Kapitel 60

Irgendwann an diesem Tag schafften sie es, mit dem Lift nach unten zu fahren und zum Essen zu gehen. Sie wollten noch einmal in das Lokal von vorgestern, da hatte es schon sehr gut geschmeckt! Die Preise waren zwar fast dekadent, aber die Stimmung und der Service wunderbar.

Sie saßen dann noch lange auf ihrer Terrasse, sahen in den französischen Sternenhimmel, bedankten sich bei allen Mächten des Universums für ihr Glück.
„Schreibst du eigentlich ein neues Buch?" fragte Hannes.
„Ich weiß es nicht! Ich habe was angefangen, aber es läuft nicht so richtig!"
„Erzählst du mir die Story?"

„Das ist noch ein wenig wirr. Eine Frau stirbt bei der Geburt der Tochter. Der Vater, ein Germanistikprofessor, geht als Aussteiger nach Lanzarote, um den Schmerz zu verarbeiten, schreibt einen Roman, der ein Welterfolg wird. Er verliebt sich auch wieder neu. Als die Frau schwanger wird, verlässt er sie und die Insel, weil er sicher ist, einen solchen  Schmerz nicht ein zweites Mal überleben zu können. Zwanzig Jahre später trifft er eine junge Frau, die ihm von Anfang an vertraut vorkommt. Er verliebt sich, dann stellt sich heraus, dass sie seine Tochter ist."

„Hu! Komplizierter Plott!"
„Aber da muss man aufpassen, dass es nicht sülzig wird!"
„Also ich denke mal, das schaffst du schon! Du kannst sehr gut unterscheiden zwischen gefühlvoll und kitschig!"
„Du meinst, ich soll's probieren?"

„Ich meine, es sollte dein Ziel sein, das hinzukriegen! Aber wie bitte kommt man auf so eine Idee, Süße?"
„Das war ganz plötzlich da in meinem Kopf! Wir sind auf Lanzarote ein paar Serpentinen gefahren, da gab es in einer Kurve so etwas wie ein Grundstück mit einer Hütte drauf! Ein Wahnsinnsblick auf das Meer, aber halt direkt in der Kurve der Straße. Da hab ich überlegt, wer da wohl wohnen könnte, hab mir eine Person ausgedacht, dann brauchte ich einen Grund, warum der da lebt und so weiter!"

Hannes schüttelte lächelnd mit dem Kopf. Wer um alles in der Welt denkt sich so eine Geschichte aus, wenn er eine Hütte in einer Serpentine auf Lanzarote sieht?
„Und dann sagen die Leute wieder: So ein Talent, oder? Und du wunderst dich, du hast dir doch nur eine Geschichte ausgedacht!" Er nahm seine wunderschöne Dichterin in den Arm.

Mannomann, hatte er sich da einen Käfer eingefangen auf diesem Ball! Seitdem war sein Leben eine einzige Achterbahn, die ständig nach oben fuhr, manchmal so hoch, dass die Luft so dünn wurde, dass er kaum noch atmen konnte!

Wer hätte das gedacht, was diese Frau, in deren Lächeln er sich so sehr verliebt hatte im Februar, unter deren Verlust er zwei Tage lang so sehr gelitten hatte, die ihm nachgelaufen war, weil sie es hasste, wenn Versprechen nicht eingehalten wurden, die ihn zur Rede stellen wollte, nicht quälen, wie er kurz befürchtet hatte, was dieses Mädchen für ihn werden sollte?

Wie hätte er denn verstehen sollen, damals in der Halle, als er ihr zusah, wie sie mit den Männern flirtete, wie ihre Locken flogen, als ihre Augen ihn anblitzten, wie viel sie ihm kurz darauf bedeuten würde?
Das Leben, die Liebe, die Welt! Sinnlichkeit, Lachen ohne Ende, unfassbares Glück, intelligente Unterhaltungen!

Sie hatte aus dem großen Jungen, der gerne am Computer mit Programmen spielte und auch mal gerne mit Frauen, einen Mann gemacht, der Ziele hatte, und den sie auf dem Weg dahin begleiten würde. Dieses Mädchen mit den blonden, langen Locken, deren Worte immer wieder ein bisschen die Welt verändern konnten, in der Schule, in der Familie, im Leben! Worte, die retteten, aufbauten, zusammenfalteten, erzogen, vernichteten – er vermutete, dass Thomas letzteres erfahren hatte, damals im Krankenhaus!

