Kapitel 20
Hannes sah sie verblüfft an. Die süße, kluge Mia hatte es wieder einmal auf den Punkt gebracht, mit einem Satz alles gesagt, was gesagt werden musste. Er hatte ein dummes Spiel gespielt, um eine Bestätigung zu bekommen, und das war ihrer beider nicht würdig.
„Du hast Recht, entschuldige bitte, das waren meine Cousine und ihre Lebensgefährtin, sie haben uns zu ihrer Hochzeit im Mai eingeladen!"
Mia runzelte leicht die Stirne.
„Hast du ein Problem damit?" fragte er überrascht.
„Nein, bestimmt nicht! Aber ich bin halt aus Überzeugung hetero!" lachte sie. „Seit ich dich kenne noch überzeugter!"
„Das geht mir genauso!" Er lachte mit ihr. „Ich meine, seit ich dich kenne!"
„Klar, weil dich kennst du ja schon sehr lange!"
Sie tanzten und küssten und streichelten sich, dann rechneten sie wieder ein bisschen, küssten sich leidenschaftlich, tanzten, hatten weiche Knie, setzten sich, lösten ein paar Aufgaben nach der Stochastik, tanzten, streichelten sich, erregten sich, beruhigten sich, bis der Club um drei Uhr schloss.
Glücklich, sich zu haben, glücklich, sich so sehr zu lieben, glücklich, sich gefunden zu haben, gingen sie nach Hause durch die Winternacht. Überglücklich über diesen Tag als Paar tanzten sie noch ein wenig im Wohnzimmer, küssten sich leidenschaftlich, streichelten sich, erregten sich, mussten keine Rechenaufgaben lösen, sie durfte seine erogenen Zonen berühren wie er die ihren, denn zu Hause war das weniger ein Problem. Sie hatten ein Leben lang Zeit, sie hatten ein zwei Meter breites Bett, und sie hatten sich.
Sie waren grenzenlos verliebt, sie waren jung, sie waren verrückt nacheinander. Sie liebten sich in dieser Nacht weit über den Himmel hinaus, zitterten, bebten, erschauerten vor Begehren, vor Erregung, vor Befriedigung, wieder und wieder. Der späte Wintermorgen graute schon, als sie endlich gesättigt in tiefen Schlaf fielen.
Um zwölf Uhr mittags riss ihn das Telefon aus dem Tiefschlaf.
Er tappte ins Wohnzimmer und meldete sich verschlafen. „Dr. Leissen hier! Herr Dr. Maybach, könnte ich bitte meine Tochter sprechen?" kam durch den Äther.
Mias Vater musste über die belegte Stimme des jungen Mannes schmunzeln. Entweder hatte er die beiden bei etwas gestört oder aufgeweckt.
„Ja, Moment bitte, ich sehe nach, ob sie da ist, Quatsch, ob sie wach ist, da ist sie natürlich!" stammelte Hannes.
Mein Gott, er hörte sich an wie ein Volltrottel! Das Schmunzeln von Mias Vater verstärkte sich. „Habe ich Sie geweckt?" fragte er.
„Nein, ja, wir sind früh, also spät ins Bett gekommen, hatten eine Menge zu tun." O Gott, was redete er da?
Endlich war er im Schlafzimmer angekommen, gab Mia das Telefon. „Papa!" formten seine Lippen.
Er sah sie fragend an, ob er draußen warten sollte, sie klopfte auf das Bett neben sich. Er ließ sich wieder auf sein Kissen fallen.
„Hallo, Papa!"
„Hallo, Prinzessin! Wie geht es dir?"
„Danke, mir ging es nie besser! Es ist alles gut!"
„Ich wollte dir nur einen schönen ersten Schultag wünschen!"
„Das ist lieb! Aber was ist das, Schule? Ich weiß gar nicht, ob ich da wieder hingehe!"
Hannes hörte gebannt zu. Sie sprach mit ihrem Vater in perfektem Französisch. Mit Sicherheit nicht, damit er nichts verstand, er hatte ja im Gymnasium auch Französisch gelernt, was sie als Studienrätin sicher wusste.
