Kapitel 77

„Hannes!" rief sie entsetzt aus dem Bad.
Er stürmte zu ihr, sah, dass die Fruchtblase geplatzt war. Sie kniete auf den kalten Fliesen, die Wehen hatten sofort eingesetzt.
Er fiel neben ihr auf die Knie, hielt sie im Arm, wählte die Notrufnummer, es kam nur das Besetztzeichen.

Panisch rief er bei seinem Vater an. Keiner hob ab, das Festnetz war zusammengebrochen. Er wählte die Handynummer. „Das Baby kommt!" rief er, während Mia vor Schmerzen schrie.
„Der Notruf ist dauernd besetzt!"
Dr. Peter Maybach war entsetzt. Er war gerade vor der Türe gewesen, man konnte keinen Schritt machen, alles war spiegelglatt.

„Ich ziehe Schneeketten auf und komme! Dann bringen wir Mia ins Krankenhaus! Probier's aber weiter bei der Rettung!"
Hannes küsste Mia, wählte, legte auf, versuchte sie zum Aufstehen zu bringen, schaffte es schließlich, er konnte sie aufs Sofa legen. Er wählte, besetzt!
„Papa kommt, bringt dich in die Klinik, Süße!" keuchte er in einen ihrer Schreie. „Atme bitte, atme ruhig! Atme mit der Wehe!" So hatten sie es gelernt.

Mia versuchte es, aber die Schmerzen vernebelten ihr Gehirn. Sie wusste nicht mehr, wie atmen ging, sie konnte nur noch brüllen.
Hannes liefen die Tränen übers Gesicht, er wählte, und wählte. Nichts!

Peter krabbelte auf allen Vieren zu Garage, zog die Schneeketten auf, holte Helena vor der Haustüre ab. Das Auto ließ sich einigermaßen bewegen, zwar langsam, aber immerhin.
Er befestigte sicherheitshalber das mobile Blaulicht auf dem Dach, schaltete das blinkende Schild „Arzt im Einsatz" ein.

Als sie die Hauptstraße erreichten, sahen sie das Chaos. Querstehende Autos, Lastwagen, Busse.
Es gab kein Durchkommen. Er hupte wie verrückt, andere Fahrer zeigten ihm den Vogel, sahen das Blaulicht, versuchten, ein wenig Platz zu schaffen, ein paar Meter Raumgewinn gab das, aber es half nichts, die Straße war dicht.

Er wählte Hannes Nummer, gab das Telefon seiner Frau.
„Wir kommen nicht durch!" gestand seine Mutter unter Tränen.
Hannes fluchte: „Verdammt! Verdammt!"
Mia schrie, Helena blieb das Herz stehen. Peter hatte den Schrei gehört, versuchte noch einmal durch Hupen ein wenig vorwärtszukommen.
Aussichtslos!

Hannes war verzweifelt. Er flehte Mia an zu atmen, sie war schneeweiß, die Augen wollten wegkippen.
Er rief noch einmal bei seinem Vater an. „Sie kollabiert! Was soll ich denn tun? Soll ich sie ohnmächtig werden lassen, damit sie nichts mehr spürt?"
„Nein! Auf keinen Fall!" schrie Dr. Maybach zurück. „Du musst sie auf alle Fälle wach halten!"

Hannes schüttelte sein Mädchen, klatschte ihr ins Gesicht. Sie sah ihn böse an.
„Ja, Kleine! Sei sauer auf mit! Hasse mich! Aber bleib wach! Ich werde dich so lange ärgern, bis du mir nicht mehr wegkippen willst!"
Er wählte wieder und wieder die Nummer des Notdienstes. Endlich meldete sich jemand.
Er brüllte seine ganze Angst ins Telefon. Der Mann am anderen Ende lachte nur. „Keine Chance, junger Mann! Da kommt nichts durch heute. Nicht einmal der Streudienst."
Er notierte sich aber trotzdem seine Adresse, falls es überraschend Tauwetter geben würde.

Hannes klammert sich an diesen kleinen Strohhalm.
Es wird tauen!
Es muss tauen!
Es muss!
Es muss!
Er gab Mia zu trinken, hielt sie fest, wenn eine Wehe sie überspülte, küsste sie im ganzen Gesicht, sprach ihr Mut zu, erzählte Geschichten und Anekdoten aus ihrer Vergangenheit, um sie abzulenken, klatschte ihr ins Gesicht, wenn sie wegkippen wollte.