Sie sah aus wie ein Püppchen, goldig, süß!
Aber sie war eine Kämpferin für ihr größtes Ziel, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, vor allem für die, die nicht als Engel geboren waren wie sie.

Sie hatte viele Jahre nahe der Hölle verbracht, aber sie hatte nie aufgegeben, war immer der Engel geblieben, als der sie geboren war! Ein paar Tränen ließen sich nicht zurückhalten, liefen seine Wange hinunter, und er ließ sie laufen.

Mia saß auf ihrem Stuhl in seinen Armen. Ihre Gedanken gingen auf die Reise in die Vergangenheit. Sie war geschwommen in einem Ozean aus irgendeiner zähen Flüssigkeit, viele Jahre lang, hatte gewusst, es war falsch, in diesem Ozean zu sein, aber es war niemand da, der ihr heraus geholfen hätte.
Doch da war der Leuchtturm gewesen, sie hatte ihn die ganze Zeit vor Augen gehabt, hatte gewusst, sie müsste ihn erreichen, denn da wartete das Glück auf sie.

Irgendwie hatte sie geahnt, gefühlt nach diesem Faschingsball, dass der Mann, der so zärtlich zu ihr gewesen war an diesem Abend, etwas mit ihrem Ziel zu tun hatte. Das war nicht nur ein verschmuster Abend gewesen! Er hatte nicht nur ein Abenteuer gesucht, eine Frau für die Nacht! Dafür war er zu geduldig mit ihr, zu einfühlsam mit seinen Worten!
Darum hatte sie so vollkommen untypisch für sie gehandelt, war in diese Disco gefahren, wollte ihren Leuchtturm unbedingt erreichen!

Und wenn sie es nicht schaffte, musste sie wenigstens erfahren, warum es nicht möglich war. Sie hatte den richtigen Weg eingeschlagen, denn ihr Ziel war immer Hannes gewesen! Er half ihr, das Hauptziel ihres Lebens zu erreichen, die Welt mit vielen Kleinigkeiten ein wenig besser, ein wenig gerechter zu machen!

Die Gedanken in ihrem Kopf formten sich zu Sätzen, die Sätze zu einem Gedicht. Sie sprang auf. „Ich muss schnell etwas aufschreiben!" sagte sie und lief nach unten.
„Natürlich!" sagte Hannes. „Natürlich musst du etwas aufschreiben, mein Engel!" Aber diese Worte hörte sie schon nicht mehr.

Er rauchte eine Zigarette, trank noch ein Glas Wein, ging nach unten. Sie saß im Bett, die Zunge zwischen den Lippen, und schrieb wie im Fieber. Dann atmete sie tief ein und aus, hielt ihm das Heft hin.
Er las vom Ozean, vom Leuchtturm, von ihr, von ihm – und er verstand jedes Wort! Und er liebte jedes Wort, und er liebte sie, über alle Ozeane hinweg, denn sie war sein Leben, wie er ihres war!

Sie würden es wohl nie fassen können, was auf diesem Ball und an diesem Montag danach mit ihnen geschehen war, würden nie ihr unbeschreibliches Glück begreifen können, aber das war in Ordnung. Das Staunen sollte in ihrem Leben bleiben!
Sie liebten sich in dieser Nacht, als wäre es das erste Mal. Als hätte sie den Leuchtturm gerade erreicht, als hätte er dieses schöne Mädchen gerade erobert. Vorsichtig, sanft, zärtlich, hingebungsvoll. 

Er wollte ihr zeigen, wie schön es sein konnte, sich von ihm lieben zu lassen, sie wollte ihm zeigen, wie sehr sie es wollte, sich von ihm lieben zu lassen! Das Leben, die Liebe waren wundervoll, unbeschreiblich, unglaublich wundervoll!
„Ich liebe dich wahnsinnig, süße Mia!" flüsterte er, bevor sie beide engumschlungen einschliefen.

Am nächsten Tag war der erste Schultag. Hannes hatte wie jeden Tag, seit sie sich kannten, Frühstück gemacht. Schließlich musste er ja nie so pünktlich wie sie aus dem Haus. Außerdem genoss er es immer noch sehr, zwei Teller auf den Tisch zu stellen, zwei Tassen Kaffee aufzubrühen, Brote für zwei zu machen.
Er hatte mit dem Concierge etwa ausgeheckt, hatte dem netten Herrn in seinem Schulfranzösisch erklärt, was er bitte für ihn tun sollte.