„Bist du glücklich, meine Kleine?"
„O ja, Papa! Glücklicher, als ich je glaubte, sein zu können!"
„Das ist gut! Mehr wollte ich gar nicht hören! Habe ich euch eigentlich aufgeweckt?"
„Ja, wir waren tanzen gestern, sind spät heimgekommen, noch später ins Bett und sind viel später eingeschlafen!" lachte sie.
Mias Vater lachte mit seiner glücklichen Tochter. Hannes wunderte sich, wie offen die beiden miteinander sprachen, sie schienen sich wirklich sehr nah zu sein. Er hörte auch sehr glücklich Mias Worte.
„Dann schlaft weiter! Morgen beginnt die Tretmühle wieder!"
„Vielleicht schlafen wir noch eine Runde! Du hast recht!"
„Also, mach's gut, Prinzessin. Deine Mutter wollte auch noch mit dir sprechen, aber das erspare ich dir lieber!"
„Dankeschön, aber ich wünsche ihr auch einen guten Start!" Sie legte auf, schmunzelte vor sich hin, sah Hannes an. „Entschuldige, dass ich nicht Deutsch gesprochen habe. Aber mein Vater stammt aus dem Elsass, er hat von klein auf mit mir Französisch gesprochen!"
„Es klingt sexy, wenn du französisch sprichst!"
„Merci beaucoup, mon chér!"
****
Monika, Mias Mutter, funkelte ihren Mann an. „Das war jetzt nicht nett!"
„Doch, war es und zwar Mia gegenüber!" antwortete Paul. „Du hättest sie nur wieder mit Vorwürfen bombardiert!"
„Bei Mia sind aber Vorwürfe durchaus berechtigt!" konterte die Mutter.
Paul nahm seine Frau in die Arme. „Liebe Monique, das Mädchen hat einen Fehler gemacht, und hat dafür fast die Hälfte seines Lebens lang bezahlt, hat ihre ganze Jugend verloren! Aber ganz unschuldig waren wir auch nicht! Wir haben alles getan, um ihn schlecht zu machen, haben pausenlos an sie hingeredet! Und je mehr wir gegen ihn waren, desto mehr hat sie ihn verteidigt und zu ihm gehalten! Dann war sie plötzlich verheiratet, und du hast gar nicht mehr mit ihr gesprochen bis zu ihrer Doktorfeier!"
Monika erinnerte sich an die schwere Zeit in ihrer Familie.
Ihre Kleine, ihr Ebenbild in jung, ihre superintelligente Tochter, für die die Zukunft alle Möglichkeiten bereithielt, hatte auf einer Fähre nach Schweden diesen Underdog geheiratet, aus purem Trotz ihnen gegenüber.
„Jetzt im Moment ist sie glücklich!" fuhr Paul fort. „Was daraus wird, werden wir sehen! Es muss nicht wieder für lange sein, vielleicht ist es eine kurze Affäre, aber es tut ihr gut, verstehst du? Vielleicht wird es auch eine längere Beziehung, aber das wird sie entscheiden! Sie ist 28 Jahre, sie hat ein Recht darauf, auf was auch immer! Wirst du dich daran halten können, schöne Monique?"
Monika gab keine Antwort. Sie wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn sie wieder das Gefühl hatte, dass der Mann nicht gut für ihre Mia war. „Warum konnte sie es nicht so leicht haben wie Carla?" fragte sie an der Brust ihres Mannes.
„Vielleicht wird sie ja jetzt entschädigt für die letzten Jahre! Wir können froh sein, dass sie wenigstens beruflich ihr Ding durchgezogen hat!" meinte Paul, bevor er seine schöne Frau küsste.
****
Hannes hatte auch den Großteil dessen, was ihr Vater gesagt hatte, mitbekommen.
„Warum wollte er dich nicht mit deiner Mutter sprechen lassen?" fragte er.
„Unser Verhältnis ist ein wenig vorbelastet!" sagte sie mit Tränen in den Augen. „Sie hatte es aber auch nicht leicht mit mir!"
„Mit dir? Wie kann man es denn mit so einer hübschen, klugen Tochter nicht leicht haben?"
