Kapitel 16

Mia war überglücklich, dass sie von mittlerweile zwei Zentimeter hohem Schnee eingeschneit waren.
„Heute ist der letzte Ferientag!" seufzte sie irgendwann zwischen Abend und Nacht. „Früher war ich immer froh, wenn die Schule wieder anfing! Jetzt könnte ich locker noch zehn Jahre so weiter machen!"
„Bloß zehn Jahre? Das reicht mir aber nicht!"
„Na, in zehn Jahren kann ich ja dann wieder eine oder zwei Stunden pro Woche arbeiten!"

„Am besten mit der Computer-AG! Da würde ich dann immer ein Date mit dir haben!" schlug er vor.

„Guter Plan, Herr Dr. Hannes Maybach!" Und in seinem Kopf spielten hundert Geigen, wenn sie seinen Namen so aussprach.

Sie kuschelten sich wieder auf dem Sofa. Sie las in seiner Doktorarbeit in Mathematik, er in ihrer in Germanistik. Sie las hochkonzentriert, interessante Thesen zur Stochastik hatte er da bearbeitet.

Er war höchstamüsiert, lachte immer wieder. „Kein Wunder, dass das ein Bestseller geworden ist, meine süße Doktorin! Das ist mit Sicherheit die amüsanteste Doktorarbeit ever!"
„Und deine die Fundierdeste ever!" Sie diskutierten über seine Ausführungen, noch nie hatte jemand im Privatleben sich mit seinen Thesen auseinandergesetzt, aber mit dieser blitzgescheiten Diplommathematikerin, der schönsten, süßesten Frau der Welt konnte er darüber diskutieren.

„Das musst du weiter ausführen, das ist noch nicht zu Ende gedacht!" regte sie an.
„Im Kopf geht es schon weiter, ich bin nur nicht so recht dazu gekommen!" räumte er ein.
Sie gab ihm Denkanstöße, dachte Lösungen mit ihm gemeinsam an, formulierte ihm Erklärungen vor. Er war fasziniert von der Intelligenz dieser Schönheit, von ihrer Fähigkeit, sich auszudrücken, von ihrer Auffassungsgabe.
„Weißt du, dass Intelligenz bei einer Frau ausgesprochen sexy ist?" fragte er atemlos vor Glück, sie, ausgerechnet sie, kennengelernt zu haben.
Sie lachte. „Ich denke mal, dass du in der Männerwelt mit dieser Ansicht ziemlich alleine dastehen wirst!"

„Das glaube ich gar nicht! Ich meine, so doof sind wir Männer auch wieder nicht, dass uns eine schöne, aber dumme Frau längere Zeit gefällt! Das Angebot an schönen und intelligenten Frauen ist nur sehr begrenzt!"
„Aber bei den Männern ist es ähnlich! In Mathematik waren wir ja nur fünf Frauen, aber die Männer waren durch die Bank nicht gerade umwerfend. Die hübschesten, flippigsten Jungs waren bei den Informatikern!"

„Ah, da hat sie sich wohl genau umgeschaut, meine Schönheit? Und kräftig geflirtet mit den flippigen Jungs?"
„Ja, ganz bestimmt! Da war ich schon verlobt! Die Wege an der Uni waren alle durchlöchert von meinen Blicken, damit ich ja keinen Jungen ansehen musste!"
Hannes lachte über ihre Beschreibung. Dann wechselte er lieber das Thema. Über eine verlobte Mia, eine womöglich glücklich verlobte Mia wollte er jetzt nicht unbedingt nachdenken - geschweige denn reden.

Wie war das, Hannes, die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft beginnt? Wäre es dir lieber, sie wäre ihr ganzes Leben lang unglücklich gewesen? fragte die Stimme in seinem Kopf.
Ich weiß schon, was ich gesagt habe, aber es sticht halt trotzdem! antwortete er sich.

„Was ist das für ein Roman, den du beim höchstinteressierten Peter erwähnt hast?" fragte er.
Mia bemerkte den Themenwechsel.
Aha, der Herr Dr. Hannes Maybach mochte nichts von einer verlobten Mia hören, aber da würde er auch durchmüssen, so wie sie durchmusste, sich mit seiner Vergangenheit zu arrangieren.
„Ach, da hatte ich so eine Geschichte im Kopf, sollte nur kurz werden, aber irgendwie hat sich das Ganze verselbstständigt, wird immer länger und länger."
„Darf ich es lesen?"
„Ja, du schon! Aber ich bin noch gar nicht sicher, wohin es geht!"

Sie stand auf, holte die dicke Kladde, gab sie ihm, kuschelte sich wieder an ihn.
Er begann zu lesen, las sich fest.
Die Geschichte einer schönen jungen Frau, die erfuhr, dass sie unheilbar krank war, die nur noch ca. ein halbes Jahr ein unbeschwertes Leben vor sich hatte. Die ihren Mann verließ, reiste, sich auf die Suche nach der Liebe machte, die sich richtig anfühlte, aber gerade dabei war, sich selbst zu finden.

