Kapitel 54

Simon

Als Simon merkte, dass das Flugzeug erst zu stottern und dann zu trudeln begann, versuchte er Ruhe zu bewahren.
Doch er verlor rasch an Höhe, dann setzte der Motor ganz aus.
Unter ihm lag felsiges Gelände.
Der Schweiß strömte über sein Gesicht.

Da sah er das Stück Grün, zog nach unten, landete holprig, bremste mit aller Kraft, merkte aber, dass er das Flugzeug vor der Felswand nicht zum Stehen bringen würde, dass es daran zerschellen würde.
Nein! schrie sein Gehirn. Nein! Mona! Leonie! Jonas! Nein!
Er öffnete die Türe, ließ sich hinausfallen.
Kurz darauf hörte er einen wahnsinnigen Knall.
Er rollte und rollte, stieß mit dem Kopf an etwas sehr Hartes und verlor das Bewusstsein.

Carina und Luigi hatten sich zu einem Date verabredet.
Sie wollten ein wenig an dem kleinen Flusslauf entlang spazieren, sich ein wenig küssen, sich ein wenig liebkosen.
Ihr Ehemann und seine Ehefrau sollten davon nichts mitbekommen. Arm in Arm wanderten sie verliebt dahin, als sie den Mann sahen, der im Gebüsch lag.
Sie liefen zu ihm hin, fühlten den Puls, kontrollierten den Atem.
Er lebte noch!
Fragend sahen sie sich an.
Wenn sie den Notruf wählten, würde man sie über das Handy ausfindig machen können. Sie müssten erklären, warum sie da an dem kleinen Fluss waren. Es würde viele Fragen geben, auch von ihren Ehepartnern, die dachten, dass sie in der Arbeit waren.
Ihr Verhältnis würde auffliegen.

Sie trugen den großen, kräftigen Mann keuchend und schwitzend zu Luigis Wagen, der ihn nach Bozen brachte und vor dem Krankenhaus ablegte, als die Luft rein war.
Der Arzt, der zum Nachtdienst kam, fand den bewusstlosen Mann.
Er alarmierte sofort die Pfleger der Notaufnahme.

Simon kam auf die Intensivstation, wurde zusätzlich mit Sauerstoff versorgt.
Röntgenaufnahmen und CT zeigten, dass er außer Prellungen keine Verletzungen hatte.
Sein Körper war übersät mit Hämatomen.
Intensiv-Schwester Carlotta kümmerte sich in den nächsten Tagen aufopfernd um den Patienten, der einfach nicht aus dem Koma aufwachen wollte.
So ein hübscher junger Mann! dachte sie. Was für ein Schicksal er wohl hinter sich hatte?

Nach einem Monat konnte sie nicht anders. Sie streichelte sein Gesicht, küsste seine wunderbaren Lippen.
Er regte sich, seine Lider flatterten, er sprach zum ersten Mal mit rauer Stimme.
„Mona! Leonie! Mona! Jonas!" flüsterte er und lächelte.

Eifersucht durchfuhr Carlotta.
Mona?
Leonie?
Jonas?
Wer war das?
Seine Frau?
Seine Tochter?
Sein Sohn?

Sie wollte niemandem etwas davon erzählen, dass er gesprochen hatte.
Sie wusste, dass das nicht richtig war, aber sie wollte den schönen Mann noch nicht hergeben.
Wollte noch eine Weile von ihm träumen.

Am nächsten Tag rief der Arzt sie zu sich. „Hat der Patient reagiert?" fragte er.
„Nein! Alles war wie immer!" versicherte sie.
„Die Aufzeichnungen der Gehirnströme zeigen eine Veränderung!" wandte der Arzt ein.
„Ich habe nichts bemerkt!"
Sie wollte diesen hübschen Mann noch eine Weile für sich.

In den folgenden Tagen tauchte Simon immer öfter aus dem zähen Schwarz auf, das ihn umfangen hielt.
Aber er wusste nicht, wo er war, und was viel schlimmer war, er wusste nicht, wer er war.
Da war eine Frau, die ihn wusch, ihn frisch anzog, die ihn streichelte und küsste.
Es gefiel ihm nicht, dass diese Frau da war, er mochte es nicht, wenn sie ihn küsste, es war falsch.
Er wusste aber nicht, warum, und er konnte sich nicht wehren.

