Teil 41 Das dritte Jahr

Niklas schreibt:

Das dritte Jahr begann, wie das zweite geendet hatte: Hektisch! Die Bauarbeiten für das kleine Schulgebäude gingen los, wir waren beinah täglich an der Baustelle. Auch weil Nicola die Bagger so liebte. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, holte sie immer ihre Gummistiefel, die sie selbst anziehen konnte.

„Zeit wird!" kommandierte sie. Sie sprach eigentlich schon in grammatikalisch richtigen Sätzen, außer wenn sie aufgeregt war oder etwas unbedingt durchsetzen wollte.

Wahrscheinlich hatte sie ganz schnell begriffen, dass wir dann immer so lachen mussten, dass sie ihren Willen bekam! Vom Aussehen kam sie ganz nach mir, doch von der Intelligenz her sicher nach der Mama.

Marie war unglaublich! Sie managte alles! Sie hatte sich mit dem Kultusministerium auseinandergesetzt, dessen Beamte kleinliche Einwände und Änderungswünsche bei unseren Plänen gehabt hatten. Keiner der Betonköpfe war ihr gewachsen, sie ging aus allen Gesprächen als strahlende Siegerin hervor. Als strahlend schöne Siegerin!

Als die Baufirma die Preisbindung, die vertraglich vereinbart worden war, umgehen wollte, wurde meine Süße fuchsteufelswild, und der Chef gab lieber nach, bevor sie ihn in der Luft zerriss.
„Wir sind nicht die Elbphilharmonie, und auch nicht der Berliner Flughafen! Wir sind ein gemeinnütziger Verein, der eine winzig kleine Schule baut! Deshalb werde ich es nicht zulassen, dass Sie uns abzocken!" brüllte sie.
Die einzige Diskussion, die wir beide hatten, drehte sich um die Schüler. Ich hätte gerne mit einer reinen Bubenklasse begonnen, weil Jungs sich meiner Meinung schwerer mit der Schule taten.

Sie nannte mich sexistisch! Mich! Den Erfinder der totalen Emanzipation, den energischsten Verfechter der vollkommenen Gleichberechtigung.

Nach ein paar stressigen Tagen einigten wir uns auf eine Zweidrittel-Regelung: Zehn Jungs und fünf Mädchen.
Unsere Schüler*innen (Ich hasse diese Genderei, Marie übrigens nicht minder) fanden wir in Maries alter Schule, datenschutztechnisch nicht korrekt, aber hilfreich. Wir erhielten die Adressen von sozial benachteiligten Kindern der zweiten Klassen, schrieben die Eltern direkt an, stellten unser Projekt mit vorsichtigen, aber eindringlichen Worten vor.

Wir hatten uns durch den finanziell größeren Spielraum entschieden, eine Ganztagesklasse einzurichten, Essen würde von einem Lieferdienst kommen. Schulgeld erhoben wir natürlich nicht, aber es gab die Möglichkeit, aus einem Fördertopf des Staates Zuschüsse zur technischen Ausstattung zu bekommen. Das hatte auch die unvergleichliche Marie herausgefunden.

Wir bekamen 20 Rückmeldungen von Eltern, wählten dann nach einem persönlichen Gespräch die dringendsten Fälle, Quatsch, die Kinder, die am meisten Unterstützung brauchten, aus.

Unsere Schulleiter waren zwar nicht glücklich, uns zu verlieren, fanden unseren Plan aber so gut wie wir selbst. Es war ein milder Winter, der Rohbau stand in Rekordzeit, nachdem die Tageszeitung einen Bericht gebracht hatte über unser Projekt, und der Chef der Baufirma den Imagegewinn erkannt hatte. Schließlich blieb der Preis sogar unter dem Angebot!

Eine Reihe von anderen Firmen arbeiteten für einen gigantisch niedrigen Preis. Die fantastische Marie war auf die Idee gekommen, ihnen ein Angebot zu machen, das sie nicht ablehnen konnten: Für die Summe, die sie unter den Angeboten blieben, würden sie eine Spendenquittung erhalten und bei jedem Gespräch mit der Presse lobend als Unterstützer erwähnt werden.

