Kapitel 69
Die nächsten Jahre
Jonas und Leonie besuchten die vierte Klasse. Sie hatten immer Bestnoten, waren stets Klassensprecher, waren die Stars der Grundschule.
Der Wechsel ans Gymnasium stand an.
Eigentlich wäre das Goethegymnasium das Beste für sie gewesen, aber Hannes sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen, seinen Sohn an Mias Schule zu schicken.
Sie führten lange Gespräche, aber sie wollten auch nicht alles wieder aufwühlen in dem Freund und Bruder.
Schließlich startete Hannes einen Versuch.
Ohne jemandem etwas zu sagen, fuhr er an einem Vormittag in den Westen der Stadt, parkte sein Auto auf dem Hof und stieg aus.
Genau in diesem Augenblick sah Gregor aus dem Fenster, glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
Er gab seiner Klasse eine Stillbeschäftigung, raste nach unten.
Hannes rannen die Tränen übers Gesicht, Gregor nahm ihn in den Arm, wusste, was dieser Besuch dem Freund abverlangte.
„Jonas möchte unbedingt hierher gehen, aber ich weiß nicht, ob ich das packe!" schluchzte Hannes. „Verdammt! Es ist so lange her. Warum hört denn der Schmerz nie ganz auf?" Er drosch wütend auf sein Autodach ein. „Aber ich muss da durch. Das wäre die beste Schule, auch für Leonie. Ich muss das schaffen."
Langsam beruhigt er sich, versuchte, nicht zu dem Fenster hinauf zu sehen, von dem sie ihm damals zugewinkt hatte, versuchte, sich nicht an sie erinnern, wie sie tanzend vor Glück über den Hof gelaufen war, als er den Computerraum eingerichtet hatte, versuchte, ihre Stimme auszuschalten, die ihren Abiturienten den Sinn des Lebens nahebrachte.
Doch es gelang nur bedingt.
Und dann sagte Gregor einen Satz, der auch von Mia hätte sein können, der ihm vieles klar machte, der ihm auch einen Weg zeigte: „Sei dankbar, dass du so viele schöne Erinnerungen hast. Nicht vielen ist das vergönnt."
Von diesem Moment an spürte er, dass Erinnerungen nicht immer quälen mussten, dass sie vielmehr auch glücklich machen konnten.
Überrascht sah er Gregor an, nickte. „Ja, du hast recht."
Die beiden gingen hinein, schauten im Lehrerzimmer vorbei.
Viele Kolleginnen und Kollegen kannten ihn noch.
Der Chef freute sich von Herzen, als er erfuhr, dass Mias Sohn seine Schule besuchen sollte.
„Aber er ist unzertrennlich verbunden mit seiner Freundin Leonie, der Tochter meines Kompagnons!" warnte er alle vor. „Also, die beiden müssen in eine Klasse."
Dann fragte er nach dem Computerraum, erschrak, als er erfuhr, dass immer noch die Geräte dastanden, die er eingebaut hatte.
„Nein!" rief er entsetzt. „Da wurde es aber höchste Zeit, dass ich vorbeigekommen bin."
„Wir haben auch sehnsüchtig auf Sie gewartet!" scherzte der Schulleiter.
Hannes war froh, dass alles so locker ablief, dass er sich erinnern konnte, Witze machen konnte, aber auch, dass er etwas tun konnte.
Zu Hause berichtete er von seinem Besuch.
Simon nahm ihn in den Arm.
Sie hatten beide keine Probleme mit Nähe. „Na, dann statten wir mal die Schule unserer Kinder ordentlich aus!" schlug er vor.
Sie bestellten 30 Geräte, einige Drucker, einen leistungsfähigen Server, ein Whiteboard und ein paar Klassensätze Laptops.
Eine Woche später begannen Hannes, Simon und Niklas den Computerraum wieder einmal neu einzurichten.
In Erinnerung an früher kaufte Hannes zwei Profikaffeemaschinen fürs Lehrerzimmer.
Es wurde ein fröhliches Schaffen, keinerlei Trauer kam bei Hannes auf, nur schöne Erinnerungen tauchten in seinem Kopf auf.
„Was ist eigentlich mit dieser Ulla geschehen?" fragte er Gregor.
„Die war ziemlich lange im Bezirkskrankenhaus, dann wurde sie frühpensioniert, ich habe schon lange nichts mehr von ihr gehört!" berichtete der Freund.
Hannes erzählte Simon lachend vom Auftritt der Kollegin damals. „Das war vielleicht ein Ding!" schloss er kopfschüttelnd.
Im September brachten Simon und Hannes ihre Kinder zu ihrem ersten Schultag am Gymnasium. Mona blieb bei den Zwillingen.
Jonas undLeonie waren ein Jahr jünger als ihre Mitschüler, was aber kaum zu sehen war.
Jonas war schon immer größer als alle Gleichaltrigen gewesen, Leonie hatte ganz schön aufgeholt, unterschied sich mit ihren neun Jahren kaum von den zehnjährigen Mitschülerinnen.
