Kapitel 3
Hannes lehnte an der Säule.
Er hatte sie sofort erkannt, als sie hereinkam.
Fluchtartig wollte er die Disco verlassen.
Er war stocksauer auf sie.
Den ganzen Abend auf dem Ball hatte er sie von den anderen Männern weglotsen müssen, hatte sich heftig in sie verliebt, hatte sich von seiner Freundin getrennt wegen ihr, hatte sie gebeten zu bleiben, nur um von ihrem Schwager - oder wer auch immer der Typ war - zu erfahren, dass sie verheiratet war.
Er hatte den Zettel mit ihrer Nummer zerfetzt und weggeworfen und war wütend nach Hause gefahren, hatte die halbe Nacht seine Wohnung zerlegt, hatte wieder aufgeräumt, hatte mehr als ein Glas Wein gebraucht, um ihre Augen aus seinem Kopf zu bekommen, um die Erinnerung an ihr schönes Gesicht, ihre perfekte Figur, ihr süßes Lächeln, ihre weichen Lippen unter seinen zu betäuben.
Den ganzen Sonntag war er neben sich gestanden, hatte alles getan, um sie zu vergessen. Er hatte eine CD mit traurigen Lovesongs aufgelegt, hatte versucht, sich die Tränen zu verbieten, die hochstiegen, war kläglich gescheitert.
Am Montag war der Schmerz noch größer geworden.
Warum hatte sie ihm nichts gesagt? Warum trieb sie Spielchen mit ihm? Warum musste er gerade an sie geraten? Tausend warums geisterten durch seinen Kopf.
Er wollte doch nur verstehen!
Sie hatte sich küssen lassen, hatte ihn angelächelt, hatte ihm ihre Nummer gegeben.
Warum?
Hin und wieder meldete sich auch ihre Verteidigung: Du hast ja mich angemacht, nicht mehr ausgelassen! Wir haben ja überhaupt nicht viel gesprochen, wann hätte ich es dir denn sagen sollen? Es ist ganz anders, als er gesagt hat! Es stimmt überhaupt nicht!
Sein Herz zog sich zusammen.
Was, wenn er den Typen falsch verstanden hatte? Sein Gehirn war ja vollkommen vernebelt gewesen von diesem schönen Mädchen mit den Wahnsinnslocken, dem Wahnsinnslächeln und den Wahnsinnsaugen.
Was, wenn der andere selbst hinter ihr her war und ihm deshalb einen Bären aufgebunden hatte?
Er hätte anrufen und sie einfach fragen sollen, schalt er sich. Aber jetzt war die Nummer weg!
Er ging zu seinem Bruder hinunter, jammerte ihm die Ohren voll, schimpfte, tobte, bedauerte sich, war fix und fertig.
Am Abend ging er ins Zapp, um sich abzulenken.
Und jetzt tauchte sie ausgerechnet hier auf, brach die Männerherzen im Dutzend, sah noch schöner aus als am Samstag.
Er spürte wieder die Eifersucht wie auf dem Ball.
Er hatte sie für sich haben wollen, den ganzen Abend, hatte sie auf seinen Schoß gezogen, mit ihr geschmust den Rest des Abends, und er hatte es so sehr genossen.
Hatte so sehr auf ein Wiedersehen gehofft, hatte doch auch hoffen können, er hatte ja ihre Telefonnummer.
Bis der Typ ihn angequatscht hatte, und er das Gefühl hatte, seine Welt bräche zusammen.
Er sollte einfach verschwinden von hier, aber er konnte den Blick nicht von ihr lassen. Sie flirtete, aber sie ließ sich nicht küssen, von keinem, auch von den beliebtesten Jungs der Disco nicht.
Ihm kam es vor, als würde ihr Blick immer wieder suchend durch den Raum schweifen, als würde sie die Männer prüfend ansehen, und als ob ihr Blick immer wieder an ihm hängen blieb.
Warum war sie schon wieder alleine unterwegs, wo war ihr Mann? In Urlaub?
Und sie nutzte ihre Freiheit redlich aus?
Aber warum war sie dann am Samstag nicht geblieben oder mit ihm gegangen?
Warum nahm sie heute keinen der reichlich angebotenen Küsse an, wenn sie ein Abenteuer suchte?
Er erinnerte sich vage daran, dass er ihr gegenüber erwähnt hatte, dass er heute hier wäre, im Restaurant, als er unbedingt ein Date mit ihr ausmachen wollte, als sie aber alle seine Vorschläge abgelehnt hatte.
Sollte sie wegen ihm hier sein, ihn suchen?
Wollte sie ihn weiter quälen?
Aber vielleicht wollte sie ihn gar nicht quälen?
Vielleicht....?
Dieser halbe Gedanke nahm ihm die Luft.
