dass er Kerstin wieder getroffen hatte und ein paar Mal mit ihr aus gewesen war.

Um vier kam Britta mit Annika, wurde von allen liebevoll begrüßt, fühlte sich aufgenommen in dieser außergewöhnlichen Großfamilie.
Einen Monat später zogen Mutter und Tochter bei Hannes ein, einen weiteren Monat später Kerstin bei Markus und Anna.

Im Frühjahr bekam Simon einen erschütternden Anruf. Carlotta war bei einem Verkehrsunfall getötet worden, Marco lebte vorübergehend bei ihren Eltern.
Ohne lange nachzudenken oder zu diskutieren, flogen Simon und Mona nach Italien, um seinen Sohn abzuholen.

Der Achtjährige war schwer traumatisiert, aber glücklich darüber, ein Zuhause bei seinem Vater zu bekommen und nicht bei den alten Großeltern in dem kleinen Dorf leben zu müssen.
Leonie lachte. „Jetzt komme ich aber mit dem Zählen bald nicht mehr mit." Sie lästerte zwar immer, freute sich aber wie alle anderen über jedes neue Mitglied ihrer Gemeinschaft.

So lebten mittlerweile sechs Erwachsene mit sieben Kindern über und neben dem Geschäftshaus, das Simon hatte bauen lassen.
Mona und er beschlossen, noch einige Zimmer auf dem Loft und auch auf Hannes Turm ein paar Räume zu errichten - man konnte ja nie wissen.

Die Genehmigungsbehörde hatte ein paar Einwände, weil der Wohnraum mittlerweile den Geschäftsanteil übertraf.
Simon erinnerte lächelnd an die mittlerweile zehn Sozialwohnungsbauten, der Sachbearbeiter wurde schnell einsichtig.

Das Gebäude, das anfangs ein klassisches Geschäftsgebäude gewesen war, hatte sein Aussehen sehr verändert, wirkte auf den ersten Blick etwas kurios, der Architekt bekam immer leichte Magenschmerzen, wenn er es sah.
Doch die Bewohner waren überzeugt, dass es das schönste Haus der Stadt war.
Es war ein Haus, das unglaubliche Liebe, unglaubliches Glück, aber leider auch viel Trauer gesehen hatte.

Simon und Mona saßen am 2. August, zwölf Jahre nach ihrem Kennenlernen auf der Terrasse.
Sie hatten mit heißem Sex ihre Liebe gefeiert, waren aufgeputscht, angefüllt mit Adrenalin und Endorphinen.
Keiner von beiden hatte vorhergesehen, welch ein verrücktes Leben sie erwartete, als sie sich das erste Mal in den Armen gehalten hatte.

„Schon irre, was das Schicksal sich für uns so ausgedacht hatte, Süße, oder?" seufzte Simon, und sein Herz drohte zu platzen, wieder einmal.
Mona lachte glücklich.

Ja, das Schicksal war vielleicht verrückt gewesen, aber wunder-, wunderschön.
Von diesem Abend im Biergarten bis heute war jeder Tag ein Traum gewesen.
Gut, diese schrecklichen drei Jahre hätte es nicht unbedingt gebraucht, aber zum einen waren sie vom Glück danach eigentlich ausgelöscht worden, zum zweiten ließ sie beide diese Zeit noch dankbarer für das Glück werden, das sie doch noch erleben durften - und zum dritten hätte es ohne das Unglück Marco nie gegeben, ihren italienischen Sonnenschein.

Er war wie Marlon ein Abbild seines Vaters, Ronja und Leonie waren ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.
Zwei Kinder hatten sie gewollt, vier hatten sie geschenkt bekommen, und jedes liebten sie unglaublich.

Hannes und Markus feierten Doppelhochzeit im Familienkreis. Sie waren beide sehr glücklich und sehr verliebt, genossen ihr zweites Glück.
Am Abend zuvor saßen die Zwillingsbrüder auf der Terrasse vor Hannes' Wohnung. Ihre zukünftigen Frauen standen zusammen am Geländer.

Markus fiel die Ähnlichkeit der beiden auf.
Jetzt sind wir wieder zu unserem früheren Beuteschema zurückgekommen! dachte er. Aber aussprechen wollte er das nicht, das wäre schon etwas zu makaber gewesen, vor allem für Hannes.

Jonas und Leonie waren auch am Gymnasium die Überflieger, waren Klassenbeste und Klassensprecher in jedem Schuljahr, später auch Schülersprecher.
Sie übersprangen die neunte, machten mit 17 Abitur, Schnitt 1,00.
Marlon und Ronja waren faul, aber hochbegabt, ihnen flog alles zu, ohne dass sie etwas dafür tun mussten – vor allem die Herzen ihrer Mitmenschen.

Marco war ebenfalls ein hervorragender Schüler und der Schwarm aller Mitschülerinnen. Anna gehörte zu seinen glühendsten Verehrerinnen.
Jonas und Leonie hatten eine Phase, in der sie glaubten, ineinander verliebt zu sein. Sie schmachteten sich an, fummelten ein bisschen, küssten sich ein paarmal.