Und da wusste sie, dass sie sich alles von der Seele reden musste, dass Andeutungen auf Dauer nicht genügen würden, um das ganze Trauma ihrer Ehe verarbeiten zu können. „Willst du die ganze Geschichte hören, oder lieber nicht?"
„Wenn du sie mir erzählen willst, gerne! Aber du musst nicht!"
„Also, ich bin mit fünfeinhalb in die zweite Klasse gekommen, war mein Leben lang überall die Jüngste. Mit 15 waren meine Klassenkameradinnen 17, hatten Freunde gingen weg, genossen das Leben. Ich war das wohlbehütete Töchterchen. Da lernte ich auf einem Schulfest ihn kennen, er war der Bruder einer Mitschülerin, fünf Jahre älter, aus einem ganz anderen Milieu. Er hatte ein Auto, verdiente eigenes Geld. Das hat mir imponiert. Ich war plötzlich von meinen Freundinnen anerkannt. Dann kam auch noch meine soziale Ader dazu, ich wollte ihn aus dem Dunstkreis seiner dubiosen Freunde retten, ihn umerziehen, wie man so schön sagt.
Als ich siebzehn war, steckte er mir einen billigen Silberring an den Finger und erklärte, ich sei mit ihm verlobt, dürfe ihn auf keinen Fall betrügen.
Meine Eltern haben an mich hingeredet wie an einen alten Gaul, aber ich war genau so stur wie so ein Vieh! An meinem 18. Geburtstag hat er mich auf eine Fähre gebracht, der Kapitän hat uns getraut. Von da an hat meine Mutter nicht mehr mit mir gesprochen, ich war für sie gestorben, bis zu meiner Doktorfeier. Ich weiß nicht, ob du manchmal diese Dokusoaps auf RTL siehst, aber in so ein Milieu war ich mittlerweile hineingeraten, und ich dachte, ich müsste das aushalten, weil ich ja selbst schuld war. Aber als ich verheiratet war, wurde es immer schlimmer. Er hatte sich eigentlich ein reiches Töchterchen schnappen wollen und hatte nun eine Studentin an der Backe, die von den Eltern mehr oder weniger verstoßen worden war. Papa hat sich schon an der Uni mit mir getroffen, mir auch Geld zugesteckt, aber die Finanzen verwaltete meine Mutter, sein Spielraum war da nicht groß.
Dann war ich für Thomas nur noch die schlaue Frau Doktor, die alles besser wusste, später das Diplomdepperl oder Lehrerdepperl. Als er dann auf einem Schulfest des Goethe auftauchte, ziemlich angetrunken, mit der Neuen im Arm und mich bis aufs Blut blamierte, bin ich am nächsten Tag zu meiner Schwester gezogen und habe die Scheidung eingereicht! Und seitdem versuche ich wieder die Mia zu werden, die Achtung vor sich selbst haben kann."
Hannes hatte atemlos zugehört. Seine Wangen waren tränennass, und er schämte sich nicht dafür. Mein Gott, was hatte er für Bilder vor Augen gehabt: Eine glücklich strahlende, frisch verlobte Mia, eine weiße Traumhochzeit, die ihr Vater für sie ausgerichtet hatte, seine Süße verliebt ihren Ehemann anstrahlend!
Sie hatte an diesem Montagabend schon ein paar Andeutungen gemacht über ihre Ehe, er hatte auch gefühlt, dass ihre Seele verletzt worden war, aber an dieses Ausmaß hatte er nicht im Geringsten gedacht! Auch durch die Briefe und ihre Erzählungen danach hatte er manches erfahren, aber was sie wirklich erduldet hatte, hatte er nie für möglich gehalten!
Den letzten Cent würde er hergeben, um diese wunderbare Frau aus den Fängen dieses Kretins zu befreien! Und jede Sekunde seines Lebens würde er sie lieben und sie die Demütigungen vergessen zu lassen. Aber er konnte ja sowieso nicht anders, als sie sein Leben lang zu lieben!
Nach ihrer Erzählung lagen sie schweigend nebeneinander, sie in seinem Arm. Langsam trockneten die Tränen bei beiden.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top