Kapitel 55
Ein Jahr später fiel Carlotta ihm um den Hals. „Wir bekommen ein Baby!" rief sie glücklich.
Baby? Er wollte kein Baby! Nicht mit dieser fremden Frau!
Baby! Er hatte einmal ein Baby gewollt! Die Erinnerung kratzte an seinem Gehirn.
Mona! Immer öfter kam ihm dieser Name in den Sinn.
Mona und Leonie! Mona und Jonas! Woher kamen diese Namen?
Er sprach nicht mit der fremden Frau darüber, die sein Herz so kalt ließ.
„Du hast doch gesagt, du nimmst die Pille!" fuhr er sie an.
„Ich hab wohl mal eine vergessen!" antwortete sie lächelnd.
„Ich will kein Kind! Ich weiß nicht, wer ich bin! Da kann ich doch nicht Vater werden!"
Er stritt die halbe Nacht mit ihr, wusste aber auch, dass in Italien eine Abtreibung nicht so leicht durchzuführen war, selbst wenn sie zugestimmt hätte, diese fremde Frau, die Carlotta hieß.
Er arbeitete mittlerweile als Gärtner im Krankenhaus, obwohl er sicher war, sich noch nie für Pflanzen interessiert zu haben.
Aber es war kein schlechter Job.
Er war an der frischen Luft, er war weg von Carlotta und er konnte nachdenken.
Mona! Leonie! Jonas! Klavier! Gitarre!
Er wollte nicht mehr bleiben bei Carlotta, bei dieser Frau, die ein Kind von ihm bekommen würde, ein Kind, das er genauso wenig wollte wie die Mutter.
Aber er wusste nicht, wohin er sollte, wohin er gehörte.
Er grübelte und grübelte, lief durch die Stadt, versuchte sich zu erinnern, was ihn interessiert hatte, früher, als er ein Leben gehabt hatte.
Autos?
Sport?
Klamotten?
Frauen?
Männer?
Er sprach fließend Italienisch und Englisch.
Warum?
„Flugzeug" war das nächste Wort, das an die Oberfläche gespült wurde.
War er Pilot?
War er viel geflogen?
Er versuchte sich zu erinnern, quälte sich, fuhr zum Flughafen, wartete auf Bilder, die auftauchen würden in seinem leeren Gehirn, doch es geschah nichts.
„Computer" kam kurz danach. Er sprach mit seinem Therapeuten, den er noch immer wöchentlich besuchte, darüber.
Doch der konnte damit auch nichts anfangen.
Monat für Monat verging.
Carlotta kochte für ihn, er aß, wusste nicht, ob er das Essen, das sie ihm servierte, gemocht hatte in seinem alten Leben, seinem richtigen Leben, seinem Leben, das ausgelöscht war, warum auch immer.
Er war abgelegt worden vor dem Krankenhaus, keiner konnte ihm erklären, warum.
Irgendjemand schien ihn irgendwo gefunden zu haben, wo auch immer.
Aufrufe in den italienischen Tageszeitungen, dass seine Retter sich melden sollten, damit man vom Fundort auf seine Identität schließen konnte, verpufften ergebnislos, obwohl absolute Anonymität zugesichert worden war.
Carina und Luigi lasen zwar die Artikel, hatten aber nicht den Mut, sich zu melden.
Er schlief nicht mehr mit der Frau, die Carlotta hieß. Ihr Bauch wurde dicker, ein Baby kam zur Welt, das er nicht gewollt hatte, das er auch jetzt nicht wollte, genau so wenig wie diese Frau.
Es war ein Junge, den sie Marco nannte.
Er war nicht einmal bei der Taufe dabei.
Er gab ihr fast seinen ganzen Lohn, für sich selbst brauchte er nicht viel, aber er war ekelhaft zu ihr, konnte ihre Anwesenheit kaum noch ertragen, hasste es, wenn das Kind schrie.
Ganz langsam tauchten neue Erinnerungen auf.
Thorsten, Kai, Jan, Simon!
Wer war das?
Woher kamen diese Namen?
Max, sehr stark, wer war Max?
Immer wieder, immer stärker: Mona! Leonie! Jonas!
Ein paar Monate nach der Geburt dieses Kindes, das er nicht gewollt hatte, das er auch kaum beachtete, kam er an einem Internet-Café vorbei.
Magisch angezogen von den Geräten, setzte er sich an einen Computer.
Er gab die Worte aus seinen Erinnerungen in eine Suchmaschine ein, wunderte sich, warum er wusste, was er tun musste.
„Simon, Mona, Flugzeug, Leonie, Jonas, Computer"
Der Blitz traf ihn mit voller Wucht, als er die Ergebnisse durchscrollte.
„Simon Reiser, Besitzer der IT-Firma Reimon, wurde in den Südtiroler Bergen bei einem Flugzeugabsturz getötet. Er hinterlässt seine Frau Mona Reiser!" lautete eine der Meldungen, datiert vom 19. August vor drei Jahren.
Simon Reiser! Er war Simon Reiser, hatte eine Frau namens Mona!
Er suchte weiter, fand eine Nachricht über die Geburt seiner Tochter Leonie am 1. Mai.
Mittlerweile war sie zwei Jahre und sechs Monate alt.
Tränenüberströmt saß er vor dem Schirm.
Aber warum konnte er sich nicht erinnern?
Warum hatte er kein Bild zu diesen Namen?
Er rief das Bildmaterial auf.
Simon Reiser, das war eindeutig er.
Mona Reiser, eine sehr schöne blonde Frau, an die er sich aber nicht erinnern konnte.
Er brach zusammen.
Er war verheiratet mit einer wahren Schönheit, konnte sich aber nicht im Geringsten daran erinnern.
Aber er hatte ein Leben.
Er konnte sein Leben zurückbekommen.
Vielleicht käme die Erinnerung auch wieder.
Vielleicht half ihm die schöne blonde Frau, die Mona hieß, die er aber genau so wenig kannte wie Carlotta.
Vielleicht half es ihm, seine Tochter Leonie zu sehen, die diese Mona bekommen hatte.
Er suchte nach einer Homepage dieser Firma „Reimon".
Auf der ersten Seite war eine Todesanzeige von ihm.
Wir trauern unendlich um unseren FirmengründerDr. Simon Reiser.
Ein Unglück hat ihn aus unserem Leben gerissen.
Keiner wird ihn je ersetzen können!
Simon, der jetzt wusste, dass er Simon hieß und nicht länger Frederico, las, was seine Firma anbot, las von seinen Mitarbeitern, fand Fotos zu den Namen Thorsten, Kai und Jan. Leise Erinnerungen stiegen aus dem Dunkel hoch.
Vier weitere Angestellte, Alex, Bernd, Niklas und Jean waren erst kurz dabei, er konnte sie nicht kennen.
Geschäftsführerin war Mona Reiser, Stellvertreter Dr. Hannes Maybach, auch ein fremder Name.
„Sie scheint eine tüchtige Frau zu sein!" dachte er.
Er druckte einige Seiten aus, auch die Fotos.
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