Draußen wurde es dunkel, er wusste nicht, wie lange sie schon hier lag und litt.
Sie ließ sich immer schwerer wachhalten, hatte kaum noch Kraft zu schreien, wimmerte nur noch, sah ihn mit flehenden Augen an.
„Hilf mir doch!" bat dieser Blick.
Endlich läutete es an der Türe. Er drückte auf den Türöffner, die Sanitäter und der Notarzt rasten herauf.

In diesem Augenblick gab Mia auf.
Sie konnte keine Sekunde mehr diesen Schmerz ertragen.
Mit Blaulicht und Martinshorn raste der Sanka durch die Stadt. Es herrschte zwar immer noch Chaos auf den Straßen, aber das Eis war etwas sulziger geworden.
Der Notarzt versuchte, Mia wach zu bekommen.

Einmal noch sah sie Hannes in die Augen, und er sah in diesem Blick nur Liebe, keinen Vorwurf.
Aber er wusste in diesem Moment, dass es ein Abschiedsblick gewesen war.
„Nein!" brüllte er. „Bleib bei mir! Nein!" Er schüttelte sie, nur ein einziges Mal musste sie noch aufwachen, dann würde alles gut!

Die Sanitäter brachten Mia in den OP, sie hatten per Funk schon ihre Anweisungen bekommen.
Peter sah Mia an, wusste, dass es zu spät war. Er führte eine Not-OP durch, um das Kind zu retten.

Als er die Nabelschnur durchschnitt, hörte Mias Herz auf zu schlagen.
Das Team versuchte mit allen Mitteln, sie wiederzubeleben, alle wussten aber auch, dass es sinnlos war.

Ein Hirnschlag hatte eine Blutung ausgelöst, hatte die Schwiegertochter des Chefs getötet.
Der Kinderarzt untersuchte den Jungen, 41 Zentimeter groß, 4435 Gramm schwer.
Die Schwester wusch und wickelte den kräftigen Kerl. So ein hübsches Kind! dachte sie.

Peter trat auf den Gang, Hannes sprang auf, sah ihn mit verweinten Augen fragend an.
Der Vater schüttelte nur den Kopf.
Sein Sohn brach nicht zusammen, er erstarrte zu Eis.
Er wollte ihn in den Arm nehmen, Hannes stieß in weg, genauso wie seine Mutter, die nachgekommen war.
Er drehte sich um und ging langsam den Gang hinunter.
„Willst du deinen Sohn denn nicht sehen?" rief Helena ihm nach.

„Nein! Er hat sie umgebracht! Ich habe sie umgebracht!" stieß Hannes hervor und ging weiter.

Er wusste nicht, wie er in die Wohnung gekommen war.
In seinem Kopf dröhnten immer die gleichen Worte: „Aus! Vorbei! Das Leben ist vorbei! Ich habe sie umgebracht!"

Er handelte wie ein Roboter, setzte sich an den Computer, verfasste ein paar Schreiben, druckte sie aus, setzte seine Unterschrift darunter, legte alle Blätter auf den Esstisch.
Er holte alles Bargeld aus dem Safe, eine hohe Summe, die er immer gerne zur Verfügung hatte, packte eine Reisetasche, schloss die Türe.

Er hielt kurz inne, ging noch einmal zurück, holte Mias Gedichtbände, steckte sie zu den Klamotten. Auf ihrem Nachttisch lag die Kette, die er ihr zu ihrem 29. Geburtstag geschenkt hatte. Nur einen einzigen Saphir hatte er noch einsetzen lassen können, und er hatte doch gehofft, dass das Collier nicht ausreichen würde! Dass er das Armband noch brauchen würde für ihre gemeinsamen Jahre.
Dann verließ er das Haus, taub und blind an Herz, Seele und Körper.

Er würde nicht wieder zurückkommen, das wusste er.
Er setzte sich in sein Auto, ein Wärmeeinbruch hatte das Eis verschwinden lassen.
Bitter lachte er auf, als er es bemerkte.
Er fuhr die ganze Nacht, tankte, trank einen Kaffee, hatte aufgehört zu denken.
Er wusste nicht, wohin er wollte, wusste nur, dass er weit genug weg musste von diesem Schmerz. Doch wo war weit genug?