Seine klaren Momente wurden länger. Ärzte und Therapeuten sprachen mit ihm, suchten nach Antworten.
Doch er konnte keine Antwort geben, er erinnerte sich an nichts.
Nach Wochen konnte er aufstehen, sich duschen, war froh, dass diese fremde Frau ihn nicht mehr berührte.
Nach und nach begann er an Geräten zu trainieren, bekam seine Kraft zurück, aber sein Gedächtnis war leer.
Die Therapeuten waren sich sicher, dass er Deutscher war. Er sprach zwar auch fließend Italienisch, aber gewisse Feinheiten fehlten. Deutsch dagegen sprach er fehlerlos, flüssig und geschliffen.

Sie nannten ihn Frederico Tedesco, Friedrich, den Deutschen, weil Fritz ihnen als der typischste deutsche Name erschien.
Er wurde unter Hypnose gesetzt - nichts!
In jeder freien Minute zermarterte er sich sein Gehirn nach irgendeinem Erinnerungsfetzen.
Doch da war nur schwarze Leere.
Nach drei Monaten sollte er entlassen werden, die Ärzte wussten aber nicht, wohin er gehen sollte.
Die Polizei recherchierte in Deutschland nach vermissten Personen, erreichte keinerlei Ergebnis.

„Ich hätte ein Zimmer für dich frei!" schlug die fremde Frau, die Carlotta hieß, wie er mittlerweile wusste, vor.
Er wollte raus aus dem Krankenhaus.
Vielleicht erinnere ich mich, wenn ich wieder am Leben teilnehme! dachte er.
Vielleicht erfahre ich draußen endlich etwas über mich.
Deshalb nahm er ihren Vorschlag an.

Immer wieder träumte er von einer blonden Frau, deren Gesicht er nicht festhalten konnte, nicht zu einem Bild in seinem Kopf formen konnte, und einem Baby, dessen Gesicht er gar nicht sah.
„Mona, Leonie! Jonas!" rief er dann immer laut.
Carlotta weinte jedes Mal, hielt seine Hand, streichelte ihn.

Langsam war ihm ihre Berührung nicht mehr so fremd.
Langsam ließ er ihr Streicheln zu, merkte, wie es ihn erregte, fühlte aber in seinem Herzen nichts.
Nach Wochen zog er sie ins Bett, als sie ihn wieder einmal so berührte, drang in sie ein, stöhnte auf.

Sie hatte ihm Befriedigung geschenkt, aber es war ein leeres, rein körperliches Gefühl gewesen.
Er hatte auch nichts für sie getan, erinnerte sich vage, dass das einmal anders gewesen war, aber er wollte das nicht.

Er wollte Carlotta nicht berühren, wollte ihr nicht gut tun, wollte sie nur zur Befriedigung seiner Bedürfnisse.

Sie sprachen kaum miteinander.
Er wollte nicht reden mit dieser Frau, die er nicht kannte, nicht wollte, nicht kennenlernen wollte.
Er hatte keine Ahnung, welcher Typ von Frauen ihm gefallen hatte, aber kleine, dralle, dunkelhaarige waren es wohl nicht gewesen.

Er hatte auch keine Themen für eine Unterhaltung, weil er sich nicht erinnern konnte, was ihm einmal wichtig gewesen war.
Er las viel, aber sie hatte nur Liebesromane, die ihn nur begrenzt begeisterten. Doch es verging Zeit, in der er nicht sprechen musste.

Er wusste, er war undankbar. Sie hatte ihn aufgenommen, aber er konnte ihr einfach keine Gefühle entgegenbringen. Sie war so anders.
So anders als wer? fragte er sich immer wieder.
Gab es jemanden in seinem Leben? Die blonde Frau? Wartete jemand auf ihn? Weinte jemand um ihn?

Wenn Klaviermusik aus dem Radio kam, schlug sein Herz schneller.
Hatte er diese Töne früher geliebt?
Er konnte sich nicht erinnern.
Mozart! sagte der Sprecher im Sender.
Mozart gefiel ihm besonders gut!
Warum?
Gitarrenmusik liebte er auch.
Weshalb?
Er zermarterte sich das Gehirn, nichts tauchte auf, keine Erinnerung, die er festhalten konnte, rettete ihn.


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