Ihn hielt es nicht mehr auf seinem Beobachtungsposten, er nahm sie ihrem letzten Verehrer einfach aus dem Arm.
„Hallo, Mia!" sagte er und sah sie ernst an.
Das war doch der junge Mann, der sie schon eine Weile angestarrt hatte, der an der Säule gelehnt hatte! „Hannes?" fragte sie
„Ja!" sagte er nur.
„Warum hast du nicht angerufen?" Sie stellte gleich die Frage, auf die sie eine Antwort haben musste.
Er sah sie nur an, zog sie zur Garderobe. „Gib mir deine Marke!" Er holte ihre Mäntel. „Wir müssen reden, hier ist es zu laut!"
Das klingt aber ernst, dachte sie. Aber reden, ja, das sollten wir wohl. Über Versprechen, die nicht gehalten wurden.
Hauptsache, sie bekam jetzt eine Erklärung.
Ihr Herz raste, das Blut rauschte in ihren Ohren.
Draußen lehnte er sich an die Wand, einen Fuß angewinkelt, sie stand vor ihm.
Er sieht verdammt gut aus! dachte sie.
Sie ist schon verdammt schön! dachte er.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du verheiratet bist?" brach es schließlich aus ihm heraus.
„Was?" fragte sie, vollkommen überrascht. „Wer sagt das denn?"
Eine Lüge oder die erleichternde Wahrheit? dachte er.
„Dein Schwager oder wer auch immer das war, mit dem du heimgefahren bist!"
„Robert? Ah, alles klar! Der, der sich in alles einmischen muss, der alles managen muss, der mich mit 28 vor den bösen Männern beschützen muss!" Ihr wurde vieles klar. Robert war noch einmal zu ihm hingegangen, hatte ein paar Worte gewechselt mit ihm.
Sie hatte ihn gefragt, was er gesagt hatte.
„Ich wollte nur wissen, ob er deine Nummer hat!" hatte der Schwager grinsend geantwortet. Sie hatte das nett gefunden von ihm, aber er schien wohl mehr gesagt zu haben, als er zugeben wollte.
„Stimmt das jetzt oder nicht?" Hannes blickte nicht mehr durch.
„Ja und nein! Nein, denn ich lebe seit einem halben Jahr getrennt. Ja, weil ich das Trennungsjahr abwarten muss, um mich scheiden lassen zu können. Aber eingereicht habe ich die Scheidung schon und meinen Mädchennamen habe ich auch wieder angenommen."
Jetzt rauschte in Hannes Ohren das Blut, der Fels, der von seiner Seele fiel, löste ein kleines Erdbeben in der Domstadt aus.
Sie stellte noch einmal die Frage von vorhin: „Warum hast du nicht angerufen und mich gefragt?"
Er beschloss, ehrlich zu sein: „Ich habe deine Nummer weggeworfen, als er mir das so hingehauen hat!"
Er sah sie lange an, stellte dann die Frage, die heraus musste: „Bist du wegen mir heute hierhergekommen?"
„Natürlich! Ich hasse es, wenn Versprechen nicht eingehalten werden. Ich wollte wenigstens eine Erklärung."
„Und wenn ich mich jetzt nicht zu erkennen gegeben hätte?"
„Hätte ich wenigstens alles versucht und mir nichts vorzuwerfen gehabt. Nach dem Ende meiner Ehe habe ich mir geschworen, nicht mehr einfach alles hinzunehmen."
Er sah sie wortlos an. Er hatte sich am Samstag in sie verliebt, hatte sie dann gehasst, hatte sich nach ihr gesehnt, hatte sie dafür verflucht, hatte gelitten, hatte getobt, und alles wäre so einfach gewesen, wenn er ein wenig Vertrauen zu ihr gehabt hätte.
Er hatte doch gefühlt, dass da etwas war zwischen ihnen.
Wenn er einfach angerufen hätte, sie gefragt hätte.
Wenn er nicht nur hingenommen hätte, was dieser Robert gesagt hatte.
Er stieß sich von der Wand ab, nahm sie vorsichtig in den Arm, küsste sie ebenso vorsichtig.
Ja! dachte sie.
Das waren die Lippen, wegen denen sie ihr Bankkonto geplündert hatte, wegen denen sie mitten in der Nacht mit dem Taxi in die Stadt gefahren war, wegen denen sie in eine Disco gegangen war, in der sie noch nie gewesen war.
Wegen denen sie über tausend Schatten gesprungen war.
Ja! dachte er. Danach habe ich mich zwei Tage lang gesehnt! Nach diesen Lippen, dieser Zartheit, danach, wie sie seine Zärtlichkeit annahm!
„Gehen wir wieder rein?" fragte er leise, als er sich von ihr löste.
Sie lächelte ihn an. „Aber die Garderobe zahlst du!"
„Gerne!" Er legte den Arm um sie, sehr eng, und führte sie zurück.
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