Jonas war mathematisch sehr begabt, programmierte schon fleißig, liebte aber auch alles, was mit Sprache zu tun hatte.
Leonie hatte viele Talente. Sie malte und zeichnete hervorragend, war sehr musikalisch und sportlich, liebte aber auch alles Technische, verbrachte viel Zeit in den unteren Räumen.
Es waren wunderschöne Kinder, sie waren außerordentlich klug, außerdem liebenswürdig und perfekt erzogen.
Hannes platzte vor Stolz genauso wie Simon.
Britta Malnik, die Klassenlehrerin der 5a war schon gespannt auf die Beiden: Jonas, der Sohn der hübschen Studienrätin, von der noch immer alle sprachen und Leonie, seine Freundin, deren Vater den Computerraum mit eingerichtet hatte.
Sie hatte die Übertrittszeugnisse gelesen, solche Noten hatte sie selten gesehen, Schnitt 1,00. Dabei waren die beiden erst neun Jahre alt!
Sie erkannte die Familie sofort, als sie den Klassenraum betraten.
Dr. Maybach und Dr. Reiser, beide hatten den Arm um ihre Kinder gelegt, lächelten ihnen liebevoll zu, beide sehr groß und außerordentlich gutaussehend, beide sehr souverän und selbstbewusst.
Britta wurde ein wenig bang.
Hoffentlich waren die beiden keine Helikopterväter, die jedes Wort von ihr, jede ihrer Entscheidungen auf die Goldwaage legten.
Die Kinder suchten sich ihre Plätze, Jungs neben Jungs, Mädchen neben Mädchen, nur Jonas und Leonie machten eine Ausnahme. Die anderen Kinder tuschelten, lachten über die beiden.
„Die sind wohl verliebt!" meinte ein vorlauter Rothaariger.
Jonas sah ihn ernsthaft an. „Nein! Aber wir sind schon immer Freunde!" sagte er ganz ruhig.
Sein durchdringender Blick und sein bestimmter Ton trieben dem anderen die Röte ins Gesicht.
Hannes strich seinem Sohn über den Kopf. „Recht so!" flüsterte er.
Britta bat die Eltern, sich auf die hinten aufgestellten Stühle zu setzen, stellte sich vor, überprüfte die Anwesenheit der angemeldeten Schüler.
Sie hatte Recht gehabt, die beiden gutaussehenden Männer waren die Väter der Superstars ihrer Klasse.
Sie berichtete von den Vorhaben während des Schuljahres, vom Umfang des Stoffes, bat um Fragen.
Hannes konnte irgendwie nicht den Blick von ihr lösen. Sie war ungefähr 35, groß und schlank, eher konservativ gekleidet, hatte kurze braune Haare und trug eine moderne Brille.
Ihre Stimme war sanft und ruhig, ihr Lächeln atemberaubend.
Hey, Hannes! rief er sich zurück ins Jetzt. Sie ist die Lehrerin deines Sohnes.
Als sie um Fragen bat, hätte er sie am liebsten um ein Date gebeten.
Was war denn los mit ihm? Hatte er sich verguckt in diese ruhige, junge Frau, die sehr kompetent wirkte und so wunderschön lächelte?
Britta hielt ihre kleine Rede, wie jedes Jahr am ersten Schultag, konnte sich aber dieses Mal schlecht konzentrieren.
Immer wieder kamen ihre Blicke bei Dr. Maybach an, der sie unverwandt anzustarren schien.
Er sieht schon gut aus! dachte sie und verlor komplett den Faden.
Ich muss seinen Augen aus dem Weg gehen! dachte sie und wandte sich den Kindern zu.
„Und, habt ihr noch eine Frage?" Zahlreiche Finger schossen nach oben. Sie war eine Weile abgelenkt.
Simon sah seinen Freund an, musste ein wenig grinsen. Warum starrte er die junge Lehrerin so an?
Bei Carlotta hatte er schon bemerkt, dass das Interesse von Hannes an der Damenwelt wieder erwacht war.
Aber Frau Malnik sah ja Mia nicht im Entferntesten ähnlich.
Vielleicht gerade deshalb?
Er sah auch die Blicke der jungen Frau auf Hannes.
Das Interesse schien ja beidseitig zu sein.
Bloß dumm, dass sie die Klassenlehrerin ihrer Kinder war.
Er lächelte still vor sich hin.
Britta schloss die Fragerunde ab. „Dann verteile ich die personalisierten Stundenpläne. Die AGs haben Sie ja schon bei der Einschreibung gewählt, ebenso wie Ethik oder Religion. Ich habe für jede Familie zwei Exemplare kopiert, eines für den häuslichen Kühlschrank, eines für die Schultasche."
Die Eltern lachten, dankbar, dass die junge Frau so gut mitgedacht hatte.
