Kapitel 27
Hannes konnte sich schon vorstellen, dass es zu Beginn ihrer Schullaufbahn nicht einfach gewesen war für sie. So jung, und sie sah ja auch noch jünger aus, mit ihren Qualifikationen, hatte es mit Sicherheit viel Missgunst gegeben.
Dann noch der Ärger zu Hause, es war eigentlich ein Wunder, dass sie so ein fröhlicher, lebensbejahender Mensch geblieben ist! Für ihre Tapferkeit liebte er sie noch ein Stückchen mehr. Aber langsam war der Spielraum ausgereizt, viel mehr lieben ging nicht mehr!
Um halb zehn waren sie zu Hause. „Und du willst jetzt echt noch Aufsätze korrigieren?"
„Wollen ist gut!"
Er hatte wieder nicht nachgedacht, als er mit ihr zum Essen gehen wollte! Sie hatte ja gesagt, dass sie noch etwas arbeiten musste. Sie hätten nach Hause gehen sollen, er hätte kochen sollen oder sie hätten sich etwas bestellt. Er musste in Zukunft mehr auf sie und ihren Beruf Rücksicht nehmen.
„Du Mia, du musst nächstes Mal energischer sein, wenn ich mir etwas einbilde! Ich hatte nicht mehr an die Aufsätze gedacht!"
„Ich auch nicht! Das war doch jetzt bei Gott nicht dein Fehler! Ich bin schließlich erwachsen! Aber das war echt total weg!"
„Sicher?"
„Ganz sicher! Du musst mich nicht betüteln! Ich kann mich meiner Haut schon wehren, keine Angst!"
Hannes musste schon wieder lachen. Dadurch, dass sie so zierlich und so zuckersüß war, mit den großen Augen und den Locken wie ein Püppchen aussah, unterschätzte man diese Frau leicht. Er hatte den Fehler heute schon zweimal gemacht.
Aber das würde ihm schon noch ein paarmal passieren! Er nahm sie fest in den Arm, die Liebe seines Lebens. Seine Kämpferin, die Kollegen knackte, und die ihm ins ZAP nachgelaufen war, weil sie eine Antwort haben wollte, weil sie nie mehr alles einfach hinnehmen wollte.
„Dann versuche ich noch ein wenig, am Programm für Peter zu arbeiten!"
„Soll ich lieber hier korrigieren?"
Er lächelte sie an. „Schlecht wäre das nicht! Sicherer auf alle Fälle!" Ein Abschiedskuss, als würde einer von beiden für vier Wochen nach Australien fliegen, brachte alle guten Arbeitsvorsätze wieder kräftig ins Wanken.
Lächelnd setzte sie sich an den Esstisch. Die Arbeit ging ihr überraschend gut von der Hand. Zuerst nahm sie sich Rechtschreibung und Grammatik vor, die aber bei Gymnasiasten der 9. Jahrgangsstufe relativ gefestigt waren. Dann sah sie alles noch einmal durch, um einen ersten Eindruck zu bewerten. Sie kannte ihre Schüler, hatte sie schon in der achten gehabt, wusste, wer sich angestrengt hatte, wer einen Null-Bock-Aufsatz abgegeben hatte.
Eine Arbeit stach unter allen heraus.
Annika, die sie schon länger beobachtete, hatte eine fürchterlich schwermütige Arbeit abgeliefert. Sie erinnerte sie an die Gedichte, die sie in ihrer schlimmsten Zeit geschrieben hatte. Nach der seltsamen Eheschließung auf der Fähre, als ihre Mutter jeden Kontakt mit ihr abgebrochen hatte, als sie eigentlich die Unterstützung und bedingungslose Liebe einer Mutter dringender denn je gebraucht hätte.
Die Formulierungen Annikas, ihr Sprachgefühl waren hervorragend, sie musste ihr eine glatte Eins geben, aber der Inhalt war zu depressiv für eine Fünfzehnjährige.
Sie machte sich eine Notiz im Wochenplan, sie musste unbedingt mit dem Mädchen sprechen.
Sie schaffte es, zehn Texte zu benoten, mit Kommentaren zu versehen, dann war es gut.
Sie war nicht verpflichtet, dreißig Aufsätze von Neuntklässlern innerhalb eines Tages zu korrigieren, Kollegen brauchten oft vierzehn Tage bis zur Rückgabe.
Ihre Schüler waren verwöhnt, weil sie immer viel Zeit gehabt hatte oder sich genommen hatte, aber dann mussten sie eben entwöhnt werden. Es gab nun etwas anderes in ihrem Leben, jemanden, der wichtiger war, als Aufsätze zu korrigieren.
Sie schlich ins Arbeitszimmer, um Hannes nicht zu stören, sah ihm eine Weile zu, wie er konzentriert mit zehn Fingern auf die Tasten hieb, das Ergebnis auf dem Bildschirm kontrollierte, leise mitlas, summte, den Kopf schüttelte, sich durchs Haar fuhr, löschte, neu anfing. Sie sah den dunklen Haaransatz, die süße Spitze, die bis weit in den Nacken lief, stellte sich seine Reaktion vor, wenn sie diese Stelle jetzt einfach küsste. Sie atmete tief ein. Womöglich stürzte alles in sich zusammen, wenn sie ihn jetzt störte.
Hannes fühlte ihre Anwesenheit, hörte sie tief Luft holen.
Die Süße war da!
Er speicherte schnell ab, blieb aber mit dem Rücken zu ihr sitzen, tat, als würde er konzentriert lesen, schrieb irgendetwas, war gespannt, was kommen würde.
