Kapitel 56
Er raste durch die Stadt, die zu seinem Wohnort geworden war, ohne Heimat zu sein, stürzte ins Zimmer seines Therapeuten.
„Ich weiß, wer ich bin! Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich der war, der ich bin!" rief er verzweifelt.
Er zeigte dem Therapeuten die Ausdrucke, erzählte von ein paar vagen Erinnerungen.
Dr. Sandro Borgetti war erleichtert, dass sie einen Durchbruch bei der Identifizierung erreicht hatten.
Er wollte noch einmal versuchen, unter Hypnose Erinnerungen in seinem Patienten zu wecken, mit dem neuem Wissen.
Simon willigte ein.
Und plötzlich sah er einige Bilder.
„Hochzeit!" stieß er hervor. „Wir haben geheiratet! In Italien! Sie war so schön! Ich liebe sie! Sie war schwanger! Wir haben uns so gefreut! Ich habe sie so geliebt!"
Tränen strömten über sein Gesicht, er fühlte den Verlust dieser Liebe körperlich.
Der Arzt holte ihn zurück.
Simon zitterte am ganzen Körper.
„Und jetzt?" fragte er heiser.
Dr. Borgetti sah ihn mitleidig an.
Drei Jahre waren vergangen.
Diese Frau war sehr schön.
Wer wusste, ob sie noch alleine war?
„Wir sollten Kontakt aufnehmen zu den Menschen aus Ihrem Leben!" schlug er vor, wusste aber zugleich, dass es schmerzlich für seinen Patienten werden konnte.
Aber der war Besitzer einer erfolgreichen Firma, hatte wahrscheinlich ein großes Vermögen, das ihm zustand.
Simon befiel Panik. „Und wenn, und wenn sie nicht mehr alleine ist?" stammelte er.
Der Therapeut ließ seinen Blick nicht los. „Dann wissen Sie wenigstens Bescheid. Aber Sie haben eine Tochter, Sie sind wahrscheinlich vermögend."
Bei dem Gedanken an sein Kind wurde es Simon warm ums Herz.
Er hatte hier einen Sohn, dem er sich verweigerte, weil er ihn nicht hatte haben wollen.
In seinem alten Leben hatte er eine Tochter, die er liebte, ohne sie zu kennen.
Der Widerspruch seiner Gefühle zerriss ihn beinahe.
„Soll ich hinfahren? Soll ich anrufen? Soll sie hierherkommen?" Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
Der Arzt dachte lange nach. „Also, ich fände es am besten, wenn ich mit Ihrer Frau sprechen würde. Wenn Sie sich auf neutralem Boden treffen würden. Wenn Sie beide ausloten würden, wie und was Sie fühlen, was Sie beide wollen für die Zukunft."
Simon verbarg das Gesicht in seinen Händen.
Ja, das würde richtig sein.
Er hatte Angst wie noch nie in seinem Leben.
Seine Erinnerungen waren immer noch bruchstückhaft.
Er wusste nicht genau, wie sie war, wie sie sprach, hörte ihre Stimme nicht in seinem Kopf.
Sah nicht ihre Bewegungen, fühlte nur diese Liebe, diese Sehnsucht in sich.
„Ja, rufen Sie bitte an!"
„Aber ich kann kein Deutsch. Ich müsste mir erst einen Übersetzer besorgen!" wandte der Arzt ein.
„Sie spricht fließend Italienisch!" antwortete Simon, und wusste nicht, woher diese Sicherheit kam. Aber er wusste, dass es stimmte.
Dr. Borgetti wählte die Nummer der Firma, die er auf dem Computerausdruck fand.
„Reimon! Dr. Hannes Maybach!" kam vom anderen Ende der Leitung.
„Guten Tag, hier ist Dr. Borgetti. Könnte ich vielleicht Frau Mona Reiser sprechen?" fragte er langsam auf Italienisch, in der Hoffnung, der Gesprächspartner würde genug verstehen.
„Einen Moment bitte, ich verbinde!" antwortete Hannes perfekt in der Sprache des Anrufers.
Er stellte nach oben durch, erklärte Mona, dass ein Doktor aus Italien sie sprechen wollte.
Wahrscheinlich wieder irgend so ein Werbeanruf, dachte sie und wollte das Gespräch schon beinahe ablehnen.
„Stell durch!" meinte sie dann.
„Guten Tag, Signora Reiser!" begrüßte der Anrufer sie, nachdem sie sich gemeldet hatte.
„Signora Reiser, ich bin Psychotherapeut in Bolzano, Dr. Borgetti." stellte er sich vor. „Ich habe eine Information für Sie, die Sie wahrscheinlich sehr aufregen wird."
Mein Gott! dachte Mona. Die quatschen aber jetzt schon einen immer größeren Mist.
„Kommen Sie bitte zur Sache!" forderte sie den Gesprächspartner auf Italienisch auf.
„Also, ich wollte Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann, Dr. Simon Reiser am Leben ist. Er hatte sein Gedächtnis verloren, erinnert sich aber zunehmend an seine Vergangenheit."
„Was?" rief sie mit rasendem Herzen. „Simon? Mein Simon lebt? Kann ich mit ihm sprechen? Wo ist er? Mein Gott! Simon!"
Der Arzt hatte auf Lautsprecher gestellt, Simon liefen die Tränen übers Gesicht.
Ihre Stimme!
Das war ihre Stimme, und plötzlich erinnerte er sich.
Plötzlich war alles wieder da.
Mein Simon hatte sie gesagt.
Sie war noch seine Frau.
Die Stimme seiner Süßen.
Seiner Mona.
Er brauchte keinen neutralen Ort.
Er wollte nach Hause.
Endlich nach Hause, zu der Liebe seines Lebens und zu seiner Tochter.