Sie ging nach hinten, rief die Eltern namentlich auf, wechselte mit allen ein paar freundliche Worte. Bei Maybach stockte sie kurz, räusperte sich, ihre Hand zitterte kaum merklich, als sie Hannes die Blätter hinhielt.
Der griff danach, berührte versehentlich ihre Finger, fühlte die leichte Berührung in seinem ganzen Körper.
Ihre Blicke versanken kurz ineinander.
„Mein Gott, was für Bernsteinaugen!" dachte Britta.
„So dunkelbraune Augen, fast schwarz!" dachte Hannes.
Simon räusperte sich leise.
Die beiden lächelten, Britta machte weiter.
Die Familien verließen mit ihren Kindern den Raum.
Hannes legte einen der Stundenpläne unbemerkt auf den Boden.
Als sie den Gang hinuntergegangen waren, rief er plötzlich überrascht. „Ah! Ich habe einen der Pläne verloren. Geht schon mal vor."
Er lief zurück, Britta war noch im Zimmer. „Entschuldigen Sie, bitte. Ich habe wohl eins der Blätter liegen gelassen." Er merkte, dass er irgendwie ein dämliches Grinsen im Gesicht hatte.
Er lächelt so schön! dachte Britta.
„Ah! Da liegt es ja!" Er tat sehr erleichtert.
Dann schlenderte er sehr langsam nach vorne, setzte sich auf einen der Schülertische vor dem Lehrerpult, sah sie offen an, nahm seinen ganzen Mut zusammen.
Er war ja total aus der Übung beim Anbaggern, Ausmachen von Dates oder wie immer man das heute nennen mochte.
„Würden Sie einmal mit mir zum Abendessen gehen oder zum Kaffeetrinken oder ein wenig spazieren, oder darf ich Sie einmal anrufen?" stieß er hervor.
Britta glaubte, nicht richtig zu hören.
Dieser unglaubliche Mann wollte sich mit ihr treffen?
Gregor hatte im Lehrezimmer erzählt, wie traurig er immer noch über den Tod seiner Frau war, aber dass es aufwärts ging.
Also baggerte er wohl nicht einfach aus Gewohnheit.
Solche Typen hatte sie auch schon kennengelernt, die es halt einfach mal bei jeder Frau versuchten. Eine würde dann schon mal schwach werden.
„Ja! Ja!" stotterte sie.
Hannes lächelte. „Und worauf darf ich hoffen?"
„Abendessen wäre schon in Ordnung!" stieß sie hervor.
„Sehr gut! Passt es Morgen um sieben?" Er wusste nicht, wie ihm geschah.
Aber er wollte diese Frau wiedersehen.
„Ja! Gut!" Mehr brachte sie immer noch nicht heraus.
Er schrieb sich ihre Adresse auf, ging zur Türe hinaus, lief den Gang entlang, tanzte zum Parkplatz. Kurz bevor er die anderen erreichte, fasste er sich.
Britta stand unbeweglich im Klassenzimmer, versuchte ihre Gedanken auf die Reihe zu bekommen.
Plötzlich schoss ihr ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf.
Er war ein Schülervater!
Durfte sie überhaupt mit ihm ausgehen?
Sie lief zum Chef, mit dem man über alles sprechen konnte.
„Na, Frau Malnik? Haben Sie unsere Superstars kennengelernt?"
„Ja, es sind reizenden Kinder!"
„Das war ja bei den Eltern auch anzunehmen!" meinte er.
„Ja, da liegt jetzt eigentlich mein Problem! Eltern! Dr. Maybach hat mich gebeten, morgen mit ihm essen zu gehen. Aber ich weiß jetzt gar nicht, wie es da dienstrechtlich aussieht." Britta kam gleich zur Sache.
Dr. Wagner lächelte sie an. Er mochte die junge Studienrätin. Ein bisschen erinnerte sie ihn an Frau Dr. Mia Leissen.
Nicht so eine Überfliegerin, nicht so genial, aber eine Lehrerin, die die Schüler erreichte, die ihnen Werte vermitteln, ihren Ehrgeiz wecken konnte.
„Da schau ich jetzt gar nicht in den Unterlagen nach. Herr Dr. Maybach ist ein Wohltäter unserer Schule und der ganzen Stadt, ein absolut integrer Mann, der ein schweres Schicksal auszuhalten hatte. Wenn er mit Ihnen ausgehen möchte, darf niemand etwas dagegen haben, sonst bekommt er es mit mir zu tun."
Britta war erleichtert, traf auf dem Gang Gregor. „Warum ist denn der Hannes so glücklich aus deinem Zimmer gekommen?" zog er die junge Kollegin auf. Er bekam ziemlich alles mit, was an der Schule so lief.
Sie grinste ihn nur an. „Keine Ahnung!"
Gregor sah ihr schmunzelnd nach, wie sie zu ihrem Zimmer zurücktänzelte.
Na, das würde ja passen! dachte er. Und es würde mich freuen, für beide!
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