Sicher taten ihr Charme und ihre Schönheit ein Übriges, auf alle Fälle wurde das Gebäude am Ende um 15 Prozent preiswerter als veranschlagt.
Der Architekt erwog ernstlich, Marie anzustellen.
Doch zum Glück hatte ich da ein Vetorecht, er sah nämlich verdammt gut aus!
Der Telekom trotzte sie den kostenlosen W-Lan-Anschluss ab, dem Energieversorger die Möglichkeit, mit der Solaranlage energieautark zu werden.

Beinahe täglich verblüffte mich dieses Mädchen mehr. Es gab nichts, von dem diese Frau keine Ahnung hatte, außer vielleicht von Handarbeiten.

Über das Richtfest wurde im Bayerischen Fernsehen berichtet, danach flossen immer wieder Spendengelder. Kleine Summen, aber jeder Euro zählte. Charly gab in der Münchner Fußgängerzone ein Benefizkonzert, konnte einige Orchestermitglieder dafür gewinnen. Auch darüber berichteten die Medien ausführlich.

Langsam wurden wir berühmt im Freistaat.

Kai, der mittlerweile seinen Meister gemacht hatte und die Werkstatt seines Chefs übernommen hatte, startete eine Reifenwechselaktion zu Gunsten unseres Vereines.
Mein Vater, ein pensionierter Rektor, hatte ein Buch über seine Jugend im Sudetenland und die Flucht bei Kriegsende geschrieben, das ein überraschend großer Erfolg geworden war, spendete das Autorenhonorar.

Es war eine im Vergleich zu dem Betrag, den Maries Vater beigetragen hatte, geringe Summe, aber die Geste hatte Marie zu Tränen gerührt. Sie war keine Frau, die aufrechnete!

Meine Mutter sammelte unverdrossen in ihrem Freundeskreis, bei der Kirche, beim Frauenbund.
Sie und ihre Freundinnen strickten unermüdlich, verkauften die Sachen bei einem Basar.
Alle schienen nur noch für uns und unseren Traum zu leben. Ein unglaubliches Gefühl!

Wir hatten eine Menge Stress, aber es war der schönste Stress, den wir uns vorstellen konnten! Wir konnten unseren größten gemeinsamen Traum leben!
Keine Villa auf Ibiza, keine Weltreise, keine Superyacht!
Wir hatten eine Schule gründen wollen, und wir hatten es tatsächlich geschafft!

Trotz all der Hektik fanden wir immer wieder Nischen für unsere Liebe.
Mal ein Abend an der Donau, mal ein Besuch im Club mit Freunden, mal eine Theateraufführung.

Mal ein Kurztrip zu einem Konzert nach München oder Nürnberg, mal ein Musicalbesuch in Hamburg oder Wien.

Im Rückblick erscheint es mir fast unglaublich, dass wir das alles so auf die Reihe bekommen haben!
Die leidenschaftlich Liebe raubte uns noch immer manche Nacht den Schlaf, und trotzdem erfüllten wir am nächsten Tag unsere Aufgaben. Es schien, als hätte jeder von uns zwei Leben.

Nicola war unser Augenstern, das Glück unseres Lebens. Sie war dermaßen unkompliziert, wie es nur ein Kind von uns beiden sein konnte.

Manchmal fragte sie gegen Abend: „Wo schlafe ich heute Nacht?"
Wir mussten sie dann immer ganz lange abküssen, was sie sich gerne gefallen ließ.
„Ist es schlimm, wenn wir so viel weg sind, so viel arbeiten müssen?" fragte ich sie einmal.
„I wo! Der Opa hat mir doch erklärt, dass ihr etwas ganz Wichtiges für andere Kinder machen müsst, die es nicht so gut haben wie ich!" Bei dieser Antwort war sie noch keine drei Jahre alt!