Als das deutsche Paar aus dem Aufzug trat, brachte er Hannes das Gewünschte: Eine Schultüte, die der Mann selbst hatte basteln müssen, da es diesen Brauch in Frankreich nicht gab. Er hatte sich extra viel Mühe gegeben für die reizende Madame. Seine Frau hatte ihm geholfen, in Zeitschriften nach Engeln und Herzen zu suchen, womit die Tüte beklebt war. Dann hatte er sie mit Folie überzogen, es war wirklich ein Kunstwerk geworden.

Gefüllt hatte er sie mit Süßigkeiten, Knabbersachen, einer Engelfigur aus Plüsch, Heften und Stiften und einer wertvollen Uhr, die Mia aber erst am Nachmittag entdeckte. Hannes hatte ihm ein paar große Scheine in die Hand gedrückt, dankbar, dass der Concierge ihm helfen wollte, sein Süße zu überraschen.

Mia fiel aus allen Wolken, musste erst einmal lange lachen, dann ein paar Tränen vergießen. Sie fiel dem Concierge um den Hals, dann ihrem verrückten Hannes. Beide Männer lächelten sich zu, freuten sich, dass die Überraschung gelungen war. Der Mann wollte Hannes das Restgeld zustecken, der winkte ab.

So fuhren zwei Verliebte, die drei Nationen in ihren Genen hatten, mit der Metro zur Schule. Hannes wollte sie unbedingt begleiten. Am Schultor verabschiedete er sich schweren Herzens, sah ihr nach, wie sie mit ihrer Schultüte wippend zur Türe ging, sich noch mal umdrehte, ihm eine Kusshand zuwarf, ihre Hand aufs Herz legte.
„Ich liebe dich auch , süße Mia!" dachte er glücklich, fuhr glücklich in ihr Zuhause auf Zeit, arbeitete ein bisschen, träumte ein bisschen, las ihre Gedichte, träumte wieder ein bisschen, arbeitete schließlich konzentriert weiter.

Mia erwartete im Foyer die nächste Überraschung. Alle Schüler hatten sich versammelt, doch es herrschte eine Ruhe, wie sie in Deutschland nie möglich wäre. Die Klassensprecher überreichten ihr je eine rote Rose, hießen sie willkommen. Der Chef hielt eine kleine Ansprache, erklärte den Schülern, wo sie herkam, dass sie einen Doktortitel in Germanistik und ein Diplom in Mathematik habe und warum sie in diesem Schuljahr in Paris unterrichtete.
Dann übergab er das Mikro an Mia.

In perfektem Französisch bedankte sie sich für den netten Empfang, erklärte lachend die Sache mit der Schultüte, erklärte, wie sehr sie sich auf die Schüler freute. Sie würde eine Abiturklasse in Deutsch und Mathe unterrichten, eine zehnte in Deutsch, eine elfte in Mathematik. Mehr Stunden brauchte sie nicht zu halten.

Sie wandte sich an ihre neuen Klassen. „Ich sehe vielleicht aus, als könnten Sie mich leicht um den Finger wickeln, aber ich warne Sie!" sagte sie lächelnd. „Ich verlange viel! Ich verlange höchsten Einsatz für die Schule, weil es um Ihre Zukunft geht, und da gibt es keine Kompromisse! Jeder in Ihrem Alter ist sich selbst verpflichtet, das Beste zu erreichen, weil Sie alle Voraussetzungen dafür haben! Und das Wichtigste: Bleiben Sie neugierig, auf das Leben, auf die Zukunft! Auf das, was Sie erreichen können!"
Die Schüler begannen Beifall zu spenden, der, als ihre Worte zu ihnen durchgedrungen waren, frenetisch wurde.

Monsieur Calsow sah sie lächelnd an. Mit Worten hatte sie es drauf, das hatte er beim Empfang schon zu spüren bekommen! Und um den Finger wickeln konnte dieses zierliche Persönchen mit den großen saphirblauen Augen mit Sicherheit auch niemand! Da hatte seine Schule einen Glücksgriff gemacht, wenn auch nur für ein Jahr.

Mias Rede erschien wieder in den Tageszeitungen von Paris, ein Foto dazu hatte die Schule geliefert. Le Monde brachte einen Artikel über ihren Werdegang in Deutschland mit Fotos aus ihrer Regensburger Schule. Kollegen und Schüler wurden zitiert, die sie alle in den höchsten Tönen lobten. Man hatte offensichtlich in ihrer Heimatstadt recherchiert!
Paris war dabei, sich in eine deutsche Studienrätin zu verlieben, was umso leichter fiel, da sie halbe Französin war.