 Es war schwer zu lesen, die Vorliebe seiner Schönen für Nebensätze war deutlich zu spüren, aber es war ja kein Groschenroman, das war schon ernstzunehmende Literatur. Gott sei Dank erkannte er keine autobiographischen Inhalte, denn wenn sie sich mit einer kranken Frau identifiziert hätte, wäre das furchtbar für ihn gewesen. Aber der Mann war nett, aufmerksam, bemüht um seine Frau, von deren Erkrankung er nichts wusste. Sie war kaltherzig, karrierebewusst, nur aufs Materielle bedacht.

Die Personen waren so gut charakterisiert, dass er die Frau hasste und den Mann näher kennenlernen wollte. Das ganze Umfeld war beeindruckend geschildert bis ins Detail, ebenso die Reiseziele.
Um vier Uhr legte er das Manuskript weg, war fassungslos. Seine Süße war in seinem Arm eingeschlafen, er trug sie zum Bett, zog sie vorsichtig aus, deckte sie zu.
Dann brauchte er noch eine Zigarette und ein Glas Wein, um runterzukommen. Er war fassungslos, über das, was er gelesen hatte! Hoffentlich schrieb sie dieses Buch zu Ende, und hoffentlich noch viele andere!

Als Mia aufwachte, konnte sie sich gar nicht erinnern, schlafen gegangen zu sein. Da fiel ihr ein, dass sie Hannes das Manuskript gegeben hatte, er hatte sie dann wohl zu Bett gebracht, als ihr die Augen zugefallen waren.
Ihr war ein wenig mulmig zumute, noch nie hatte jemand auch nur eine Zeile von dem gelesen, was sie privat schrieb, und sie schrieb schon seit ihrer Kindheit Geschichten und Gedichte. Fast bereute sie es, ihm die Kladde überlassen zu haben. Was hatte sie da nur geritten? Aber die Stimmung war so innig gewesen, sie war ihm so nah, dass sie gar nicht lange überlegt hatte. Er schlief noch tief und fest, war wohl erst spät ins Bett gekommen.

Das konnte bedeuten, dass er lange gelesen hatte, das Buch nicht nach ein paar Seiten weggelegt hatte.
Sie sah ihn an, im Schlaf sah er genauso schön aus wie wenn er wach war.
Einen Mann sollte man nicht schön nennen, das wusste sie schon, aber er war einfach ein außergewöhnlich schöner Mann. In diesem Gesicht passte einfach alles, die Lippen klar gezeichnet, der Mund nicht zu breit, nicht zu schmal, die Nase gerade, nicht zu klein, nicht zu groß, das Gesicht schmal geschnitten, mit Grübchen, wenn er lächelte, die dunkelbraunen Augen mit hellen Einschlüssen, die feinen Augenbrauen, der dunkle Haarschopf, über den Ohren und im Nacken akkurat geschnitten, am Oberkopf etwas länger und immer ein wenig verstrubbelt. Im Nacken lief der Haaransatz in einer Spitze aus, dort war eine seiner erogensten Stellen. Sie wollte diese Stelle berühren, unbedingt, ließ ihn aber schlafen, beherrschte sich ganz gewaltig.

Sie krabbelte vorsichtig aus dem Bett, schlüpfte in ihren Morgenmantel, ging ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lagen die Kladde und ein Brief von ihm.

Liebste Mia, Liebe meines Lebens,

ich schreibe dir diesen Brief, weil ich vermute, dass ich heute länger schlafen werde als du. Ich habe bis vier Uhr gelesen, weil ich nicht aufhören konnte. Du möchtest aber sicher wissen, wie sehr mir das, was ich gelesen habe, gefallen hat!
Es ist fantastisch, keine leichte Kost, eher etwas für anspruchsvolle Leser. Bitte, schreibe das Buch zu Ende, lass deine Gedanken weiter auf die Reise gehen, wohin sie dich auch führen. Schenk mir und der Welt diese Geschichte, in deiner unglaublichen Sprache erzählt. Vielleicht argumentierst du, ich lese das Ganze mit den Augen der Liebe und bin deshalb nicht objektiv. Aber Liebe macht blind und nicht dumm! Und wer das, was du geschrieben hast, nicht gut findet, der ist wirklich dumm!
Ich liebe dich mehr als ich es je sagen kann und platze vor Stolz auf die schöne Doktorin, die sich von mir hat angeln lassen.
Hannes

Die Tränen schossen ihr aus den Augen. Mein Gott, dieser Mann war unglaublich, er las in ihrer Seele! Konnte es so einen Mann wirklich geben? Sie hörte in sich hinein, wollte, dass die Stimme in ihr eine Antwort gab. Doch die war ja weg, sie musste die Antwort selbst finden. Ja, sagte ihr Herz, es war die Wirklichkeit, in der sie lebte, kein Traum. Der Mann, der sie auf dem Ball geküsst und gestreichelt hatte, der ihr so schöne Sachen ins Ohr geflüstert hatte, den sie beinahe wieder verloren hätte, war in ihrem Leben, liebte sie.
Die Tränen waren versiegt, ihr Gesicht strahlte vor Glück. Sie schlich ins Schlafzimmer, Hannes schlief noch immer tief und fest. Er lag quer im Bett, als hätte er nach ihr gesucht, hatte ihr Kissen im Arm.
Das Bild brannte sich in ihrer Seele ein.


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