Ein Genie! Wir hatten ein soziales Genie gezeugt in jener Nacht, als die Kondome ausgegangen waren, und ich zwischen Maries Schenkeln kommen durfte!

Vererbten sich solche Charaktereigenschaften?
Wir beide, Marie und ich, waren eigentlich pädagogische Optimisten. Glaubten eher an Erziehung und Prägung durch die Umwelt als an Vererbung.
Dann hatte die ganze Familie wohl bei der Erziehung unserer wunderbaren Tochter perfekt zusammengearbeitet!

Im September konnten wir tatsächlich das Schuljahr in unserer eigenen Schule starten. Die Außenanlagen waren noch nicht ganz fertig, aber das störte wenig.

Eine Auseinandersetzung gab es noch mit der Genehmigungsbehörde, weil ein Paragrafenreiter forderte, dass wir einen Speiseraum haben müssten, wenn wir Mittagessen anböten.

Der arme Kerl hatte keine Ahnung gehabt, worauf er sich da einließ.

„Warum können die Kinder nicht im Klassenzimmer essen?" fragte meine unvergleichliche Marie süß lächelnd.
„Weil das nicht vorgesehen ist! Die Kinder müssen eine soziale Erziehung erfahren, man isst nicht da, wo man arbeitet!" antwortete der Typ noch ziemlich selbstsicher.
Marie behielt ihr Lächeln, während ihre Augen grau wurden, wie immer wenn sie erregt oder wütend war. Ich denke mal, in diesem Fall war es letzteres.

„Die Kinder essen normaler Weise vor dem Fernseher, sie holen sich Fastfood auf dem Weg nach Hause, essen im Treppenhaus, wenn ihnen keiner dieTüre aufmacht, weil die Eltern zu besoffen sind. Oder auf den Stufen vor der Haustüre, wenn sie aus dem Flur vertrieben werden, oder auf einer Parkbank.

Sie frühstücken Chips und Cola in der Pause. Ein warmes Essen an einem Tisch, auch wenn es ein Schreibtisch ist, wäre so, als wenn wir alle unsere Mahlzeiten im Maximilian-Hotel einnehmen würden."

Der Beamte warf das Handtuch, ein Sieg nach Punkten war nicht mehr möglich, und K.O. gehen wollte er wohl auch nicht. Theatralisch aufseufzend warf er mir einen Blick zu, der wohl hieß: Mit der hast du es auch nicht leicht!

„Gut! Dann machen Sie das so, wie Sie meinen!" erklärte er, setzte seine Unterschrift unter ein weiteres Formular und machte einen Abgang.
Die Diskussion hatte mich auf eine weitere Idee gebracht, die unseren Alltag nicht gerade erleichtern würde: Wir sollten wohl auch ein Frühstück anbieten.
Nach einem Gespräch mit meinen Eltern beschloss meine Mutter, das in die Hand zu nehmen. Sie würde einige Freundinnen rekrutieren, die abwechselnd unsere Schüler versorgen würden.

Am ersten Schultag holte ein angemieteter Kleinbus die Kinder ab. Vertreter der regionalen und überregionalen Presse waren da und sogar ein Fernsehteam.

Das brachte natürlich positive Publicity, und für die Schüler war es wichtig, so ernst genommen zu werden. Sie fühlten wohl zum ersten Mal im Leben, dass sich jemand für sie interessierte.

Mittlerweile hatten wir ja auch einen Namen gefunden, nach längeren Diskussionen im Freundes- und Familienkreis hatte – natürlich – Marie die zündende Idee gehabt. Das Logo hing über dem Eingang. „Unsere Schule" – das beinhaltete alles, was wir ausdrücken wollten: Eine Schule für Lehrer und Schüler.