Am ersten Schultag war noch Klassleiterunterricht, sie konnte sich mit ihrem Kollegen aus den Parallelklassen besprechen. Sein Stundenplan war genau an ihren angepasst worden, so dass sie nur mit einem Kollegen kooperieren musste. Er war sehr nett, ihr französischer Gregor, der allerding Jean hieß.

Kollegen hatten ihn im Vorfeld gehänselt, dass ausgerechnet er sich um die Deutsche kümmern musste. Nach dem Empfang konnte er die anderen aufziehen, weil sie alles getan hatten, um diesen Jackpot nicht zu gewinnen!
Mia stellte mit Erleichterung fest, dass Jean nicht versuchte, sie anzuflirten. Seine Frau Claudine unterrichtete am gleichen Gymnasium in der Unterstufe, und die beiden schienen noch sehr verliebt zu sein.

Auffällig für Mia war die Ruhe, die in der französischen Schule herrschte. Als sie es ansprach, erklärte Jean: „Wir haben schon seit vielen Jahren die Ganztagesschule, also von 9 bis 16.00. Wenn unsere Kinder so laut wären wie eure, wären wir schon alle im Irrenhaus! Also müssen wir die Kinder erziehen, Rücksicht zu nehmen, auch auf die Lehrer!"
Sie besprachen die Wochenpläne, Mia berichtete von ihren Erfahrungen mit dem Freien Schreiben, erzählte auch von Hannes und seinen Korrekturprogrammen, die auf großes Interesse stießen.

Um zwölf Uhr war Schulschluss. Jean und Claudine begleiteten Mia zur Metrostation. Ein wenig erschöpft kam sie um halb ein Uhr bei Hannes an.
„Ah, meine Süße ist endlich wieder da!" Er nahm sie fest in den Arm, er hatte sie wirklich sehr vermisst. Die letzten Wochen waren sie praktisch 24 Stunden am Tag zusammen gewesen!
„Kaffee?"
„Einen Liter!"
„Etwas zu essen?"
„Nein, danke!"

Hannes lächelte. Er hatte das totale deja vu, erinnerte sich an ihren ersten Schultag nach den Faschingsferien, als er noch so nervös darauf bedacht war, alles richtig zu machen.
Er wusste nicht, was sie gerne aß, ob sie mittags überhaupt etwas aß, ob sie Ruhe brauchte nach dem Unterricht, ob sie sich unterhalten wollte.

Er war nur sicher gewesen, dass er sie wahnsinnig liebte, hatte schon auch gespürt, dass sie ihn liebte, hatte aber keine Ahnung gehabt, wie belastbar diese Liebe war, ob sie belastbar war!
Auch Mia lächelte. „Diese Unterhaltung hatten wir doch schon mal?"
„Ich weiß!" flüsterte er und nahm sie in den Arm. Auch sie hatte sich erinnert!
„Mein Gott! Damals war alles noch so neu! Ich hatte oft die totale Panik, dass alles so schnell vorbeisein könnte, wie es angefangen hat! Dass du genug haben würdest von mir und meinen ganzen Problemen!" stöhnte sie.
„Meinst du, ich hatte keine Angst?"
„Echt jetzt?"

Sie hatten nie über ihre Ängste gesprochen, das Glück, das sie überschwemmt hatte wie ein Tsunami, könnte vergehen.
Heute konnten sie es, in einer fremden Stadt, in die ein wunderbares Schicksal sie gespült hatte. Sie konnten sogar darüber lachen, heute, mit all der Sicherheit in ihren Herzen.
Sie waren sich wieder ein Stück näher gekommen.

Danach erzählte sie ihm von ihrem ersten Tag, von der Ruhe, die in dem Schulhaus herrschte, von ihrem Kooperationskollegen.
„Das ist ein zweiter Gregor! Der wir dir auch gefallen!" Sie erzählte von dem netten Empfang, von dem, was sie den Schülern gesagt hatte. Er platzte wieder einmal vor Stolz auf seine schöne Philosophin!

Dann packte sie die Schultüte aus, fand die Designeruhr, bekam den Mund nicht mehr zu. „Wo kommt denn die her?"
„Ich habe ein wenig im Internet nachgesehen, dann habe ich den Concierge gebeten, danach zu suchen!"
„Einen Tag ohne Überraschung überlebst du wohl nicht, mein verrückter Ehemann?"
„Never!" sagte er nur. Dann verfingen sich ihre Blicke wieder einmal ineinander und wie so oft, konnten sie sie erst sehr viel später voneinander lösen, ihre Blicke und ihre Körper.


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