Er riss dem Therapeuten den Hörer aus der Hand. „Mona? Ich komme nach Hause!" rief er.
„Das wird aber auch Zeit!" antwortetet sie zwischen Lachen und Weinen.
Sie fragte nichts.
Sie fragte nicht, was passiert war, wo er gewesen war, wie er gelebt hatte.
Es war alles egal.
Simon lebte!
Simon kam nach Hause!
Ihr Mann kam nach drei Jahren nach Hause zu ihr und seiner Tochter.
Sie konnte kaum atmen.
Träume ich jetzt wieder? Hatte sie sich wieder in ihren Phantasien verloren?
„Simon, das ist wahr, oder?" flüsterte sie, während die Tränen über ihr Gesicht liefen.
„Ja, Süße! Es ist wahr!" Es war seine Stimme. Sie hörte wirklich seine Stimme.
„Wann kommst du?"
„In ein paar Tagen! Ich muss mit meinem Leben hier abschließen, dann fahre ich los." Eigentlich wollte er sagen: „Morgen!" oder, noch besser: „Jetzt!"
Aber er wusste, dass er jetzt nicht einfach flüchten durfte, jetzt, wo er wusste, wer er war.
Da gab es einen Sohn, da gab es eine Frau, die sich seiner angenommen hatte, als er ein Niemand war.
Einer, der nicht einmal einen Namen hatte.
Frederico Tedesco war hart, grausam und böse gewesen.
Dr. Simon Reiser war anders.
„Wir telefonieren, ja Süße? Ich ruf dich immer wieder an. Jede freie Minute will ich mit dir sprechen, okay?"
„Ja, Simon! Ja!! Wir werden telefonieren! Das ist so viel mehr, als ich in den drei Jahren hatte!" Sie weinte, schluchzte, aber dieses Mal vor Glück. „Ich liebe dich, Simon! Ich liebe dich, wie am ersten Tag!"
Und auch dieser erste Tag war wieder in seiner Erinnerung.
Als er sie besucht hatte, wissen wollte, wer Fabian war, als er sie geküsste hatte.
Die Sehnsucht nach ihren Küssen, nach ihr, schmerzte
„Ich liebe dich auch, Mona! Wie am ersten Tag in deiner Wohnung! Und wie am letzten Tag, nach der Hochzeit. Ich komme heim zu dir. Bald! Endlich!"
Dann legte er auf, weil sein Schluchzen ihm die Stimme nahm.
Dr. Borgetti nahm ihn in den Arm. Er war froh, dass der junge Mann sein Leben zurückbekommen würde.
„Fahren Sie! Regeln Sie Ihre Angelegenheiten, und dann fahren Sie nach Hause." Auch er hatte feuchte Augen.
Er nahm alles Geld, das er bei sich hatte, schob es Simon hin. „Das werden Sie brauchen!" erklärte er.
Ohne zu zögern steckte Simon die Scheine ein. „Sie bekommen es zurück!" versprach er.
„Ich weiß!" sagte der Therapeut nur.
Simon raste los, hielt ein Taxi an, ließ sich zu der Wohnung fahren, in der er mehr als zwei Jahre lang mit Carlotta gelebt hatte, der Frau, die ihm noch so fremd war wie am Anfang, der er aber auch Dank schuldete.
Carlotta bemerkte den veränderten Gesichtsausdruck des Deutschen sofort.
Weg war die starre Maske, die sie in all den Jahren nicht durchdringen hatte können.
Seine hellblauen Augen strahlten sie an, seine schönen Lippen lächelten.
Er hat sich gefunden! schoss es ihr durch den Kopf. Und er hat wohl auch sie gefunden, diese Mona.
Es war nicht richtig gewesen, als sie ihn berührt hatte, damals im Krankenhaus. Aber sie hatte sich verliebt, in dieses schöne Gesicht, in seinen Körper.
Sie hatte gehofft, er könnte sie irgendwann einmal lieben.
Sie hatte mit ihm geschlafen, obwohl sie gemerkt hatte, dass es für ihn nur ein rein körperlicher Akt war.
Ihr letzter Versuch, ihn zu gewinnen, war das Kind gewesen.
Marco, ihr Sohn, den sie liebte, den er aber nicht zur Kenntnis genommen hatte.
Sie hatte gefühlt, dass er nicht lieben konnte.
Nicht, solange er nicht wusste, wer er war, solange er nicht wusste, was für ein Mensch er gewesen war, solange er nicht wusste, wen er früher geliebt hatte.
Aber jetzt wusste er all das.
Er setzte sich auf das Sofa, zog sie neben sich.
„Carlotta, ich heiße Simon Reiser, ich habe eine Informatik-Firma, ich liebe meine Frau, Mona, und wir haben eine Tochter, Leonie. Ich bin zwei Tage nach der Hochzeit mit dem Flugzeug abgestürzt." berichtete er. „Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast. Ich war sehr hart zu dir, aber ich konnte nicht anders, es tut mir leid."
Marco wachte auf und schrie.
Und zum ersten Mal sprang Simon auf und holte seinen Sohn.
Zum ersten Mal sah er ihn an, sah seine eigenen hellblauen Augen, seine Gesichtszüge bei dem Kleinen.
Zum ersten Mal küsste er ihn auf die Wangen, zum ersten Mal atmete er den süßen Baby-Duft ein.
Wieder liefen ihm Tränen übers Gesicht.
„Verzeih mir, Marco!" flüsterte er.
Auch Carlotta weinte, als er mit dem Kind auf dem Arm zurückkam.
Marco lächelte seinen Vater an, griff nach seinen Haaren.
Jetzt! dachte sie. Jetzt, wo er ging, begann er seinen Sohn zu lieben. Was sollte denn nun werden?
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