Eltern waren nur vereinzelt mitgekommen. Das Interesse an ihren Kindern war nicht sehr groß!
Nicola war natürlich der Mittelpunkt, plapperte fast schon so gekonnt wie ihre Mutter. „Dieses Haus haben mein Papa und meine Mama gebaut!" erklärte sie einem Journalisten, der sich das Lachen verkneifen musste. „Da sollen große Kinder dann gern zu Schule gehen, weil sich da jemand kümmert um sie und jemand sie liebhat! Und meine Eltern haben mich sehr lieb, deshalb wollen sie auch andere Kinder liebhaben, weil, zu Hause bin ich ja die Einzige!"

Dann sah sie den Mann verschmitzt an. O je! Was würde jetzt kommen? Wenn sie so dreinschaute wie ihre Mama? „Aber die beiden haben sich auch verflixt lieb!" Stolz sah sie mich an, weil sie etwas so Schönes über ihre Eltern gesagt hatte. Ich musste sie kräftig abküssen!

Durch die immer großzügiger werdenden Spenden konnten wir den Anbau für das nächste Klassenzimmer im Oktober beginnen. Als ich begonnen hatte, diesen Traum zu träumen, war ich davon ausgegangen, 15 Schüler fünf Jahre lang zu unterrichten, und dann wieder von vorne zu beginnen. Das hätte ich irgendwie finanziell auf die Reihe bekommen, aber so war es natürlich besser.

Und wenn die Gelder aufhörten zu fließen, würden wir eben mit dem weitermachen, was wir bis dahin geschafft hatten.

Der Unterricht wurde für uns zu einer einzigen Freude. Die Kids waren hochmotiviert, fühlten sich als etwas Besonderes. Ein großes Zweiradcenter spendierte 15 Fahrräder, so konnten wir den Sportunterricht gleich zur Verkehrserziehung nutzen.
Sophie, die sehr gut zeichnete, kam einmal in der Woche und übernahm die Kunsterziehung, den Musikunterricht hielt ich.

Nicola war meistens mit in der Schule, sie konnte sich ja schon immer sehr gut mit sich selbst beschäftigen, und es hatte auch immer irgendeiner Zeit für sie. Mal ich, wenn Marie mit den Kindern las.

Mal sie, wenn ich Musik machte.
Mal wir beide, wenn Sophie da war.
Mal eine Oma, die gerade vorbeischaute.
Unserer Kleinen fehlte es an nichts.
Uns beiden auch nicht! Unser Sexualleben war aktiver denn je, aber wir fanden durchaus für mehr Zeit als für einen Quickie oder eine Petting-Runde.

Doch wenn ich zurückdenke, kommt mir nicht in erster Linie der Sex in den Sinn, sondern etwas, was tiefe Liebe und innigste Freundschaft geworden war.

Wenn wir eine Stunde getrennt gewesen waren, und ich wieder in ihrer Nähe war, hatte ich jedes Mal das Gefühl von Nachhause kommen. Ohne Marie war ich nur halb! Immer! Überall!

Es gab nie ein böses Wort zwischen uns, wie gestresst wir auch manchmal waren.

Es gab unheimlich viel Lachen, viele Gespräche, nicht nur über die Schule, und es gab viel Zärtlichkeit. Ich habe nie gewusst, wie süchtig ich werden würde, von einer Frau am Arm berührt zu werden, ihre Hand zu halten, ihre Finger in meinen Haaren zu spüren.
Meinen dritten Heiratsantrag lehnte sie ebenso süß ab wie die beiden davor. Aber es machte mir nichts mehr aus, denn, sie lieben zu dürfen, war tausend Mal mehr wert! Und das versprach sie mir ja jedes Mal!

So, geliebte Marie, das war die Zusammenfassung unseres dritten Jahres. Ich hoffe, ich habe nicht zu viel über die Schule geschrieben und zu wenig über euch beide und meine Liebe zu euch. Aber ich glaube, du liest darüber zwischen den Zeilen.

Du warst damals und bist auch heute die Liebe meines Lebens, von der ich nie gedacht hatte, dass sie mich so total erwischt! Aber ich genieße jeden Tag meines Lebens mit dir, meine Kluge, meine Schöne, meine Geliebte! So wie damals!
Niklas


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