Sie schlich sich ganz langsam und leise näher an ihn heran, wie eine Katze an eine Maus. Er roch bereits ihr Parfüm und schloss die Augen.
„Störe ich?"
„Nein!"
„Sicher nicht?"
„Sicher nicht!"
„Was schreibst du?"
„Seit du im Zimmer bist, nur noch Blödsinn!"
„Ich störe dich also doch?"
„Nein!"
„Sicher nicht?"
„Sicher nicht!"
„Gut!"
Sie strich ganz zart über seinen Nacken, er hielt den Atem an. Sie umarmte ihn von hinten. Seine Armmuskeln schienen noch ausgebildeter als am Anfang.
„Trainierst du eigentlich heimlich?"
Er wusste worauf sie anspielte und war kurz vor einem Lachanfall. „Nein, aber unheimlich!"
„Wie meinst du das?"
Er lachte leise. „Vielleicht ist dir schon einmal aufgefallen, dass bei der Liebe meine Armmuskeln sehr beansprucht werden?"
„Aja! Das erklärt natürlich die Zunahme des Umfanges!" Sie lachte leise mit ihm.
„Das könnte man ja direkt berechnen und dann eine Formel aufstellen: Wieviel Liebe ein Mann machen muss, um wie viele Zentimeter Umfang der Armmuskeln aufzubauen!" hauchte sie.
„Diese Formel würde die Welt revolutionieren."
So leiten hochintelligente Frauen das Vorspiel ein! dachte er, und er brannte lichterloh bei ihren Worten.
Und ich hatte gedacht, ich wüsste irgendetwas über Frauen! Über die Liebe!
Er drehte sich auf seinem Stuhl um, zog sie auf seinen Schoß. Er küsste sie zart, federleicht, zärtlich wie auf dem Ball, zügelte seinen Hunger.
Mittlerweile hatte er das ganz gut in Griff, seine Erregung zu beherrschen, bis er sicher sein konnte, ihr genug Zärtlichkeit gegeben zu haben, dass sie nicht unbefriedigt blieb, wenn er in ihr war. Er konnte nicht mehr auf das unglaubliche Gefühl verzichten, das er beim allerersten Mal genießen durfte und seitdem immer wieder.
„Aber Kätzchen, es ist fast elf Uhr!" Sein Atem ging stoßartig. „Musst du nicht schlafen?"
„Doch, ganz dringend! Und zwar mit dir!"
Was bitte sollte ein Mann, noch dazu ein grenzenlos verliebter Mann, da tun? Wenn die Liebe seines Lebens dringend mit ihm schlafen musste? Er trug sie zu dem breiten Bett, mit dem er sie in sein Leben gelockt hatte. Es war kurz vor Mitternacht, als das Beben soweit nachgelassen hatte, dass sie einschlafen konnte.
Hannes lag noch wach, wollte sein Glück noch ein wenig genießen.
Doch er kam ins Grübeln. Was machte ihn so sicher, dass sie die Frau seines Lebens war? Dass es so war, stand außer Zweifel. Schon bei der Fahrt am Dienstagmorgen zu seiner Wohnung war er sicher gewesen, dass er sie bei sich haben, bei sich behalten wollte.
Aber was war der Grund dafür, woran lag das?
Ihre Schönheit?
Natürlich schmeichelten ihr wunderschönes Gesicht und ihre perfekte Figur seinen Augen, natürlich sah er sie unendlich gerne an.
Die körperliche Liebe?
Natürlich war es mit ihr etwas Besonderes, Neues, Unbekanntes, natürlich empfand er mit ihr alles tausendmal stärker als bisher.
Ihre Intelligenz?
Ja, sie machte einen Großteil davon aus, was ihn sicher machte. Die Gespräche mit ihr, ihre Wortgewandtheit, ihre Art zu denken, ihre Auffassungsgabe waren etwas, worauf er nie wieder verzichten konnte.
Ihr Humor, ihre überraschenden Reaktionen, ihre Stärke kamen noch dazu. Die gesamte Mia war einfach perfekt, und wenn man die perfekte Frau gefunden hatte, warum sollte man dann nicht sicher sein, dass man sein Leben mit ihr verbringen wollte?
Doch würde es ihr auch genügen, ihn für den Rest ihres Lebens zu lieben?
Er hatte alles schon hinter sich, hatte sich ausgetobt, hatte sich ausprobiert, die Frauen ausprobiert, Beziehungen getestet, beendet, neue begonnen. Aber sie hatte diese Chance nie gehabt! War ihr halbes Leben mit einem Verrückten zusammen gewesen.
Er war erst ihr zweiter Mann!
Dann fiel ihm plötzlich die Szene vor ein paar Tagen ein, als sie im Bett im Tiefschlaf nach ihm getastet hatte.
Hoffnung keimte in ihm auf.
Vielleicht war sie auch so sicher wie er?
Er wollte noch einmal aufstehen, ein Glas Wein trinken, eine Zigarette rauchen, löste sich vorsichtig aus ihrer Umarmung. Sie brummelte unwillig im Halbschlaf. „Nicht fortgehen, Hannes, bitte nicht fortgehen!"
Seine Augen liefen über. „Nein, Süße! Ich gehe nicht weg! Nie wieder!"
„Gut!" sagte sie und fiel wieder in Tiefschlaf. Und dann genoss er einfach noch ein wenig sein Glück ohne zu grübeln, bis er schließlich doch einschlief.
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