Mona sah diese Entwicklung mit etwas Sorge, sie dachte an ihre Vergangenheit mit Fabian, dachte daran, wie leicht man in diesem Alter Freundschaft mit Liebe verwechseln konnte.
Sie wollte für ihre Tochter mehr, wollte Wolke sieben für sie.

Doch die beiden merkten bald, dass sie sich auch für andere interessierten, beendeten ihre kleine Jugendliebe, um sich umzusehen.
Freunde blieben sie für immer.
Anja und Oliver hatten sich ihren Traum von der Klinik in Afrika erfüllt. Sie war je zur Hälfte von Simon und Hannes finanziert worden.
Sie nannten sie „Little-Doc-Hospital".
Sie lebten ihren Traum, bekamen zwei Kinder, waren da angekommen, wo sie hinwollten.
Zur Klinikeröffnung flog die ganze Wohngemeinschaft nach Ruanda.

Kurz danach bekam Markus einen Brief seiner Ex-Schwiegereltern, worin sie ihn informierten, dass ihre Tochter Sarah auf Ibiza verstorben war.
Er zerriss den Brief, Anna sollte nichts davon mitbekommen.

Er vergoss ein paar Tränen, aber nicht um Sarah, die ihr Leben weggeworfen hatte, sondern um Mia, die so gerne gelebt hätte, und die die Welt so dringend weiter gebraucht hätte.
Seine Schwiegereltern hatten keinerlei Kontakt mit ihm gesucht, hatten auch die Existenz einer Enkeltochter ignoriert. Markus ahnte etwas von der Gefühlskälte der beiden, die so ganz anders waren als Mias Eltern. Sie hatten wohl Sahra so vollkommen verkorkst.

Monas Eltern starben hochbetagt, sie hatten bis zuletzt selbstständig in ihrem Haus gelebt. Erst ging ihr Vater, eine Woche später ihre Mutter. Sie war nicht traurig, sondern glücklich über das lange, erfüllte Leben, das die beiden hatten teilen dürfen.

Simons Firma war immer noch am Wachsen und höchst erfolgreich, die letzten vier Arbeitsräume waren vergeben worden an neue Mitarbeiter.
Hannes wurde offizieller Teilhaber.
Der 50. Geburtstag der Männer wurde mit einem großen Straßenfest gefeiert, fast alle im Viertel waren gekommen.
Nick vom Imbiss sorgte für das Essen, die beiden Weingüter für Wein, Sekt und Prosecco.
Die Stadt wollte einen offiziellen Empfang geben, aber alle lehnten ab.

Sie bauten Haus um Haus, unterstützten die Schulen, in deren Sprengel die Wohnungen lagen, damit die Kinder auch optimal gefördert wurden.
Sie finanzierten zusätzliche Lehrerstellen, bauten Freizeitangebote aus, sorgten sich um jeden einzelnen Bewohner.

Mona bekam viel Arbeit, als ein Geschäftspartner ihr Gemälde im Eingangsbereich sah. Plötzlich wollten ganz viele Betriebe in Europa solche Bilder von ihren Firmensitzen haben.

Simon liebte es, auf der Terrasse zu sitzen und seiner Süßen beim Malen zuzusehen. Wenn sie die Augen zusammenkniff, die Stirne runzelte, das Näschen krauste, hätte er sie auffressen können.
Wenn bei schwierigen Pinselstrichen die Zungenspitze zwischen ihren wunderschönen Lippen hervortrat und die Richtung mitverfolgte, musste er sich immer sehr zusammenreißen.

Sie war in all den Jahren nicht älter geworden, nur schöner. Er begehrte sie wie am ersten Tag, genoss die Liebe mit ihr und auch den Sex wie beim ersten Mal.
Seine Hormone beruhigten sich nicht im Geringsten.
Und ihre auch nicht.

Noch immer überkam sie bei einer ganz alltäglichen Tätigkeit die Leidenschaft, noch immer rannten sie in ihre Wohnung, während unten die Computer liefen, noch immer waren sie unglaublich heiß aufeinander, noch immer schenkten sie sich unheimliche Zärtlichkeit, noch immer waren sie atemlos, wenn sie sich küssten, noch immer versanken sie ganze Nächte lang in diesem Rausch.
Noch immer rollten sie lachend durchs Bett, wenn sie besonders leidenschaftlich gewesen waren, sich besonders schmutzige Worte zugeflüstert hatten.

Leonie hatte natürlich mittlerweile begriffen, dass die beiden sich dann keine Witze erzählten.
Sie lächelte immer, wenn ihre Eltern so lachten im Schlafzimmer, wünschte sich so ein Glück auch für sich.
Sie studierte Französisch, Italienisch und Spanisch, Jonas entschied sich für Informatik. Sie zogen das Studium in Rekordzeit durch, traten in die Firma ihrer Väter ein.


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