Irgendwann am nächsten Tag passierte er die Stadtgrenze von Paris. Er kaufte sich eine Flasche Calvados und eine Schachtel Zigaretten, fuhr in die City, stellte sein Auto in ein Parkhaus, suchte zu Fuß nach einem Hotel.
Der Portier sah den jungen Mann ein wenig misstrauisch an. Er sah zwar gut aus, war teuer gekleidet, aber das verweinte Gesicht, die leeren Augen konnten durchaus Ärger bedeuten.

Er gab ihm eines der einfacheren Zimmer, ließ ihn für eine Woche im Voraus bezahlen. Sicher ist sicher! dachte er.

Hannes waren die Blicke so egal wie das Zimmer. Er wollte nur einen Schlüssel, mit dem er eine Türe hinter sich zuschließen konnte.
Und als das geschafft war, ließ er endlich Tränen zu, ließ er Gedanken zu, ließ er Erinnerungen zu, hoffte, dass sie ihn umbringen würden, hoffte, dass sie ihn so quälen würden, wie seine Mia gequält worden war, bis ihr Herz aufgehört hatte zu schlagen.

Er hielt die Flasche in der Hand. Aber der Alkohol würde ihm Vergessen schenken, würde seinen Schmerz erleichtern, und das durfte er nicht zulassen.
Sie hatte auch keine Erleichterung bekommen.
Er durfte diesen leichten Weg nicht gehen.
Er rauchte eine Zigarette, sie schmeckte scheußlich, er hatte fast neun Monate lang nicht geraucht.
Er zündete sich gleich die nächste an, musste husten.
Das war gut!

Er holte sein Handy, schaltete es ein. Es begann augenblicklich zu läuten, sein Vater. Er drückte ihn weg, sah bei den Nachrichten nach. 21 Anrufe waren angekommen, 21 Bitten um Rückruf waren auf der Mailbox.
Aber er wollte mit niemandem sprechen.
Sie würden versuchen, ihn zu trösten, und er wollte keinen Trost.

Es gab keinen Trost.

Peter und Helena befiel eine schreckliche Angst um ihren Sohn. Sie versuchten ihn auf dem Handy zu erreichen, es war ausgeschaltet. Sie riefen Markus an, der über Silvester mit Sarah nach Ibiza geflogen war.
Dieses Mädchen mit ihren Partys! dachte Helena wütend.
Wenn sie dagewesen wären, vielleicht hätten sie Mia retten können.

Markus war am Boden zerstört, versprach, so schnell wie möglich zurückzukommen.
Die Eltern fuhren zu Mias Eltern, versuchten, ihnen so schonend wie möglich beizubringen, was passiert war. Auch sie brachen zusammen. Carla und Robert kamen, alle weinten sich zusammen einen Teil ihres Schmerzes von der Seele.

Dann wollten sie in Hannes Wohnung, nachsehen, ob er dort alleine war.
Doch alles war dunkel und leer. Sie fanden die Briefe auf dem Tisch, alles Anweisungen an Markus zu den Häusern, Vollmachten über seine Konten und eine allgemeine Geschäftsvollmacht.

Kein Wort über sein Kind.
Zuunterst lag ein Schreiben. Habt keine Angst, dass ich mich umbringe. Diesen leichten Weg darf ich nicht gehen. Ich werde weiteratmen, aber mein Leben ist zu Ende. Ich liebe euch. Hannes stand da.

Die beiden hielten sich umklammert, fühlten körperlich den Schmerz des Sohnes, waren aber auch erleichtert, das er Selbstmord ausgeschlossen hatte.
Solange er nur am Leben blieb, bestand die Chance, dass er über den Verlust wegkam.
Sie versuchten in den kommenden Stunden immer wieder, ihn zu erreichen.
Als er am nächsten Morgen das Gespräch wegdrückte, wussten sie wenigstens sicher, dass er noch lebte.
Da beschlossen sie, ihm Zeit zu geben.
Sie mussten sich um seinen Sohn kümmern, irgendwann würde sein Vater ihm und sich verzeihen können.


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